Deutschland: Ein Gefühl wie Hartz IV

Massen-Demos und 345-Euro-Lebensgefühl

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Es könnte der Name einer neuen deutschen Pop-Band sein: Hartz IV. Vier junge Leute – drei Jungs, ein Mädchen –, wuschelige Haare, traurige Augen, kein Job in Aussicht, böser Blick, gestohlene Instrumente, zornige Texte, harter Beat. Ein Studio in einer aufgelassenen Fabrik ohne Heizung außerhalb von Magdeburg, erreichbar mit dem Moped, die Buslinie wurde längst eingestellt. Was würden die Feuilletons der deutschen Zeitungen für euphorische Porträts des angesagten Quartetts schreiben. Super, wie die ein Lebensgefühl ausdrücken können.

Die Band gibt es allerdings nicht. Das Lebensgefühl „Hartz IV“ hingegen schon. Der Name bezeichnet eigentlich eine Arbeitsmarktreform der rot-grünen deutschen Regierung (siehe Kasten Seite 68). Dummerweise manifestiert sich das neue Lebensgefühl nicht in der hippen, leider fiktiven Band, sondern äußerst unmodisch jeden Montag in Protestmärschen in mehreren deutschen Städten.

Berlin, Alexanderplatz, Montag vergangener Woche, sechs Uhr Abend. Einige hundert Leute scharen sich um einen Lastwagen, der mitten in der Fußgängerzone geparkt ist. Auf der Ladefläche steht ein junger Mann in rotem T-Shirt und mit einem Mikrofon in der Hand. Er erläutert organisatorische Details, und der Abend verspricht jetzt schon ziemlich langweilig zu werden. Doch die Umstehenden sehen nicht so aus, als hätten sie in dieser Hinsicht hohe Ansprüche. Sie sehen vielmehr so aus, als hätten sie fast überhaupt keine Ansprüche, weil sie es sich nämlich nicht leisten können, welche zu haben. Die meisten tragen allerbilligste Kaufhauskleidung, sie sind jetzt, mitten im August, käseweiß, und ihre Parole ist abgetragen: „Weg mit Hartz IV – das Volk sind wir!“

Hartz IV, die vierte Stufe der Arbeitsmarktreform, sieht unter anderem vor, dass jemand, der länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet ist, dieselbe Unterstützung bekommt wie ein Sozialhilfeempfänger, das so genannte „Arbeitslosengeld II“. Allerdings muss der Arbeitslose nachweisen, dass er bedürftig ist und weder er noch sonst jemand in seinem Haushalt über größeres Vermögen oder Einkommen verfügt. Viele sehen in dem neuen Reformschritt einen Anschlag auf ihr Erspartes, auf ihr Häuschen oder gar auf ihre Existenz.

Botschaften. Die Menge, die bald auf 15.000 Leute anschwillt, setzt sich in Gang. Wer möchte, darf je drei Minuten lang seine Botschaft in das Mikro rufen. Eine Frau fasst sich ein Herz und beginnt umständlich von ihrer Arbeit zu erzählen, die sie längst verloren hat. Die Kosmetikfirma exportierte in über achtzig Länder, berichtet sie stolz, ehe sie in bitteren Ton verfällt: „Soll Schröder doch selber mal drei Jahre lang mit meinem Geld auskommen und alles bezahlen!“ Doch drei Jahre scheinen der Frau für den Kanzler denn doch zu lange, und sie schwächt ab: „Oder wenigstens drei Monate!“

Manche haben selbst gemachte Transparente mitgebracht, oft bloße DIN-A4-Blätter. René Radke zum Beispiel hat den Satz „Seit 10 Jahren auf dem 2. Arbeitsmarkt und immer noch keine Chance auf richtige Arbeit“ in roter Farbe daheim ausgedruckt und das Blatt in eine Klarsichtfolie gesteckt. Seine Frau Silvia textete „Hartz IV vernichtet die Binnennachfrage und Jobs“ in Blau. Der 34-jährige René ist ausgebildete Bürofachkraft, hat eine Umschulung zum Bauzeichner und eine Zusatzqualifizierung zum Fremdsprachensekretär hinter sich. Zu mehr als befristeten Plätzen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hat es dennoch nie gereicht. Derzeit arbeitet er in einem Umweltunternehmen, am 27. Dezember läuft auch dieser geförderte Job aus. Silvia ist Küchenhilfe und seit November arbeitslos. Das junge Paar kann es sich schon jetzt nicht leisten, in ein Restaurant essen zu gehen, seit zehn Jahren haben sie Berlin nicht verlassen, und für ihre Zukunft fürchten sie das Schlimmste. „Aber wir haben doch auch ein Recht auf ein Leben“, klagt René.

Auf dem Lastwagen, der vor dem Protestvolk herfährt, spielt eine Band Lieder aus dem ewigen Protest-Songbook. Der unbeabsichtigt zynische Text lautet: „Neue Politiker braucht das Land, nimm deine Zukunft in die eigene Hand!“ Die verunsicherten Leute, die keine Ahnung haben, wie sie überhaupt noch irgendetwas in die eigene Hand nehmen sollen, wandern brav hinterdrein. Mitsingen tun sie nicht.

Die PDS, Nachfolgepartei der SED aus DDR-Zeiten, hat ihre Mitglieder mobilisiert, doch die meisten Demonstranten marschieren aus eigenem Antrieb. Gabriele Härdel ist mit ihrer Tochter Ricarda gekommen. Die 21-Jährige arbeitet im elterlichen Betrieb, einer Buchbinderei. Aber die Aufträge sind rar, und so hat Ricarda bloß noch einen so genannten Minijob, und bald wird sie auch den verlieren, fürchtet sie. Die Eltern werden sie nicht vor der Arbeitslosigkeit bewahren können, und was dann? Früher mal, in der DDR und auch in der BRD, sprang der Staat in solchen Fällen ein, heute sei auf ihn kein Verlass mehr, sagen hier alle.

Bei Manfred Wolf und seinem Sohn André ist es ähnlich, da ist der Vater seit März arbeitslos. Weil die Mutter einen Job hat, wird der Vater gemäß Hartz IV nach einem Jahr keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben, hat Sohn André errechnet. Die Familie hält zusammen; Mutter arbeitet, Vater und Sohn demonstrieren.

Von der Ladefläche des Lastwagens dröhnen Klassenkampf-Parolen in musealer Diktion, Agitatoren verdammen „Profitdenken“ sowie „Enteignung der Werktätigen“ und regen stattdessen an, es nochmal mit Sozialismus zu versuchen, auch wenn es das erste Mal zugegeben nicht ganz nach Wunsch geklappt hat. Die Masse der Marschierer jedoch bewegt sich schweigend Richtung SPD-Hauptquartier. Eine Frau trägt einen Teddybär, um dessen Hals hängt ein Pappschild mit der Aufschrift: „Immer auf die Kleinen“.

Hilflos, harmlos. Das ist das Lebensgefühl Hartz IV: hilflos, harmlos, bitter. Damit können die Medien wenig anfangen. Erstens sind 15.000 hängende Köpfe kein schönes Bild, und zweitens sind so gut wie alle Kommentatoren einer Meinung mit SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP: Hartz IV ist notwendig und keinesfalls eine Schikane für die Bewohner in den neuen Bundesländern.

Stimmt. Tatsächlich werden die meis-ten der 15.000 Demonstranten durch Hartz IV nicht benachteiligt, sondern tendenziell eher besser gestellt werden, denn sie besitzen in der Regel ohnehin kein Vermögen, das ihre Ansprüche auf Arbeitslosengeld schmälern könnte. Die Ängste, beteuerte Kanzler Gerhard Schröder Donnerstag vergangener Woche, seien „größtenteils unbegründet“. Wochenendlauben müssten nicht versteigert werden, Sparschweine der Kinder blieben unversehrt. Mehr ist allerdings auch nicht drin. Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert trocken: „Für die Erhaltung des gewohnten Lebensstandards ist der Staat nicht zuständig.“ Also kriegt ein Langzeitarbeitsloser gerade so viel, wie er zum Leben braucht, auch wenn er vorher jahrzehntelang gut verdient und hohe Beiträge eingezahlt hat. Aus dem Anspruch auf eine Versicherungsleistung wird eine Hilfe für den erst noch zu beweisenden Fall von Bedürftigkeit. Das Formular dazu umfasst 16 Seiten. Zudem werden die Zumutbarkeitsbestimmungen so weit verschärft, dass prinzipiell jeder jeden Job annehmen muss.

Im Arbeitsamt im Stadtteil Wedding in Berlin-Mitte berichtet die Arbeitsvermittlerin Liane Lattki, dass viele ihrer Beratungskunden in der Sprechstunde zu weinen beginnen, weil sie verunsichert sind. Und aus Angst zu nahezu allem bereit. Eine diplomierte Betriebswirtin mit Fachrichtung Bankwesen habe eben eine Stelle als Callcenter-Telefonistin angenommen. Jetzt bloß nicht arbeitslos werden – auch das ist Hartz IV.

Ein paar Blocks weiter, in einem der Sozialämter von Berlin-Mitte, urteilt Amtsleiter Manfred Weißbach, die Maßnahmen gingen „in die richtige Richtung“. Die Beratung werde sich verbessern, durch die strengere Überwachung und den Zwang zu Schulungen und Jobs würden bis zu einem Viertel der Hilfeempfänger ausbleiben – weil sie bereits schwarz arbeiten. Das habe ein Modellversuch gezeigt.

Also alles eine „große Hartz-Hysterie“, wie „Der Spiegel“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „Die Welt“ einhellig titelten? Das Lebensgefühl Hartz IV ist nicht nur unhip, sondern auch noch ein Riesenirrtum? Wie können bundesweit 100.000 Demonstranten so gründlich danebenliegen, wenn es um ihre eigenen Lebensumstände geht?

„Es gibt kein Recht auf Faulheit“, donnerte Kanzler Schröder im April 2001 und gab damit den Startschuss zur größten Kürzung von Sozialleistungen nach dem Krieg. Die Theorie dazu ist simpel: Erhöht man den finanziellen Druck auf Bezieher von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, drängen mehr von ihnen in Jobs, die sie früher abgelehnt hätten. Druck heißt in diesem Fall Angst vor Armut.

Dieser Druck ist mehr als nur rhetorisch. Das ärmste Viertel der westdeutschen Haushalte büßte in den vergangenen zehn Jahren 49,5 Prozent seines Nettogeldvermögens ein, im Osten betrugen die Einbußen 21 Prozent (siehe Infografik). Im Bezirk Berlin-Mitte verfügen fast 54 Prozent aller Haushalte über ein monatliches Einkommen von maximal 900 Euro, und 13,3 Prozent aller Bewohner beziehen Sozialhilfe.

Denunzianten. Das bedeutet Armut. Sozialamtsleiter Weißbach kann sehr anschaulich berichten, wie sich die Streichung von Hilfen auswirkt: Seit kein Geld mehr für den Kauf von Brillen ausbezahlt wird, „holen sich die Leute ihre Brille eben, ohne einen Optiker zu Rate zu ziehen, am Flohmarkt“. Immer öfter kommt es zu Denunziationen. In Briefen teilen Leute dem Amt mit, dass jemand heimlich ein Auto habe oder Schmuck und die Sozialhilfe somit illegal beziehe. Wenn die Armut schwer auf einem lastet, treten dunkle Eigenschaften zutage.

In einer solchen Situation in Verzweiflung und Wut zu verfallen erscheint nachvollziehbar. Zumal, wenn gleichzeitig mit 1. Jänner 2005 im Zuge einer Steuerreform auch der Spitzensteuersatz gesenkt wird, weil dies die Konjunktur ankurbeln helfen soll. Die Vorschläge, wie weiter eingespart werden könnte, reißen nicht ab. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt schlug vergangene Woche vor, dass künftig die Arbeitnehmer die Kosten für die Versicherung für Unfälle auf dem Weg zur Arbeit selbst tragen und dass Unfallrenten nicht mehr lebenslang gezahlt werden sollen.

Hartz IV ist die Chiffre für alle Hiobsbotschaften, die bedürftigen Deutschen seit Jahren übermittelt werden. Mit den Minijobs wurden die Abgaben bei einem Monatsverdienst von bis zu 400 Euro pauschaliert, mit der „Ich-AG“ sollte Arbeitslosen der Weg in die Selbstständigkeit geebnet werden, doch die Zahl der Arbeitslosen sinkt nicht. Alles bleibt schlechter. Inzwischen nistet sich die Angst vor der Armut langsam auch in den Mittelschichten ein. Ein Absturz, und schon könnte man sich mit 345 Euro Arbeitslosengeld II (plus Erstattung von Miet- und Heizkosten) wiederfinden. „Das Leben wird Hartz“, titelte die Berliner Stadtzeitung „Zitty“ und brachte praktische Beispiele, was man mit 345 Euro so alles kriegt: einen Rückspiegel für den neuen VW Phaeton etwa, wobei nicht unerwähnt bleibt, dass Arbeitsreformvorsitzender Peter Hartz VW-Manager ist.

Die große Frage ist, ob die Hartz-IV-Stimmung – Hysterie oder Lebensgefühl – weiter um sich greift. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und Kanzler Schröder kämpfen um das Vertrauen der Deutschen. Erst wurden aufgrund der Proteste einige Korrekturen vorgenommen, doch ab sofort gilt Hartz IV so und nicht anders. 600.000 „1-Euro-Jobs“ – das sind von Kommunen und Wohlfahrtsverbänden geschaffene Stellen mit einem Stundenlohn von ein bis zwei Euro – erwartet Clement, was Bezieher von Arbeitslosengeld II auf ein Nettoeinkommen zwischen 850 und 1000 Euro bringen würde. Schröder wiederum verspricht, dass besonders die neuen Bundesländer nicht im Stich gelassen würden. Bereits vor der Bundestagswahl 2006 werden, so Schröder, positive Auswirkungen seines großen Reformwerks Agenda 2010 zu sehen sein.

Robin Hood. Bis dahin spielt die listige PDS den Robin Hood des Ostens und versucht, die Montagsdemonstrationen zu nutzen, so gut es geht. Manch einem missfällt das. Dieter Hengst, ein arbeitsloser Programmierer, marschiert montags mit, obwohl er eigentlich zu CDU/CSU tendiert. Doch die könne er nicht wählen, denn „die haben die Agenda 2010 mitbeschlossen“. Dass ausgerechnet die PDS von der Proteststimmung profitiert, ärgert den 55-jährigen Ostberliner: „Ich bin DDR-geschädigt, mein Vater ist damals enteignet worden.“

Den meisten ist es egal, dass die Montagsdemonstrationen gegen das DDR-Regime als Namensgeber für die Anti-Hartz-IV-Märsche herhalten müssen. Ein Witz macht die Runde: Was ist der Unterschied zwischen den Montagsdemonstrationen von 1989 und denen von heute? Antwort: Damals kamen wir alle von der Arbeit zur Demonstration.

Manchmal birgt Hartz IV, das 345-Euro-Lebensgefühl, auch ein bisschen Ironie. Im Arbeitsamt Berlin-Mitte, auf Zimmer 407, sitzt ein Arbeitsvermittler, der heißt tatsächlich Herr Schröder.