Deutschland vor der Wahl: Spitz auf Knopf

Deutschland: Spitz auf Knopf

Der deutsche Wahlkampf erreicht seinen Höhepunkt

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Es war die große Abschiedsshow im Reichstag zu Berlin. Mittwoch, 7. September 2005. Zum letzten Mal wohl ergriff Kanzler Gerhard Schröder das Wort. Dann war Angela Merkel dran, die Joschka Fischer später – Aus Versehen? Ironisch? – schon „die Kanzlerin“ nannte: Sie sprach wie eine, die ihre Macht in Reichweite weiß. Endspurt in Deutschland. Am kommenden Wochenende wird gewählt.

Ungewohnt voll war die Regierungsbank, als wollten die Damen und Herren aus Gerhard Schröders Tafelrunde noch einmal die Polsterung spüren. Der Kanzler, kämpferisch wie in seinen besten Tagen, zog alle Register seiner rhetorischen Orgel, pries die von ihm geführte „Friedensmacht“ Deutschland und beschrieb seinen Weg: „Er ist richtig, und – ich bin dessen sicher – er wird fortgeführt werden.“ Dann erhob sich die rot-grüne Seite des Bundestages und klatschte ausgiebig. Eine Abschiedsdemonstration?

Angela Merkel konterte kühl. Schröder sei „Vergangenheit, gescheitert an seiner Partei, an sich selbst und seiner Wahrnehmung der Realität“. Der Amtsinhaber, nur wenige Meter entfernt von ihr sitzend, lachte demonstrativ. Zwischendurch probierte er allerlei Grimassen durch, sein Unterkiefer mahlte bedrohlich. Die Linke des grünen Nachbarn Joschka Fischer hämmerte zuweilen genervt auf die Armlehne. Der tragische SPD-Finanzminister Hans Eichel nestelte nervös an seinem Kinn herum. Und der bunte Rest des Kabinetts kritzelte in Akten, als gelte es, bis zur letzten Sekunde zu regieren, was das Zeug hält.

Angela Merkel wirkte entschlossen. Dieses Mal riss sie, anders als beim letzten großen Bundestags-Auftritt im Sommer, die Latte nicht. Sie glänzte vor Siegesgewissheit und kanzelte Schröder wiederholt als „gescheitert“ ab. Die Fraktion dankte es ihr, vor allem die unter Merkel nachgerückten neuen Macher aus der so genannten „Boygroup“ klatschten und johlten wie im Fußballstadion.

SPD-Chef Franz Müntefering ließ noch einmal die große Geschichte der Sozialdemokratie hochleben, während FDP-Chef Guido Westerwelle vor Vorfreude auf ein Ministeramt sprühte. Er hofft angeblich auf das Justizressort, sein Fraktionschef Wolfgang Gerhardt soll Außenminister Fischer beerben. Auch dieser trat grimmig ans Rednerpult und geißelte die „neokonservative Wende der Union“, die eine „Gesellschaft der kalten Herzen“ wolle. Mit ihrer Agitation gegen einen Beitritt der Türkei zur EU „versündigen Sie sich an den Sicherheitsinteressen Europas und Deutschlands“, hielt er Angela Merkel mit krächzender Stimme entgegen.

Wehmut. So mancher wurde da wehmütig, auch unter den Journalisten, die nach sieben Jahren Rot-Grün mit dem Politpersonal gut vertraut sind. Die Mehrzahl der deutschen Meinungsmacher ist längst ins Merkel-Lager gewechselt. Doch vergangenen Mittwoch wurde Merkels Performance noch einmal einer kritischen Prüfung unterzogen. Die Frage „Wollen wir die wirklich?“ stand im Raum.

An die tausend Berliner Meinungsführer waren schon am Sonntag zuvor ins Studio Adlershof geströmt, um das TV-Duell zwischen Amtsinhaber und Kandidatin zu beobachten und hernach in allen Details auszudeuten. Merkel hatte ein zweites Duell gegen den Medienkanzler abgelehnt und sich für die eine Konfrontation wochenlang von einem ehemaligen Anchorman des ZDF coachen lassen, bis zu vier Stunden täglich.

Schröder ließ seinen jovialen Charme spielen und ging aus allen Umfragen als haushoher Sieger hervor. Doch auch Merkel gab sich kämpferisch, vor allem patzte sie nicht. Sie verdoppelte lediglich die Zahl der Töchter ihres neuen Finanzgurus Paul Kirchhof von zwei auf vier. Medienkennern fiel auch auf, dass die direkt ans Publikum gesprochenen Schlussworte der CDU-Chefin von Ronald Reagan ausgeborgt waren – aus einem TV-Duell 1980 zwischen dem damaligen US-Präsidentschaftskandidaten und seinem Kontrahenten Jimmy Carter.

Die Garde der professionellen Beobachter ist neuerlich fasziniert vom Noch-Kanzler, der in diesen Tagen mehr gute Laune und Gelassenheit verströmt als bei seinem Siegeszug 1998. Keine Chance zu haben scheint ihm Auftrieb zu geben. Er sei mit sich „im Reinen“, verkündet Schröder bei jeder Gelegenheit. Im Moment des Rückzugs habe er „eine Stärke bewiesen, die er in den sieben Jahren nie hatte. Und den Zweiflern hat er eine Nase gedreht“, schreibt die Hamburger „Zeit“.

Gerhard Schröder, dessen SPD bei elf Landtagswahlen baden ging, der nie ein Leitmotiv für seine sieben Jahre währende Ära fand und am Schluss mit einer recht skurrilen Vertrauensfrage seinen Abgang beschleunigte, legt sich ins Zeug, als stehe er vor dem größten Sieg seiner Karriere. Dabei sind seine Chancen auf eine dritte Amtszeit nahe null – es sei denn, er würde die erstarkende Linkspartei mitsamt seinem Erzfeind Oskar Lafontaine mit ins Boot holen. Solch ein rot-rot-grünes Bündnis aber hat Schröder stets vehement ausgeschlossen. Ebenso die Grünen. Und selbst die Linkspartei will nicht.

Pünktlich zum Endspurt aber hat sich die lange am Boden liegende SPD wieder aufgerappelt und liegt mittlerweile deutlich über der 30-Prozent-Marke – Tendenz steigend. Fast scheint es, als könne der Wahlkampf-Profi Schröder, wie schon bei seinem Überraschungssieg 2002, die Umfragekurven wie ein Kraftprotz auf dem Kirtag eigenhändig nach oben biegen. Die Agentur Forsa positionierte die SPD vergangene Woche bei 34, die CDU bei 42 Prozent; Linkspartei: acht Prozent, Grüne: sieben, FDP: sechs, hart an der 5-Prozent-Hürde.

Endspurt. Vor wenigen Wochen noch galt Merkel als völlig uneinholbar. Nun aber kommt Hochspannung in einen bislang müden Wahlkampf. Die Blöcke sind annähernd gleich stark – nur dass den Rot-Grünen die Linkspartei einen kräftigen Bissen wegnimmt. „Heute steht es Spitz auf Knopf“, sagt SPD-Chef Müntefering.

Nach wie vor gibt es kaum ernsthafte Zweifel, dass Angela Merkel Deutschlands erste Kanzlerin wird. Selbst dass die Kandidatin bei „Wahlstreet“ – einer Internet-Börse, die Parteipräferenzen und Siegeschancen wie Aktien handelt und in der Vergangenheit zuweilen verblüffend gute Prognosen geliefert hat – leicht gefallen ist, wird sie kaum erschüttern. Ihre Siegeswahrscheinlichkeit liegt hier noch immer bei 82 Prozent.

Der von Merkel viel beschworene „Neuanfang“ allerdings ist in akuter Gefahr. Würden die Deutschen am kommenden Sonntag getreu den Demoskopen wählen, wäre der lange sicher geglaubte schwarz-gelbe Sieg perdu. Bei einem solchen Ergebnis gäbe es wohl eine von Angela Merkel geführte große Koalition mit der SPD. Unter Sozialdemokraten wird für diesen Fall bereits der in Nordrhein-Westfalen unterlegene Ex-Ministerpräsident Peer Steinbrück als Vizekanzler gehandelt.

Für Merkel würde dies Sieg und Schmach zugleich bedeuten. Sie hätte es geschafft – und doch nicht ganz geschafft. Die Schar parteiinterner Rivalen, vorübergehend artig ins Glied gerückt, würde die Messer zücken, der Merkel politisch wie menschlich nahe stehende Guido Westerwelle wohl seinen Parteivorsitz einbüßen. Zu zornig wäre die Basis der FDP, die es in der Nachkriegszeit auf bislang 42 Regierungsjahre an der Seite beider Volksparteien brachte, über einen Misserfolg.

Die CDU beschloss vergangene Woche, einen noch härteren Lagerwahlkampf gegen alles Linke zu führen, und warnt nun laut vor einer großen Koalition. Erleichtert registrieren die Wahlkampfmanager, dass die eigenen Leute kampflustig sind, „grimmige Entschlossenheit“ beobachtet die – traditionell CDU-nahe – deutsche Meinungsforschungs-Professorin Elisabeth Noelle im Unionslager, weil 63 Prozent der Anhänger die Wahl als „Schicksalswahl“ empfänden. Selbst der vor sieben Jahren in Ungnade gefallene Altkanzler Kohl wird noch einmal aufgeboten. Am Dienstag vergangener Woche zeigte er sich in Recklinghausen, dem Wahlkreis von Philipp Missfelder, dem Vorsitzenden der Jungen Union. Und eine Schar junger Menschen skandierte: „Wir haben ein Idol – Helmut Kohl!“

In der Hauptstadt dagegen ist die Lage der CDU prekär: Im Westen Berlins kommt sie derzeit auf magere 33, im Osten gar nur auf verheerende 17 Prozent. Im bankrotten Berlin trauen viele auch den Konservativen kein Jobwunder mehr zu.

Gut vier Kilometer vom Berliner Reichstag entfernt, im Arbeitsamt Wedding in der Müllerstraße, hört man unterschiedliche Meinungen. „Die Merkel muss da einen Fuß in die Tür kriegen“, meint ein 49-Jähriger, der auf neue Konzepte hofft und von der rot-grünen Regierung tief enttäuscht ist. Auch die Linkspartei, sagt er etwas kleinlaut, bedeute ja nur „Konfrontation mit der Wirtschaft“.

Ein 42-Jähriger, der in der Schlange steht, um seine neue „Ich-AG“ anzumelden, den Schritt in die Selbstständigkeit, ist völlig desillusioniert. Auch unter Merkel werde es nicht plötzlich neue Jobs geben: „In der Zeitung suchen die ja nur noch 25-Jährige mit zwei Hochschulstudien und zehn Jahren Berufserfahrung, bodenständig und trotzdem weltweit einsetzbar.“ Seine kleine Firma soll „Büroservice“ anbieten. Sieht er eine Chance? Der Mann kontert mit einem bitteren „Nee“.

Hohl hallen die Schritte auf den langen Fluren des Arbeitsamtes, an den Wänden hängen unzählige Zettel. Ein Aushang wirbt für Arbeit in Österreich.

Abgestempelt. Die Politik hat agiert. Die Wörter hier sind alle neu: Es heißt nicht mehr Arbeitsamt, sondern „Agentur für Arbeit“. Arbeitslose sind nun „Kunden“, die von „Teams“ und einer „Hotline“ betreut werden. Aber wo ist die Arbeit?

Sie sei zum zweiten Mal hier, sagt eine 46-Jährige, die in der Vorwoche wieder ihre Arbeit verlor. „Man ist abgestempelt“, findet sie. „Und wenn man Arbeit hat, muss man sich alles gefallen lassen.“ Erwartet sie, bald ein Jobangebot zu bekommen? Die Frau schaut verblüfft. Und die ganze Schlange lacht über die Frage wie über einen schlechten Witz.

Arbeitsplätze und der Umbau des Sozialsystems sind zu Kernthemen dieses Wahlkampfes geworden. Für Polarisierung sorgt Professor Paul Kirchhof, den Merkel vor Kurzem überraschend in ihr „Kompetenzteam“ holte. Der ehemalige Verfassungsrichter kämpft seit Jahren für ein rigide vereinfachtes Steuersystem – eine Vorstellung, mit der sich im Prinzip alle politischen Lager anfreunden können.

Die Schlüsselfrage aber lautet: Wie vereinfachen? Das Rezept des designierten Finanzministers Kirchhof sieht eine rigorose Streichung aller Steuervergünstigungen (in Deutschland über 400) vor, dazu mittelfristig einen Einheitssteuersatz. Die Idee einer Flat Tax findet auch bei manchen US-Konservativen – und bei Jörg Haider – Freunde. In einigen osteuropäischen Ländern wie der Slowakei ist sie bereits Wirklichkeit.

Merkel präsentierte ihren Neuzugang als „Visionär“, einen kommenden Helden, der den gordischen Steuerknoten durchschlagen werde. Sie strebt seit Langem in die gleiche Richtung. Schon 2003 sagte sie: „Professor Kirchhof hat hier Pionierarbeit geleistet, und wir werden uns als CDU seinen Grundsätzen anschließen.“

Nun will die Nation aber genauer wissen, was dieser Professor eigentlich alles streichen will – und wie schmerzhaft dies etwa für Schichtarbeiter und Kleinsparer ausfallen könnte. Schon ist in Boulevardblättern von „Kirchhofs Giftliste“ die Rede. Und die linke „taz“ höhnt über den Konservativen, der in einem Buchvorwort den Frauen die Karriere zu Hause schmackhaft machte: „Kinder, Küche, Kirchhof“.

Während aus der Industrie Stimmen laut werden, die nach wie vor über zu viele „Soziale“ und „Bremser“ in Merkels Team mäkeln, feuert Rot-Grün verschärft gegen die „krausen Ideen“ des „Professors aus Heidelberg“, die weitere Aufweichung des Kündigungsschutzes und die Privatisierungspläne für Kranken- und Rentenversicherung. „Für den Gemeinsinn, gegen die Gier“, plakatiert die SPD.

So legen alle Kontrahenten noch ein Schäuferl nach. Der Ton wird schärfer. Schwitzend schleppen sich die Matadore im heißen Spätsommer über die Plätze der Republik, bellend und beißend. Von links feuert Oskar Lafontaine aus allen Rohren wider den „neoliberalen Schwachsinn“. Gerhard Schröder gibt bereits ein neues keckes Wunschziel vor: 38 Prozent – gleichauf mit der CDU.

Von Tom Schimmeck, Berlin