Die Bürokratie ist ausgewandert

Die Bürokratie ist ausgewandert

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Helmut Gansterer predigt profil-Lesern seit Jahren, dass sie in einem besonders leistungsfähigen Land leben, das demnächst das reichste der Welt sein wird. Ich möchte ihn an unerwarteter Stelle unterstützen: Wir sind schon jetzt dabei, die kleinste Bürokratie zu haben.

Noch zu Kreiskys Zeiten bewunderte ich einen US-Korrespondenten für folgende Formulierung: „Bevor ich Österreich kannte, habe ich Kafka für einen großen Dichter gehalten – jetzt weiß ich: Er war ein ganz gewöhnlicher Naturalist.“ Heute müsste er das Gegenteil berichten: Nirgendwo in der Welt bekommt man schneller einen neuen Pass, das Duplikat eines verlorenen Führerscheins oder eine Auskunft zur Sozialversicherung. Nirgendwo sind Formulare leichter zu bekommen, einfacher zu lesen und rascher vor Ort. Beamte beginnen damit, in Bürgern fast schon „Kunden“ zu sehen. Um es mit Gansterer zu sagen: Wir sind auch bei Verwaltungsreformen Spitze.

Wer an der guten, alten österreichischen Bürokratie hängt, muss auswandern: zum Beispiel nach Spanien.

Meine erste Erfahrung war die Einfuhr eines Autos. „Probieren Sie es gar nicht erst selbst“, warnten mich Freunde. „Gehen Sie zu einem Gestor.“ „Gestoren“ sind darauf spezialisiert, Amtswege zu erledigen – man braucht sie in Spanien wie Sherpas im Himalaja.

„Wir müssen in Motril starten“, erklärte mir mein Gestor, „ohne Motril geht gar nichts.“ Motril ist ein größeres Städtchen mit einem Verkehrsamt. Nach drei Monaten hat Motril mir eine Vorladung geschickt, die meine Frau für mich wahrnahm – sie kann besser Spanisch und auch besser mit Beamten. Der zuständige Beamte verhörte sie eine Stunde und schickte sie zum zuständigen Ingenieur weiter. Dieser wiederum erklärte, dass er jedes Detail des Wagens überprüfen müsse, und stieß nach einer Stunde prompt auf ein schweres Gebrechen: „Wieso sind die hinteren Fenster dunkel?“ – „Wegen der Sonneneinstrahlung.“ – „Haben Sie das so gemacht?“ – „Das Auto wurde so ausgeliefert.“ – „Wir müssen die Fenster überprüfen.“ – „Aber es sind serienmäßige Fenster.“ – „Aber nicht in Spanien.“

Ich weiß nicht, warum Motril Mitsubishi schließlich doch zugestanden hat, auch die spanische Sonne durch dunkle Scheiben dämpfen zu lassen. „Jetzt muss nur noch Granada (als Provinzhauptstadt) zustimmen“, jubelte jedenfalls der Gestor. Das dauerte dann auch nur noch drei Monate. Ein halbes Jahr nachdem ich es eingeführt hatte, bekam das Auto die spanischen Nummerntafeln.

Einmal hat meine Frau es falsch geparkt. Auf dem Strafzettel stand nichts, außer der Höhe der Strafe – rund zehn Schilling. Sie erriet das Rathaus als Absender und fand den Schalter anhand der Warteschlange. Als sie ihn nach 40 Minuten erreichte, tippte die Beamtin alle persönlichen und alle Fahrzeugdaten in den Computer und druckte sie aus. „Jetzt können Sie einzahlen. Nicht hier, zwei Straßen weiter.“ Dort wartete meine Frau wieder 30 Minuten. Denn bevor die Beamtin das Geld entgegennahm, tippte sie alle persönlichen und Fahrzeugdaten in ihren Computer – genau wie auf dem mitgebrachten Ausdruck. Als meine Frau einem Spanier über den verlorenen Vormittag klagte, traf sie auf Unverständnis: „Warum haben Sie zahlen wollen? Ich zahle nie. Die kommen doch nie dazu, das zu prüfen.“

Das zählt zum Wesen der spanischen Bürokratie – aller wirklich großen Bürokratien dieser Erde: dass das Ausmaß der verordneten Prüfungen jede tatsächliche Prüfung unmöglich macht.

So braucht man etwa für den Bau auch des kleinsten Hauses nicht nur einen Architekten samt Zivilingenieur, sondern noch einen zusätzlichen Zivilingenieur, der beider Arbeit überprüft. Gott sei Dank haben wir ihn während zweier Baujahre nie gesehen. Nur bezahlt. „Sie haben Pech mit dem Datum gehabt“, erklärte uns der Architekt. „Jetzt ist diese Prüfung nicht mehr vorgeschrieben. Es ist bei uns immer besser, man wartet, ob eine Vorschrift auch bleibt.“

Die „Residencia“ bleibt seit Jahren, obwohl sie geltendem EU-Recht widerspricht: eine Art Aufenthaltsbewilligung, mit der EU-Ausländer die Rechte tatsächlich erhalten, die ihnen laut EU-Gesetzgebung von vornherein zustehen. So können sie als Residenten, wie die Spanier, Gewinne aus Hausverkäufen mit nur 17 Prozent versteuern, während sie als Non-Residenten 35 Prozent zahlen müssten. Allerdings nicht wirklich: Völlig unabhängig vom erzielten Gewinn behält die spanische Finanz bei ihnen einfach fünf Prozent der Verkaufssumme ein. Denn das ist wohl immer noch mehr, als wenn sie die einbekannten Gewinne zu Grunde legte.
Es war das die erste, wenn auch sinnvollste Verwaltungsvereinfachung, auf die ich in Spanien gestoßen bin.

Wer „Resident“ ist, darf nicht mehr mit seinem österreichischen Führerschein fahren. Meine ahnungslose Frau tat es und erhielt eine Strafe vorgeschrieben, die allerdings nur fällig werden sollte, wenn sie ihren Führerschein nicht innerhalb von 14 Tagen zu einem spanischen umschreiben ließe. Das Umschreiben gelang nach nur vier Stunden Schlangestehen in Granada. „Jetzt brauche ich also keine Strafe zu zahlen?“, wollte meine Frau sich vergewissern. „Sie müssen nur den entsprechenden Antrag stellen, die Polizeiverfügung und den umgeschriebenen Führerschein in Kopie beilegen, dann bekommen Sie schriftlich Bescheid, dass die Strafe erlassen ist.“ – „Um Gottes willen, dann zahle ich sie lieber.“ – „Das geht nicht, das wäre ungesetzlich.“
Seither sind Monate vergangen.

Ansonsten ist Spanien ein herrliches Land: reizende Menschen, eine boomende Wirtschaft und weit und breit kein Haider.