Die etwas andere Diaspora in Kärnten

Die etwas andere Diaspora in Kärnten: Kein anderes Land verliert so viele Talente

Kein anderes Land verliert so viele Talente

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Von Herbert Lackner

Durch die dunkle Piaristengasse in der Wiener Josefstadt klingt es fast ein wenig schaurig: „Valossn, valossn, wia a Stan auf der Stroooßn …“ Es ist eines dieser hingebungsvoll melancholischen Heimatlieder, die der Menschenschlag südlich des österreichischen Alpenhauptkamms so liebt. Neben der Piaristenkirche im 8. Wiener Gemeindebezirk liegt ein Stück Kärnten. Hier hat der „Männerchor der Kärntner in Wien“, Gründungsjahr 1951, sein Probenlokal. Nur wer in Kärnten geboren und aufgewachsen ist, hat eine Chance, in den Chor aufgenommen zu werden.

Rein statistisch ist die Zahl der Anwärter dennoch hoch: Nach Schätzungen leben fast 80.000 Kärntner in Wien. Nach Klagenfurt (90.000 Einwohner) ist Wien damit die mit Abstand größte „Kärntner Stadt“. Anders gerechnet: Es gibt in Wien fast so viele gebürtige Kärntner, wie die Bezirke Mariahilf, Neubau und Josefstadt insgesamt Einwohner haben. Wie viele Abkömmlinge aus Österreichs Süden die anderen Landeshauptstädte bevölkern, ist nicht bekannt. In Graz dürfte ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ähnlich hoch sein wie in Wien.

Aus keinem anderen Land sind in den vergangenen Jahrzehnten so viele Menschen dauerhaft abgewandert wie aus Kärnten. „Eh klar“, meint der in Kärnten geborene PR-Guru Wolfgang Rosam. „Der Markt ist zu klein, zu schmal und zu isoliert. Es bewegt sich nichts, und in den letzten Jahren ist alles nur noch schlimmer geworden.“ Eine Universität gibt es erst seit den siebziger Jahren – und die hat ein sehr beschränktes Angebot.

Talente wandern ab. Die strukturellen Schwächen des Landes der glitzernden Berge und tiefblauen Seen sind so groß, dass Besserqualifizierte kaum gehalten werden können. „Für meine Ausbildung gibt es in ganz Kärnten etwa fünfzig Jobs. Was soll ich dort tun?“, fragt der an der Wiener Technischen Universität graduierte Maschinenbauer Bruno Kittner. Der „brain drain“, den das Land damit erleidet, ist gewaltig – Karrieren machen die tüchtigen Kärntner anderswo. Die Wiener Umweltpolitik etwa wird seit vielen Jahren von Stadträtin Ulli Sima bestimmt, einer Enkelin des früheren SPÖ-Landeshauptmanns. Wird jemand plötzlich schwer krank, landet er in der vom Kärntner Anton Laggner geführten Klinik für Notfallmedizin am Wiener AKH. Kärntens Nationalsport Eishockey wird in Wien vom Kärntner Hans Schmid, dem Präsidenten der Capitals, dominiert, der inzwischen auch einer der wichtigsten Gastronomen und der größte Winzer der Stadt ist. Der größte Kulturbezirk, das Museumsquartier, wird vom Gailtaler Wolfgang Waldner geleitet. Seine Schwester Gabi moderiert das TV-Magazin „Report“ und trifft im ORF auf viele ehemalige Landsleute. Chefredakteur Karl Amon etwa kommt aus Mallnitz, ORF-Wissenschaftschefin Gisela Hopfmüller aus Klagenfurt, Auslandschef Peter Fritz aus Latschach, Kulturressortleiter Martin Traxl aus Villach und Krisenreporter Friedrich Orter aus dem Lavanttal. Moderatorin Elisabeth Engstler wuchs in Velden auf.

Ein Kärntner (Sepp Stranig) leitet das Integrationshaus, aus Kärnten kommen die berühmtesten Schönheitschirurgen der Stadt (Dagmar Millesi und Artur Worseg), ein Kärntner (Arnulf Rainer) ist immer noch der teuerste Maler des Landes. Nicht zu vergessen, dass Österreichs Außenpolitik bis vor Kurzem von der aus Klagenfurt nach Wien emigrierten Ursula Plassnik geprägt wurde. Selbst in heimatlicher Scholle verwurzelt gewähnte Naturburschen zieht es in die große Stadt: Das extravagante ­Slalom-Ass Rainer Schönfelder logiert längst nicht mehr am Fuße der Petzen, sondern in Wien.

Die Wirtstochter Christina Ostermayer aus Feldkirchen hatte ernste Absichten, das Gasthaus der Eltern zu übernehmen, bevor es sie, der Liebe wegen, nach Wien verschlug. Heute führt sie Wiens berühmtestes Feinschmeckerlokal, die Do-&-Co-Dependance am Stephansplatz. „Alle sieben Jahre einmal hab ich überlegt zurückzugehen. Aber nach zwei Wochen in Kärnten fahr ich dann immer wieder gern nach Wien.“
Kärntner machen auch jenseits der österreichischen Grenzen bemerkenswerte Karrieren. Die Vorstandschefs von zwei der größten Konzerne Europas, Peter Löscher (Siemens International) und Peter Brabeck-Lemathe (Nestlé), stammen aus Villach.

Große Namen der österreichischen Literaturgeschichte – Robert Musil, Ingeborg Bachmann, Gert Jonke, Peter Turrini – waren und sind Kärntner. Der Philosoph Konrad Paul Liessman kommt aus Villach. Burgschauspieler Wolfgang Gasser, un­vergessen als Darsteller in Claus Peymanns Bernhard-­Interpretation von „Heldenplatz“, wurde in Wolfsberg ­geboren. „Natürlich fällt auf, wie viele Künstler das Land verlassen. Aber was hätte die Bachmann in Kärnten tun sollen?“, fragt Wolfgang Kofler, Chefredakteur der beliebten Regionalillustrierten „Kärntner Monat“. Kofler hat im Rahmen seines Politikwissenschaftsstudiums selbst mehrere Jahre in Wien verbracht. Als Rückkehrer ist er eine rare Ausnahme – die meisten gehen nach der Matura und kommen nur noch auf Urlaub.

Mit der Umgebung verändert sich aber auch das politische Verhalten. Bei den Landtagswahlen in Wien hatte die Kärntner Mehrheitspartei BZÖ gerade 7900 Wähler – ein Prozent der Stimmen. Die 80.000 Immigranten aus Österreichs Süden wählten weitgehend so wie die Durchschnittswiener, also meist rot.

Kritische Nähe. Die politischen Vorlieben in der alten Heimat werden den Emigranten zunehmend fremd. Hans Schmid etwa, der schon 1958, bald nach der Matura, nach Wien übersiedelte, macht zwar jedes Jahr mindestens acht Wochen Ferien in Kärnten, „früher oder später gerate ich aber immer in irgendeine ungute politische Debatte“. Wolfgang Rosam sieht das ähnlich: „Wir Exil-Kärntner leiden unter den politischen Verhältnissen, vor allem aber darunter, dass in Kärnten der Aufschwung verpasst wurde.“ Klagenfurt, meint Rosam, hätte nach der EU-Erweiterung „das Tor Europas in den Süden“ werden können: „Heute hat Laibach den Konkurrenzkampf schon gewonnen.“ Während das Flugfeld in Klagenfurt immer noch eine ländliche Idylle ist, hat Ljubljana inzwischen einen echten Airport, der auch von vielen Kärntnern frequentiert wird. ORF-Außenpolitiker Eugen Freund kann in seiner Unter­kärntner Heimat den Stillstand augenscheinlich konstatieren: „Mein erstes journalistisches Erlebnis war der Ortstafelsturm 1972. Dann hab ich 1992 über dessen 20. Jubiläum berichtet. Und heute ist das Thema immer noch aktuell.“

Dennoch bezeichnet Freund Kärnten immer noch als Heimat, „auch wenn dieser Begriff so missbräuchlich verwendet wird“. Wie viele ausgewanderte Kärntner hat er eine sentimentale Beziehung zu seinem Geburtsland. Kärntner bleiben Kärntner, auch wenn sie ein halbes Jahrhundert in Wien sind. „Von bestimmten Kärntner Liedern bin ich nach wie vor tief gerührt“, gesteht Hans Schmid. Oliver Pink, Innenpolitiker bei der „Presse“ mit Geburtsort Liebenfels im Glantal, führt das auf ein gewisses „Stammesbewusstsein“ zurück. Der Schriftsteller und Kabarettist Werner Schneyder meint, es hänge mit der „Grunddisposition des Kärntners zusammen, der ja ein sehr gefühlstiefer Mensch ist, er ist auch sehr gern traurig, er ist gern melancholisch“.

Die Liebe zum Land macht es den Auswanderern leichter, über die eine oder andere Schwäche hinwegzusehen – und den Mund zu halten. Das sei bei Besuchen auf jeden Fall besser, meint Pink: „Man gilt sonst sehr schnell als Wiener Arroganzling.“