Die Entscheidung

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Alles ist gesagt. Nun haben die amerikanischen Wähler das Wort. Sie werden kommende Woche entscheiden, wer der Präsident jener Hegemonialmacht wird, die weit gehend bestimmt, wie es mit der Welt weitergeht. Wäre man naiv, man müsste beklagen, dass wir anderen – die Europäer und die Völker Lateinamerikas, Afrikas und Asiens – dabei nicht mitreden können. Aber in unserer historischen Epoche haben die Nationalstaaten und nicht die Weltbürger das Sagen in der globalen Politik. So ist es nun mal.

Wäre es anders, und die Welt votierte mit, müssten über den Ausgang des Rennens keine Wetten mehr abgeschlossen werden: Etwa zwei Drittel der Menschen würden für den Demokraten John F. Kerry stimmen. Glaubt man den Demoskopen, dann hätte der amtierende republikanische Präsident bloß in Russland, Israel und Nigeria knappe Mehrheiten hinter sich, in Europa favorisieren nur die Polen leicht George W. Bush. Sonst herrscht eher das starke Gefühl vor: Dieser Mann ist gefährlich, dieser Mann muss weg.

Dennoch tauchen auch unter Bush-Gegnern in Europa zunehmend Argumente auf, die eine Wiederwahl des Texaners doch noch erträglich erscheinen lassen. Und die gehen etwa folgendermaßen:

Da mögen zwar im Stil Bush und Kerry einander konträr gegenüberstehen. Was die internationale Politik betrifft, besteht aber zwischen den beiden dann doch kein so großer Unterschied. Für die Europäer hätte ein Sieg Kerrys auch fatale Konsequenzen. Dem arroganten Unilateralisten Bush kann man leicht Nein sagen, wenn er die europäischen Verbündeten dazu auffordert, sie mögen mithelfen, den Irak aus der Bredouille zu führen. Beim netten UNO-Freund und Multilateralisten Kerry wäre es viel schwieriger, dem Druck, sich am Golf zu engagieren, zu widerstehen. Einen Vorteil für Europa hätte ein Sieg Bushs jedenfalls: Er würde die so dringend nötige europäische Identität stärken. Das Feindbild eines von einer christlichen Fundamentalisten-Clique geführten, global aggressiven Amerika würde Europa gewaltig vorwärts bringen.

In diesen drei Überlegungen steckt jeweils ein Körnchen Wahrheit. Und doch sind sie grundfalsch.

Gewiss würde Kerry, falls er gewinnt, nicht sofort die US-Truppen aus dem Irak abziehen. Er hätte es am Golf mit dem gleichen mörderischen Chaos zu tun wie Bush. Auch präsentierte er – um in der Gegend zu bleiben – im Wahlkampf keine irgendwie plausible Alternativpolitik für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Aber sein immer wieder betontes und glaubhaftes Bekenntnis, mit den UN und den Verbündeten auf der Welt wieder gedeihlich zusammenarbeiten zu wollen, deutet auf eine fundamentale Differenz hin.

Bush hat mit seiner Strategie der Alleingänge und der Ideologie vom Recht des Stärkeren die amerikanische Diplomatie faktisch liquidiert und die US-Außenpolitik weit gehend auf das Militärische reduziert. Kerry würde als Präsident mit dieser Politik Schluss machen. Auch den „Krieg gegen den Terrorismus“ sieht er, trotz seiner martialischen Aussagen im Wahlkampf, eher als „Krieg“ im Sinne von „Krieg gegen die Armut“ oder „Krieg gegen die Drogen“.

Vielfach handelt es sich bei der Auffassung, dass sich die beiden in der Substanz letztlich nicht sonderlich unterscheiden, um eine optische Täuschung. So wie George W. Bush 2000 zunächst als „compassionate conservative“ posierte, also einen Mitte-Wahlkampf führte, und dann ganz rechts regierte, so präsentiert sich Kerry heute gegenüber dem texanischen Macho als der echte „starke Mann“, um die Mitte zu besetzen, die Bush mit seinem Extremismus zur Disposition gestellt hat. Aber selbst wenn er als Präsident in der politischen Mitte bleibt, dort, wo er wahlkämpft, ist Kerry meilenweit von Bush entfernt, der bei einer Wiederwahl noch extremer regieren würde als jetzt. George W. würde sich brillant bestätigt fühlen und hätte, da er nicht mehr wiedergewählt werden kann, nichts zu verlieren.

Und wenn man sich fragt, welche Nahostpolitik Kerry betriebe, möge man sich bloß ansehen, was sein Parteikollege Bill Clinton in dieser Region getan hat. Das war auch nicht erfolgreich, aber zumindest engagiert. Und mit der klaren Zielrichtung einer politischen Konfliktregelung.

Natürlich wären die Europäer weltpolitisch – auch was den Irak betrifft – von einem Präsidenten Kerry mehr gefordert als von einem Präsidenten Bush. Das mag unangenehm sein. Die Position des meist passiven kritischen Beobachters ist zwar kurzfristig bequem. Langfristig aber kann es nur von Vorteil für die EU sein, wenn sie wieder eingeladen wird, bei der Weltpolitik mitzuspielen.

Schließlich wäre ein Europa-Bewusstsein, das sich vornehmlich antiamerikanisch konstituiert, von Übel. Trotz allem besitzen Europa und Amerika noch genügend gemeinsame Interessen und Werte – die gerade in gefährlichen Umbruchszeiten wie diesen wichtig sind. Eine weitere Vertiefung der transatlantischen Kluft würde die Welt nicht sicherer machen. Im Gegenteil.

Niemand muss von John Kerry begeistert sein. Und Differenzieren schadet nie. Dennoch ist – die vergangenen vier Jahre Bush und den heurigen Wahlkampf im Blick – mit aller Nüchternheit festzustellen: Die Wahl zwischen George W. Bush und seinem Herausforderer ist eine Wahl zwischen Obskurantismus und Vernunft und – ja, doch – zwischen Barbarei und Zivilisation.