Forschung: Die spektakulärsten Erkenntnisse und kuriosesten Pannen

Die spektakulärsten Erkenntnisse und kuriosesten Pannen des Jahres 2009

Das Magazin "Science" kürte die bahnbrechenden Entdeckungen 2009

Drucken

Schriftgröße

Gottfried Derka

Wissenschafter sind ein eigenwilliges Volk. Sie stellen sich Fragen, deren Beantwortung auf den ersten Blick völlig unnötig erscheint. Und dann investieren sie ihr Talent, ihren Fleiß, Jahre ihres Lebens, vielleicht sogar ihre Gesundheit, um diese selbst gestellte Aufgabe zu lösen.

Zum Beispiel der Japaner Gen Suwa. Seit Wochen schon rutschte der Student der Paläoanthropologie auf Knien und Ellenbogen über den staubigen Sandboden der unwirtlichen Afar-Wüste im nordöstlichen Äthiopien, um Überreste von urzeitlichen Lebewesen zu finden. Damit ihm die Tropensonne nicht den Nacken verbrennt, trägt er ein schulterlanges Tuch unter seinem Hut. Und damit ihn die zumeist bewaffneten und manchmal unfreundlichen Bewohner der Gegend in Ruhe lassen, beschützen ihn Polizisten mit lässig umgehängten AK-47-Gewehren.

Am 17. Dezember 1992 stößt Suwa schließlich auf einen Krümel, den Laien für einen ausgetrockneten Lehmbatzen halten würden. Der Student aber erkennt nach eigenen Angaben sofort: Das ist der Backenzahn eines menschenähnlichen Wesens, das hier vor Jahrmillionen gelebt haben muss.

In den folgenden Tagen, Wochen und Jahren rutschen Suwa und seine Kollegen über jeden Quadratmeter der näheren Umgebung. Sie entdecken, dass ihnen die Erosion hier ein Fenster in die früheste Vorzeit der menschlichen Evolution aufgestoßen hat: Sie robben über ein Stück Erde, das Hominiden vor mehr als vier Millionen Jahren betreten haben, das später durch Ablagerungen überdeckt und konserviert, jetzt aber durch Wind und Wetter wieder freigelegt worden ist. Sie finden weitere Zähne, dann Knochenbruchstücke einer Hand, noch später von einem Becken und schließlich sogar von einem Schädel.

17 Jahre lang, bis in den Oktober des heurigen Jahres, brauchten insgesamt 42 Wissenschafter, um sämtliche Teile zu einem stimmigen Bild der Ahnin, einer nur 120 Zentimeter großen und 50 Kilogramm leichten Hominidendame, zusammenzusetzen. „Ardi“, so der Spitzname des Vormenschen, hat vor 4,4 Millionen Jahren gelebt und ist damit die älteste Vorfahrin des Menschen.

Spätestens seit der Vorwoche wissen Gen Suwa und seine Kollegen, dass sich der Knochenjob gelohnt hat. Das einflussreiche amerikanische Wissenschaftsmagazin „Science“ kürte ihre Arbeit nämlich zum „Durchbruch des Jahres 2009“. Keine andere wissenschaftliche Leistung des abgelaufenen Jahres hat nach Ansicht der Juroren die Menschheit so bereichert wie die Rekonstruktion des Hominiden. Dieses Prädikat – im Branchenjargon bloß „Boy“ genannt, für „Breakthrough of the Year“ – ist für Wissenschafter der Ritterschlag, eine Auszeichnung, die sich hervorragend im Lebenslauf macht und die gerne erwähnt wird, wenn Forschungsmittel eingeworben werden sollen. Neben dem größten Durchbruch listet „Science“ weitere neun Meilensteine der Wissenschaft auf.

Das Ungewöhnliche am „Boy“ ist die Arbeitsweise der Jury: Die Mitarbeiter von „Science“, die im Lauf des Jahres die zur Veröffentlichung ausgewählten Arbeiten der Wissenschafter mit eigenen Bewertungen und Kommentaren versehen, setzen sich im Dezember zusammen und überlegen. „Wir suchen nach Arbeiten, in denen die großen Fragen über unser Universum beantwortet werden und die den Weg frei machen für weitere Entdeckungen“, so der verantwortliche „Science“-Redakteur Robert Coontz. Es gewinnt also derjenige, der mit seiner Arbeit die menschliche Neugierde am besten befriedigt oder das Publikum am besten unterhalten hat.

Ob die präsentierten Resultate auch nur den geringsten wirtschaftlichen Nutzen haben, ist dagegen irrelevant. „Science“ feiert die reine Grundlagenwissenschaft und – indem es sich selbst zum obersten Juror der Forscherzunft macht – auch ein bisschen sich selbst. So kommt Jahr für Jahr eine lesenswerte Top-Ten-Liste von aktuellen Erkenntnissen zustande, die überliefertes Schulwissen als falsch entlarvt, verblüfft, erheitert oder ein Schlaglicht auf Forschungsgebiete wirft, von deren bloßer Existenz Außenstehende keine Ahnung hatten.

Zum Beispiel die Pflanzen-Hormonforschung. Auch Grünzeug, so das erste Aha-Erlebnis, reguliert sein Wachstum durch Botenstoffe. Doch was passiert, wenn Pflanzen nach einer Dürrephase Wasser bekommen und rasch zu wachsen beginnen? Das Startsignal, so viel war bisher schon bekannt, übermittelt ein Wirkstoff namens ABA. Was der in den Pflanzen allerdings bewirkt, war unklar. „Das Forschungsfeld war ein Chaos“, analysieren die „Science“-Juroren. Nun aber kam das, was sie einen Durchbruch nennen: Als Empfänger für das ABA-Signal konnten deutsche und amerikanische Forscher Proteinstrukturen auf der Zelloberfläche mit der Bezeichnung PYR/PYL/RCAR identifizieren. Wieder hatte das Universum eines seiner Rätsel preisgeben müssen. Noch dazu kein unwesentliches. Denn wie sich mittlerweile herausstellte, existiert die ABA-PYR/PYL/RCAR-Kommunikationsschiene in unzähligen Pflanzenarten. Möglich, dass die Forscher mit ihrem neuen Wissen dereinst widerstandsfähigere Pflanzen züchten können.

Spektakulärer – wenn auch vergleichsweise zweckfrei – ist ein weiteres Ereignis, das die „Science“-Jury als „Durchbruch“ feiert: die Renovierung des Weltraumteleskops Hubble. Im Mai absolvierten Spaceshuttle-Astronauten insgesamt elf, teils riskante Außenbord-Einsätze, um die Bildqualität des 19 Jahre alten und arg ramponierten Observatoriums nachzuschärfen. Sie reparierten alte und montierten neue Sensoren, sodass Hubble jetzt noch spektakulärere Einblicke in die hintersten Winkel des Universums liefert. Stolz präsentierte die Hubble-Bodenmannschaft im September Aufnahmen etwa des Schmetterlings-Nebels sowie der Spiralgalaxie M83. Aus den Bildern wollen die Wissenschafter neue Aufschlüsse über die Entstehung von Sternen im Zentrum von Galaxien herauslesen.

Wichtiger als die von „Science“ so gelobten neuen Bilder ist jedoch der Symbolwert der Aktion: Die NASA hatte bereits geplant, das schlingernde Teleskop aus seinem Orbit zu holen und im Ozean zu versenken. Lobbyisten der Flug- und Raumfahrtindustrie drängen zu stets neuen, teureren Missionen, die billige Service-Mission war auf dem Weg dorthin ein Stolperstein. Dass sich im Gezerre um das schrumpfende NASA-Budget dann doch die vergleichsweise schwache Fraktion der Wissenschafter durchgesetzt hat, gilt unter Beobachtern als Sensation für sich.

Lebensverlängerung. Mehr Einfluss auf das menschliche Leben könnten zwei „Durchbrüche“ aus den Labors der Bio-Mediziner haben.

Erstmals haben US-Forscher im vergangenen Jahr nachgewiesen, dass der Wirkstoff Rampamycin tatsächlich das Leben von Säugetieren verlängern kann. Zum Beweis hatten sie Mäuse mit der Substanz gefüttert, die bereits 600 Tage alt waren. Diese Tiere gelten als vergleichbar mit rund 60 Jahre alten Menschen. Wie sich zeigte, stieg die Lebenserwartung der Nager um neun bis 14 Prozent. Dabei schienen die Tiere einen völlig artgemäßen Lebensabend zu verbringen: Sie erkrankten an den üblichen Mauskrankheiten und starben schließlich auch daran – nur eben erst ein wenig später. Deshalb ist bisher auch völlig unklar, wie die Substanz wirkt. Die ersten Einsichten bringen mehr neue Fragen als Antworten. Denn es stellte sich heraus, dass Rampamycin ganz grundlegende Prozesse wie die Protein-Synthese oder die Zellteilung beeinflusst.

Dass es die Rampamycin-Pille zur Lebensverlängerung nicht zum „Boy“-Jahressieger geschafft hat, liegt an ihrer Nebenwirkung: Sie stört das Immunsystem. Für Labormäuse ist das kein großes Problem, für Menschen in freier Wildbahn dagegen schon. Daher werde es wohl so bald kein praktikables Medikament geben, meint die „Science“-Jury. Der jetzt erbrachte Wirkungsbeweis könnte aber neue Forschungsansätze eröffnen.

Die Gentherapie erlebt eine zaghafte Renaissance. Seit Forscher vor 20 Jahren erstmals versucht hatten, mutierte, krank machende Gene im Körper von Patienten durch normale Gene zu ersetzen, hagelte es vor allem Rückschläge. Als im September 1999 der achtzehnjährige Proband Jesse Gelsinger völlig unerwartet an den Folgen eines gentherapeutischen Experiments verstarb, verließen viele Wissenschafter das zuvor gehypte Forschungsfeld.

Doch im vergangenen Jahr meldeten gleich mehrere Forschergruppen viel versprechende Erfolge: Amerikanische und britische Wissenschafter konnten Kindern mit einer bestimmten Form von ererbter Sehbehinderung helfen. Per Virus eingeschleuste Gene sorgen im Auge für die Herstellung eines fehlenden Enzyms. Bei allen zwölf Probanden brachte die Therapie eine Verbesserung der Wahrnehmung. Vier der Kinder können heute sogar bei Ballspielen mitmachen.

Ermutigend klingt auch die Arbeit französischer Forscher zur Behandlung des Gehirnleidens Adrenoleukodystrophie (ALD). Die Mediziner konnten die schleichende Verschlimmerung der Krankheit bei zwei Buben stoppen. Dazu nutzten sie unschädlich gemachte HI-Viren als Gentransporteure. Und italienische Ärzte berichteten von zehn Patienten, die unter einem so genannten schweren kombinierten Immundefekt gelitten hatten. Acht von ihnen leben dank Gentherapie heute ein völlig normales Leben. Noch bis Mitte der achtziger Jahre war versucht worden, Patienten mit dieser Krankheit in transparenten aufgeblasenen Plastikhüllen vor jeglicher Infektion zu bewahren.

Erstmals verzichtet hat „Science“ heuer übrigens auf die Nominierung eines „Breakdown of the Year“. Im Vorjahr hatte die Jury den Finanzcrash und seine Folgen für die Wissenschaft als größte Niederlage eingestuft. Heuer kürte sie stattdessen den Erreger der Schweinegrippe zum „Virus des Jahres“.

Auch sonst hält sich das Magazin mit Häme zurück. So wird der „Science“-Leser in dem Jahresrückblick etwa nicht daran erinnert, dass die NASA immer noch verzweifelt versucht, ihr Marsmobil „Spirit“ wieder flottzubekommen. Bei einem unbedachten Manöver haben Techniker das ferngesteuerte Vehikel nämlich in einen Sandhaufen gelenkt, wo es seither festsitzt.

Und selbst das größte Physik-Experiment des Europäischen Kernforschungszentrums CERN ist nicht vor Pannen gefeit: Kurz bevor die Wissenschafter den mehr als drei Milliarden Euro teuren Teilchenbeschleuniger nahe Genf hochfahren wollten, gingen die Lichter aus. Auslöser der Panne war ein Vogel, der ein Stück Baguette auf die Stromversorgung fallen gelassen und damit einen Kurzschluss verursacht hatte.

Auch die Arbeit des Knochenjägers Gen Suwa war delikat.
Einige der gefundenen Überreste waren so stark verwittert, dass sie bei bloßer Berührung zu Staub zerbröselten. Also gruben die Forscher sie mitsamt der umgebenden Erde aus und brachten die Klumpen ins Labor, um hier unter dem Mikroskop die Knochen aus der Krume zu lösen. Über den Schädel, so mutmaßen die Wissenschafter, muss schon vor Jahrmillionen ein Nilpferd-Vorfahr getrampelt sein, so übel sind die Überreste zugerichtet. Um sich dennoch ein Bild von Ardi machen zu können, scannten die Forscher alle 65 gefundenen Bruchstücke mit einem Computertomografen und puzzelten den Schädel am Computer zusammen. Gen Suwa brauchte neun Jahre, um diese Technik zu beherrschen, und 1000 Arbeitsstunden, um Ardis Schädel zu rekonstruieren. Erst sein zehnter Versuch überzeugte ihn selbst.

Die Forscher fanden aber auch verstreute Überreste von Ardis männlichen Zeitgenossen. Auffallend dabei sind die relativ kleinen Zähne. Offensichtlich, so die Schlussfolgerung, mussten die Hominiden ihre Partnerinnen nicht mithilfe eines Raubtiergebisses vor zudringlichen Verehrern bewahren. Stattdessen brachten sie ihnen Nahrung – dank ihres aufrechten Gangs hatten sie dazu ja die Hände frei. Hört, hört: Jetzt glauben die Wissenschafter gar, dass die Vormenschen den aufrechten Gang nur entwickelten, um ihr Sexualleben zu regulieren.