Die Eroberung des Paradieses

Die Südküste der Türkei gibt sich schon europäisch

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Jetzt fehlt nur noch einer. Mehrere hundert Menschen haben sich im exklusiven, von Golfplätzen gesäumten Touristen-Ort Belek 30 Kilometer östlich von Antalya an der türkischen Südküste eingefunden. Religiöse Würdenträger unterschiedlicher Glaubensrichtungen, türkische Politiker, europäische Diplomaten und internationale Journalisten sitzen auf geschmückten Stühlen, die bäuerliche Bevölkerung aus der nahen Umgebung drängt sich hinter einer Absperrung in der milden Dezembersonne. Anlass der Versammlung vom vergangenen Mittwoch: Im Ferienzentrum Belek soll der „Garten der Religionen“ eröffnet werden, mit einer Moschee, einer Kirche und einer Synagoge Seite an Seite auf demselben Areal – und nur der Platz von Recep Tayyip Erdogan, dem türkischen Premierminister, ist noch frei.

Als Erdogan endlich aus einer Limousine steigt, sorgen Chor und Orchester der „Antalya State Ballet Organization“ für einen triumphalen Einmarsch: Über enorme Lautsprecher verstärkt wird die Titelmusik von „Die Eroberung des Paradieses“, des Hollywood-Epos über Christoph Kolumbus, auf das Publikum geworfen.

Das Paradies, das Erdogan erobern will, ist die EU. Wenige Tage vor der Entscheidung des Europäischen Rates, ob Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet werden sollen, hat die türkische Regierung noch eine Charmeoffensive gestartet. Mit der Eröffnung der drei niedlich kleinen Gotteshäuser, die vom großen Erdogan-Porträt daneben locker überragt werden, soll publikumswirksam der Vorwurf entkräftet werden, dass in der Türkei religiöse Minderheiten neben dem sunnitischen Islam keinen Platz haben. Erdogan, der als letzter von vielen Rednern das Pult erklimmt – diesmal zu den Klängen der EU-Hymne „Ode an die Freude“ –, predigt laut und vehement die Toleranz, und zwar allen Religionen und Menschen, ja sogar allen Tieren und Pflanzen gegenüber! Und als der beliebte Premier die Türkei als leuchtendes Beispiel für das friedliche Zusammenleben der Kulturen anpreist, bekommt so manche der Zuhörerinnen hinter der Absperrung feuchte Augen. Die Türkei ist europareif, ja Europa kann sogar von der Türkei lernen, lautet Erdogans Message.

Misstöne. Nur Alphonse Sammut, der weißhaarige Gesandte des Vatikans, stört die Festtagsstimmung ein wenig: „Es ist ein Meilenstein, dass in der Türkei die erste neue Kirche seit 80 Jahren errichtet wurde. Aber das war eine private Initiative, die dem Tourismus dienen soll!“ Türkische Christen würden vom Staat hingegen noch immer behindert werden, ärgert er sich. So wie vergangene Woche in Demre.

In Demre, 180 Kilometer südwestlich von Belek, grüßt Santa Claus schon an der Ortseinfahrt von einem Schild. Das verschlafene Städtchen zwischen Meer und Bergen ist wie die Orte der Umgebung vom Obst- und Gemüseanbau geprägt: Prächtige Orangenhaine stehen in jeder Straße, zwischen und hinter den Häusern drängen sich zahllose Gewächshäuser mit Tomaten, Gurken und Melanzani. Was Demre jedoch auszeichnet, ist die Tatsache, dass hier im 3. Jahrhundert – Demre hieß damals Myra – ein gewisser Bischof Nikolaus seinen Sitz hatte – auch als „heiliger Nikolaus“ oder „Santa Claus“ bekannt.

In den letzten Jahren fand in Demre von 6. bis 8. Dezember stets das Santa-Claus-Festival statt, inklusive Rentierschau und Weihnachtsmännern aus aller Welt. Doch heuer haben die türkischen Behörden die Touristenattraktion wegen eines Konflikts mit dem ökumenischen Patriarchen der orthodoxen Kirche, Bartolomaios I., der sein Kommen angekündigt hatte, kurzerhand abgesagt. (In der orthodoxen Kirche gilt Nikolaus als Schutzheiliger der Seefahrer und Reisenden.) Und so bleibt alles leer: die Nikolaus-Kirche mit Nikolaus-Denkmal, die gerade restauriert wird, das Nikolaus-Restaurant, die Nikolaus-Pension und der Nikolaus-Parkplatz. Auch ins Nikolaus-Teppichdorf verirrt sich kein Kunde.

Gefeilsche. Serkan Toprak, der 25-jährige Inhaber des „Saint Nicholas Carpet Village“ gleich neben dem antiken Amphitheater von Myra, steht an seinem Gartentor, hinter ihm hängen bunte türkische Teppiche. „Ich habe dieses Geschäft – mein drittes – erst vor kurzem eröffnet. Deswegen habe ich noch keine Nikolaus-Teppiche“, lacht er. Serkan ist schon im Teppich-Business, seit er als Achtjähriger für die Kunden seines Vaters in Antalya Kelims entrollte und Tee servierte. Seiner Meinung nach sind die Küstengebiete und die großen Städte der Türkei schon jetzt EU-reif. Nur auf dem Land gebe es noch Nachholbedarf. Serkans große Hoffnung: „Wenn wir der EU beitreten, gibt es hoffentlich endlich fixe Preise. Ich mag das ständige Feilschen nicht“, offenbart er. „Viele Teppichhändler verlangen absurd hohe Summen. Ich finde das unfair.“ Außerdem erwartet er, dass das Reisen durch den EU-Beitritt endlich einfacher wird. Serkan war schon einmal in Europa – in der EU-Hauptstadt Brüssel, Teppiche verkaufen. „Ich habe gute Geschäfte gemacht, aber ich würde nicht in Europa leben wollen. Das Essen und das Wetter sind hier besser“, lächelt er und zieht die Nase hoch. Der sonnige türkische Winter hat ihm eine Verkühlung beschert.

Gestrandete. Dzihan und Kemal sitzen auf einer Mauer über dem nächtlichen Hafen von Antalya, der größten Stadt der Region, und trinken Bier. Die beiden jungen Männer würden viel dafür geben, wieder in der EU leben zu dürfen. Sie sind aus dem Paradies verstoßen worden. Jetzt versuchen sie tagsüber im Bazar der gepflegten Altstadt den vorbeikommenden Touristen Souvenirs aufzuschwatzen – was bei Deutschen ziemlich gut funktioniert, denn beide haben lange Zeit in Deutschland gelebt.

Dzihan wurde vor 27 Jahren in Düsseldorf geboren. Der gut aussehende Kinnbartträger – nur die abgebrochenen Schneidezähne stören sein Erscheinungsbild – spricht ein gepflegtes Deutsch. Vor fünf Jahren wurde Dzihan in die Türkei abgeschoben, davor saß er vier Jahre in einem deutschen Gefängnis, wegen Drogendelikten, die er nicht näher erklären will. Sein Freund Kemal aus Bielefeld hat ein ähnliches Schicksal „Ich hasse die Türkei. In Deutschland war ich ein Kanake, und hier bin ich schon wieder ein Ausländer“, sagt Dzihan niedergeschlagen. In die EU einreisen darf er nicht mehr – obwohl seine Frau, seine achtjährige Tochter und sein fünfjähriger Sohn, den er noch nie gesehen hat, dort leben. Nur ein baldiger EU-Beitritt der Türkei, denkt Dzihan, könnte ihm helfen: „Aber das dauert ja auch noch zehn oder 15 Jahre. Bis dahin sind meine Kinder erwachsen.“