Die Evolution des Verstandes

Die Evolution des Verstandes: Überraschende Gemeinsamkeit zwischen Mensch & Tier

Gemeinsamkeit zwischen Mensch & Tier

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Die Räuber kamen nach Mitternacht. Sie schlugen meist zwischen ein und drei Uhr morgens zu, und es handelte sich um Serientäter. Allerdings stahlen die Diebe bloß Essensreste, zu matschigem Abfall deformiert und achtlos in Mülltonnen gestopft. Es waren nicht menschliche Verbrecher am Werk, sondern Delinquenten namens „Nestor notabilis“, auch Keas genannt. Der Kea ist eine in Neuseeland heimische Papageienart mit olivgrünem Gefieder.
In Neuseeland kursieren viele Anekdoten über die Intelligenz dieser Papageien. So heißt es, einer der Vögel habe Urlauber in ihrer Berghütte eingesperrt. Nachdem er nur lange genug beobachtet habe, wie die Menschen das Türschloss betätigten, habe er es mit dem Schnabel verriegelt.

Der Bericht über die Mülltonnenräuber ist indes keine Anekdote mehr: Die gefiederten Diebe wurden inzwischen eingehend observiert. Im Hinterhof eines Hotels im neuseeländischen Mount Cook Village brachte Gyula Gajdon gleich in der Nähe des Küchenausgangs bei den Mistkübeln seine Videokamera in Stellung. Nacht für Nacht filmte der Wiener Kognitionsforscher die Beutezüge der Papageien. Dabei sah er, wie es einigen der bloß 45 Zentimeter hohen Keas gelang, die 120 Liter fassenden Mülltonnen zu öffnen: Zunächst hoben sie den Deckel mit dem Schnabel an, hielten ihn fest, tasteten sich dann am Rand der Tonne entlang in Richtung der Scharniere, bis die Hebelwirkung ausreichte, um den Deckel in die Senkrechte zu hieven und nach hinten kippen zu lassen. „Der Kea ist einer der klügs­ten Vögel überhaupt“, schwärmt Gajdon.

Auf der anderen Seite des Globus, am Biozentrum im neunten Wiener Bezirk, bilden diese Beobachtungen samt einer Reihe weiterer Studien einen Eckpfeiler eines ambitionierten Forschungsprojekts: „The Evolution of Cognition“ (die Evolution des Verstandes) lautet dessen Titel, und Ziel ist eine Antwort auf die Frage, welche Faktoren die kognitive Entwicklung prägen und vorantreiben. „Wir untersuchen, welche evolutionären Prozesse die Gehirnfunktionen geformt haben“, sagt Ludwig Huber, Professor am Department für Neurobiologie und Kognitionsforschung der Universität Wien. Huber und seine Kollegen verstehen sich als Kognitionsbiologen – Vertreter einer noch jungen Disziplin, die Wahrnehmung, Denken, soziales Lernen und Kommunikation umfasst. Um deren wachsender Bedeutung gerecht zu werden, wurde an der Uni Wien im Vorjahr ein eigenes Masterstudium etabliert, das kognitive „Mechanismen bei Tieren und Menschen“ sowie „Zusammenhänge von Genetik und Umwelt, von Natur und Kultur, von Evolution und Ethik“ erhellen soll. Internationale Experten wie der in Leipzig tätige Kognitionswissenschafter Tecumseh Fitch prognostizieren dem Fach „beispiellose Fortschritte bei der Einsicht in die biologischen Grundlagen des menschlichen Kognitionsvermögens“, wobei der „Tier-Mensch-Vergleich zunehmend eine bedeutende Rolle spielen“ werde.

Typisch menschlich. Immerhin werden im Tierreich ständig kognitive Fertigkeiten konstatiert, die man bislang nur dem Homo sapiens zugestand. Bei Affen zum Beispiel wollen Forscher der Kyoto Univer­sity Ende des Vorjahres entdeckt haben, dass sie bei Rechenübungen dem Menschen nicht nur ebenbürtig sind, sondern ihn teils sogar schlagen. Junge Schimpansen merken sich Reihenfolgen der Ziffern eins bis neun teils präziser als eine Studentengruppe – vermutlich mittels einer Art von fotografischem Gedächtnis. An Ratten wollen Psychologen sogar Ansätze von Selbstzweifel bemerkt haben. Bei bestimmten Aufgaben zögerten die Tiere mit dem Versuch einer Problemlösung, obwohl sie sich dadurch um die Belohnung brachten. Doch ganz offensichtlich trauten sich die Tiere die Herausforderung nicht zu. Dieses Bewusstsein um das eigene Können respektive Unvermögen wird „Metakognition“ genannt. Schimpansen attestieren Forscher des Leip­ziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie wiederum altruistische Neigungen. Und erst vergangene Woche ließ der Frankfurter Psychologe Helmut Prior mit der Beobachtung aufhorchen, dass Elstern ihr Spiegelbild erkennen – dies deute auf eine Art Ich-Bewusstsein hin, und ein solches war bisher außer dem Menschen bestenfall einigen Primaten ansatzweise konzediert worden.

Komplexer Geist. Den traditionellen Vorstellungen vom weit auseinanderklaffenden Verstandesniveau von Tieren und Menschen widerspricht all dies deutlich. So war zwar unumstritten, dass Tiere ein gewisses Erinnerungsvermögen besitzen – etwa um den Geruch genießbarer Nahrung im Gehirn zu speichern oder jenen von Feinden. Doch um wie viel komplexer wurde der humane Geist eingeschätzt: Eines der klassischen Modelle des menschlichen Gedächtnisses geht von fünf mentalen Stufen aus, die wir im Lauf des Lebens erklimmen – vom prozeduralen Gedächtnis, das motorische Tätigkeiten wie Radfahren erlaubt, über das so genannte „Priming“, die Wiedererkennung bekannter Reize, bis zum episodisch-biografischen Gedächtnis, das Erinnerung und Selbstgefühl ermöglicht.

Weil nun jedoch unter Affen oder Vögeln ständig kognitive Kompetenzen entdeckt werden, die nach gängiger Vorstellung auf den Menschen beschränkt sein müssten, geraten Experten immer öfter darüber ins Grübeln, was überhaupt noch exklusiv menschlich sein mag. „Ist unser Gedächtnis, das uns zu selbstbewussten Menschen macht, vergleichbar mit jenem von Tieren?“, fragte der renommierte Bielefelder Hirnforscher Hans Markowitsch im Vorjahr beim Forum Alpbach. „Und wie hat sich das Gedächtnis im Lauf der Evolution entwickelt?“ Genau darauf zielt die Arbeit von Ludwig Huber und seinem Team ab. Es geht aber nicht darum, die Unterschiede zwischen Mensch und Tier wegzudeuten, vielmehr lautet die Frage: Existiert eine gemeinsame Basis, ein gemeinsamer Nenner für den Verstand im Allgemeinen, ein evolutionäres Fundament für das Phänomen Kognition quer durch die Spezies?

Freilich gibt es darauf noch längst keine erschöpfenden Antworten, und in vielen Bereichen stehen die Forschungen noch am Beginn. Zugleich allerdings können Huber und seine Kollegen bereits eindrucksvolle Arbeiten vorlegen – und dürfen für sich in Anspruch nehmen, zu den internationalen Pionieren auf diesem Feld zu zählen. Mit dem legendären Vorreiter der vergleichenden Verhaltensforschung, dem vor fast zwei Jahrzehnten verstorbenen Konrad Lorenz, hat das Selbstverständnis der modernen Kognitionsbiologen wenig gemein: Huber und seine Mitarbeiter führen aufwändige und von Video- sowie Computertechnik unterstützte Experimente mit größeren Gruppen von Tieren durch und unterhalten zudem eine Reihe von Kooperationen.

Dazu zählen das Department für Ethologie der brasilianischen University of Recife, das Department of Psychology der Keio University in Tokio und die Experten der Konrad Lorenz Forschungsstelle im oberösterreichischen Grünau, die sich etwa für Phänomene der sozialen Intelligenz interessieren. Weiters arbeiten die Wiener mit dem University College London, der Hungarian Academy of Sciences und dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften am Projekt „Evolution, Development and Intentional Control of Imitation“. Eine der zentralen Fragen: Ist die Begabung zur Imitation – also der für viele Verstandesprozesse wichtigen Fähigkeit, Handlungen anderer nachzuahmen – genetisch vorbestimmt, oder basiert sie auf einem Mix aus erblichen, erlernten und kulturellen Faktoren?

Soziale Einflüsse. Im Gegensatz zu der Auffassung, wonach die Verstandesentwicklung einem genetisch weitgehend fixierten Drehbuch folgt, glauben Huber und seine Kollegen, dass soziale Einflüsse der Umwelt die Verstandesleistung wesentlich mitgestalten – dass Klugheit also nicht zuletzt vom sozialen und intellektuellen Reichtum der Umgebung abhängt. Und für diese These gibt es mittlerweile einige handfeste Belege.

Das Konrad Lorenz Institut für Ethologie befindet sich auf dem Wilhelminenberg im 16. Wiener Bezirk, inmitten des Wienerwaldes. Aus Gyula Gajdons Büro führt eine Tür über ein kurzes Hangstück zu drei geräumigen Volieren, in denen 23 Keas leben. Die Haltung der Papageien hat hier eine lange Tradition – wie auch die Erforschung ihrer kognitiven Talente: Sämtliche bisherigen Studien über deren Intelligenz stammen aus Wien.
Im Verlauf eines Jahrzehnts führten die Wiener Forscher zahlreiche Experimente mit ihren Keas durch. Für eines davon mussten die Vögel mit dem Schnabel ein mit Butter befülltes Plastikröhrchen einen Holzstab entlangschieben und über dessen Spitze purzeln lassen. Bei einem anderen Test fanden die Keas zwei Seile vor, mitunter über Kreuz angeordnet, die von einem Pfosten herabhingen. An einem davon war ein Behälter mit Futter festgezurrt. Würden die Tiere verstehen, an welchem Seil sie ziehen mussten, um ihre Belohnung zu ergattern? Die Lösung dieses Problems verlangt bis zu einem gewissen Grad das Verständnis kausaler Zusammenhänge. Um wiederum den Deckel einer großen Holzkiste zu öffnen, musste man zunächst einen Splint lösen, dann einen Metallbolzen herausziehen und schließlich noch eine Schraube aus dem Gewinde drehen.

Die eindeutigsten Ergebnisse erbrachten die Seilziehtests: Binnen weniger Sekunden wussten die Keas, an welcher Schnur sie zerren mussten, um an das Futter zu gelangen. Aus dem Experiment, bei welchem die Keas den komplexen Verschluss der Kiste öffnen sollten, folgerten die Forscher, dass so genanntes soziales Lernen eine Rolle spielte: Besonders vif stellten sich die Vögel beim Bearbeiten von Bolzen, Splint und Schraube an, wenn sie zuerst einen trainierten Artgenossen beobachten konnten. Eine ähnliche Interpretation erlaubte – zunächst jedenfalls – der Test, bei dem die Papageien das Röhrchen über den Holzstab schieben sollten: Die Keas meisterten die Aufgabe bravourös.

Als Gajdon denselben Versuch jedoch mit frei lebenden Tieren in Neuseeland durchführte, schnitten diese miserabel ab. Nur zwei von mehr als einem Dutzend Keas lösten das Problem. Und von anderen Keas lernten sie rein gar nichts. Die Filmaufnahmen der Mistkübelräuber in Mount Cook Village zeigten Ähnliches: Unermüdlich und unbeeindruckt von Miss­erfolgen, probierten die Vögel, die wuchtigen Deckel hochzuhieven. Doch nur eine Minderheit schaffte es – diese aber mit beeindruckender Raffinesse. Eine mögliche Erklärung: Anders als bei Primaten dürfte soziales Lernen doch nicht die wichtigste Erkenntnisquelle für Keas sein. Das Geheimnis ihrer Intelligenz könnte indes in für sie typischen Eigenschaften liegen: in Neugierde, Spielfreude, hoher Motivation und großer Frustrationstoleranz, zugleich geringer Scheu vor Neuem und Unbekanntem. Diese Mischung von Wesensmerkmalen, glaubt ­Gajdon, führt zur Ausbildung von einer Art mentalem Motor, der die Entwicklung von Intelligenz antreibt. Und dieser Motor sei Innovationskraft, angetrieben von ­Beharrlichkeit, Ausdauer und der Lust am Experimentieren.

Motor der Klugheit. Aufgrund der Kea-Studien darf nun vermutet werden, dass die Evolution augenscheinlich nicht nur einen Weg kennt, ihren Geschöpfen Verstand zu verleihen. „Die Selektion bevorteilt jegliche Mechanismen, die sich in einer bestimmten Umwelt als vorteilhaft erwiesen haben. Hohe Frustrationstoleranz und außergewöhnliche Erkundungsmotivation haben sich für den Kea bewährt“, sagt Gajdon, der beachtlich findet, dass manche dieser Mechanismen bei Keas und menschlichen Kindern sehr ähnlich sein dürften: So könnte die vielfach beobachtete Neigung der Keas, Objekte mit dem Schnabel in Erdlöcher oder kleine Behälter zu stopfen, der Hingabe von Kleinkindern entsprechen, mit der diese Bauklötzchen ineinander stecken – hinter beiden Handlungen dürfte ein gleichsam naturgegebener Forscher- und Entdeckertrieb stehen. Und beide, Kinder wie Keas, haben praktisch keine natürlichen Feinde, die sie beim Ausleben dieses Dranges ernsthaft gefährden könnten.

Zudem durchleben Keas fast dieselben Phasen kognitiver Niveausteigerungen wie Kinder. Die Erklärungen der Psychologie „zur frühen kognitiven Entwicklung des Kleinkindes passen geradezu ins Auge springend zum Kea“, findet Gajdon. So gilt aufgrund eines Modells des Schweizer Psychologen Jean Piaget das Postulat, dass Menschen ab sieben bis zehn Monaten zu so genannter „Objektpermanenz“ fähig sind: Da wissen sie, dass Dinge nicht aufhören zu existieren, wenn sie vorübergehend nicht sichtbar sind. Keas erlangen diese Stufe mit ungefähr acht Monaten.

Auch warum manche Probleme für Keas in freier Wildbahn unlösbar waren, während ihre in Wien lebenden Artgenossen diese locker bewältigten, scheint nun geklärt. Des Rätsels Lösung könnte darin bestehen, dass die am Wilhelminenberg gehaltenen Papageien in einem Umfeld leben, das besonders dazu angetan ist, den Verstand zu schärfen: Hier gibt es jede Menge Spielsachen, und es gibt die Forschergruppe, welche die Keas mit vielen Objekten und Aufgaben konfrontiert und ihren Verstand ständig aufs Neue auf die Probe stellt.

Genetisches Programm. Für Kea-Forscher Gyula Gajdon sind diese Beobachtungen ein Indiz dafür, dass „die kognitive Entwicklung in Gefangenschaft und Freiheit anders verläuft. Vielleicht ist es falsch zu sagen, Kognition ist bloß ein Reifungsprozess, bei dem der Organismus ein Programm abspult.“ Mit anderen Worten: Die jeweilige Umwelt sowie die intellektuelle Aktivität eines Individuums in dieser könnten entscheidenden Einfluss auf die Prägung des Verstandes haben. Ende April berichtete ein Team von Schweizer und US-Psychologen von vergleichbaren Effekten bei Menschen: Die Experten stellten aufgrund spezieller Leis­tungstests die gängige Meinung infrage, wonach diffizile Fähigkeiten wie das Analysieren komplexer Aufgaben angeboren sind und kaum trainiert werden können – die mehrwöchigen Tests hätten Gegenteiliges gezeigt. Dabei hätten die Probanden nicht bloß aufgrund intensiver Übung an kognitiver Kompetenz zugelegt, sondern die generelle Begabung zur Problemlösung sei sukzessive gereift.

Die angeblich starre Macht der Genetik wurde jüngst auch in gänzlich anderem Zusammenhang relativiert. In den vergangenen Wochen gingen Befunde der so genannten Epigenetik durch die Medien, wonach das Lebensumfeld und individuelle Erfahrungen sogar Wirkung auf das Erbgut selbst haben könnten. So berichtete der kanadische Forscher Moshe Szyf im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, er habe eine Koinzidenz zwischen Missbrauch im Jugendalter und späterem Selbstmord gefunden, die auch im Erbgut ablesbar sei. Erlebnisse in der Kindheit würden das Gehirn „markieren“ und in späteren Jahren bestimmte Verhaltensweisen begünstigen. An Ratten war bereits zuvor Ähnliches festgestellt worden: Stress hatte bei Rattenbabys augenscheinlich ebenfalls die Funktion von Genen beeinträchtigt.

Vor freilich anderem Hintergrund beschäftigen die Kognitionsforschung ähnliche Fragen: Wie sehr prägen Lebensbedingungen den Verstand? Und zwar nicht nur jenen von Individuen, sondern auch jenen ganzer Spezies. Vor einigen Jahren wurde es beispielsweise als Sensation gewertet, dass Hunde Gesten verstehen, die zuvor als typisch menschlich erachtet wurden und auch Primaten nur sehr eingeschränkt entschlüsseln können: Zeigt der Mensch mit dem Finger auf ein Objekt oder bewegt er die Augen in dessen Richtung, wissen Hunde, was er ihnen damit sagen will. Noch erstaunlicher war die Erkenntnis, dass man ihnen dies nicht antrainieren muss: Selbst wenige Wochen alte Welpen verstehen diese Hinweise. Die mindestens 15.000 Jahre währende Partnerschaft von Mensch und Hund hat Letzterem offenbar gewisse kommunikative Kompetenzen ins Erbgut eingebrannt.

Sie heißen Augustina, Pooh, Yara, Fredo oder Nemo. Sie haben Knopfaugen, pelzige Ohren, wiegen rund 400 Gramm und sind knapp 30 Zentimeter groß. Die Forscher können dennoch jeden ihrer 23 Weißbüschelaffen beim Namen rufen, die in geräumigen, mit Ästen, Pflanzen und Seilen ausgestatteten Käfiganlagen am Wiener Biozentrum leben. An den Äffchen testen die Wissenschafter soziales Lernen und Imitation. „Unsere Frage ist: Was und wie lernen die Tiere voneinander?“, erklärt Tina Gunold, eine Doktorandin in der Forschergruppe. Man wolle am Beispiel der Affen aber auch „Einblicke in die evolutionären Ursprünge der menschlichen Fähigkeit für Lernen durch Nachahmung“ gewinnen, so Ludwig Huber.

Um Aktionen anderer zu imitieren, bedarf es neben entsprechenden kognitiven Fähigkeiten auch einer grundlegenden Voraussetzung: Aufmerksamkeit. Wer nicht aufpasst, was ein anderer tut, wird dessen Handlungen kaum nachahmen können – da hilft auch der klügste Kopf nicht. Die Wissenschafter ersannen eine Apparatur, in welcher ein Affe einen anderen durch ein Guckloch beim Suchen und Verzehren von Futter beobachten konnte. Wie lange würde die Konzentration des Zuschauers anhalten? An welchen Tätigkeiten seines Kompagnons wäre er wohl besonders interessiert? Ergebnis: Inspizierte der Beobachtete bloß sein Areal, war das mäßig spannend – ganz anders jedoch, wenn es darum ging, Futter zu ergattern und zu fressen. Da herrschte meist ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Äffchen waren also offenbar durchaus imstande, die wichtigen Sequenzen zu erkennen und ihre Konzentration auf diese zu fokussieren.

Inzwischen führten die Experten auch Vergleichsstudien mit Keas und Hunden durch. Von relativ geringen Abweichungen abgesehen glich deren Verhalten jenem der Weißbüschelaffen. „Diese Ähnlichkeit quer durch die Spezies könnte auf einen gemeinsamen Mechanismus im Gedächtnis hindeuten“, folgerten die Kognitionsbiologen – eine Art mentale Basis, die erst zu weiteren Verstandesleistungen befähigt.

Das „Clever Dog Lab“ im neunten Wiener Bezirk ist eine Außenstelle der Kog­nitionsbiologie. Ein gutes Dutzend Forscher und Studenten kümmert sich hier um die Abwicklung der Studien, zu denen Hundebesitzer mit ihren Tieren anreisen. Unter anderem ist die Grün-Abgeordnete Brigid Weinzinger regelmäßig mit ihren beiden Hunden zu Gast. Inmitten eines Raumes steht an diesem Morgen eine Holzkiste. An deren Seite befindet sich ein Griff, und wenn man diesen betätigt, öffnet sich der Deckel der Box – wodurch man sich eine in der Kiste deponierte Knabberei grapschen kann. Sinn des folgenden Tests ist die Untersuchung sozialen Lernens: Kapieren die Tiere das Prinzip des Hebeldrückens, wenn ihnen dies ein trainierter Artgenosse vorzeigt?
Guinness, die Bordercollie-Hündin von Versuchsleiterin Friederike Range, spielt die „Demonstratorin“: Auf das Kommando „Box“ läuft sie zur Kiste, drückt den Griff und trabt retour. Ein anderer Hund, der sechs Monate alte Mischling Pauli, sitzt in einer Zimmerecke und darf das Geschehen verfolgen. In vielen Tests dokumentierten die Forscher mittlerweile, dass nicht nur Menschen, sondern auch Hunde geschickte Nachahmer sind – anders übrigens als Primaten, die in manchen Fällen deutlich schlechter abschneiden und vor allem mit dem Menschen in sozialen Belangen nicht konkurrieren können. Im Herbst des Vorjahres veröffentlichten Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie eine aufwändige Vergleichsstudie zwischen Primaten und Kindern. Während die Affen den Kids sogar überlegen waren, wenn es etwa um das Aufspüren versteckten Futters ging, fielen die Ergebnisse genau umgekehrt aus, wenn die beiden Spezies Hinweisen wie Zeigegesten folgen sollten. Dies führte die Experten zur Vermutung, dass womöglich die Sozialkompetenz den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier ausmacht.

Selektive Imitation. Ein weiteres Experiment aus dem Wiener Clever Dog Lab stützt diese Annahme eher nicht: Dabei mussten Hunde an einer Kette ziehen, damit eine darüber befindliche Box eine Leckerei freigab. Der „Demonstrator“ war diesmal darauf trainiert, die Kette nicht mit der Schnauze, sondern mit den Pfoten zu betätigen. Und dies in zwei Varianten: Einmal hatte der Demonstrator-Hund einen Ball in der Schnauze, einmal war diese leer. Würden die Zuseher das Verhalten des Demonstrators originalgetreu kopieren und ebenfalls mit den Pfoten an der Kette ziehen? Oder wäre der Körperteil nachrangig, und sie würden das eigentliche Prinzip – Kette öffnet Box – durchschauen? Dann würden sie wohl, eigentlich typisch für Hunde, eher ihre Schnauze einsetzen.

Tatsächlich geschah Letzteres – und zwar in jenen Versuchen, in denen das Maul des Demonstrators mit dem Ball belegt war. Bei den Tests ohne Ball folgten die Hunde dagegen exakt dem Vorbild. Das Verblüffende daran: Genauso verhalten sich in vergleichbaren Situationen menschliche Kinder, und die Erklärung für dieses Phänomen lautet „selektive Imitation“. Gemeint ist damit, dass man ein Verhalten nicht undifferenziert nachahmt, sondern die zentralen Informationen herausfiltert und diese in adaptierter Form für eigene Zwecke nutzt. Man imitiert ein Prinzip, nicht lediglich die Motorik. „Unsere Daten enthüllen interessante Parallelen zwischen Hunden und menschlichen Kindern“, folgerten die Wiener Forscher.

Am Biozentrum halten die Wiener Kognitionsbiologen rund 70 Tauben. Von zimmerhohen Käfigen führen fünf Verbindungsgänge in einen Nebenraum und münden in so genannte Skinnerboxen – in Holzkisten, gerade so groß, dass eine Taube darin Platz findet. Die Skinnerboxen sind mit Touchscreen-Monitoren bestückt, auf welche die Forscher per Computer Fotos einspielen. Die Vögel sollen lernen, bestimmte Gruppen von Bildern zu erkennen und zu unterscheiden. Mit ihren Schnäbeln sollen sie auf das jeweils korrekte Bild pecken.

Was die Experten mit den Tauben untersuchen, heißt „Kategorisierung“. Dies bedeutet, dass man einzelne Objekte oder Komponenten als zusammengehörig erkennt. Sehen wir eine Nase oder ein Ohr, ist uns sofort klar, dass dies zur Entität „Mensch“ gehört. Kategorisierung ist eine Sortier- und Zuordnungsleistung des Gehirns, die zu den fundamentalsten Funktionen des Verstandes zählt – und lange dachte man, nur Menschen hätten diese Fähigkeit.

Die Forscher wollten wissen, ob auch ihre Tauben die Kategorie „Mensch“ kennen. Sie zeigten den Tieren Fotos mit Personen und, andererseits, Bilder mit Landschaften oder Straßenansichten. Problemlos peckten die Tauben stets auf die Menschenbilder. Dann brachten die Forscher die beiden Informationen miteinander in Konflikt: Sie kombinierten die bereits gezeigten Porträts mit Hintergründen, welche die Tauben ebenfalls schon gesehen und als „Nicht-Mensch“ beurteilt hatten. Doch die Tauben entschieden sich neuerlich für „Mensch“. Und das, schlossen die Forscher, war eindeutig ein Indiz dafür, dass Tauben die Kategorie „Mensch“ erkennen.

Kombinationsgabe. In einer anderen Studie wurden Ansichten von Personen in Teile zerlegt: Die Tauben sahen eine widernatürliche räumliche Anordnung von Torsi, Händen, Füßen und Köpfen. Die Frage war, ob die verletzte „Integrität“ sie stören würde. Außerdem führten die Forscher den „Ergänzungstest“ durch, bei dem unkomplette Menschen gezeigt wurden. So fehlten etwa Hände oder Köpfe, während auf anderen Bildern nur diese Körperteile ohne Rumpf zu sehen waren. Würden die Tauben die Einzelkomponenten als zur selben Kategorie gehörig erkennen? Die Antwort war positiv. „Sie kombinieren Kopf und Rumpf miteinander und tun beides in dieselbe Kategorie“, folgert Versuchsleiterin Ulrike Aust. „Eine Taube kann das aber nur wissen, wenn sie weiß, woraus ein echter Mensch besteht.“ Ganz offensichtlich sind Tauben nicht nur auf einzelne konkrete Schlüsselreize oder optische Merkmale angewiesen, um einen Menschen als solchen zu identifizieren, sondern formen im Geist tatsächlich eine komplexe Vorstellung der Kategorie „Mensch“.

Um der Ursache für diese Leistung auf die Spur zu kommen, züchten die Kognitionsbiologen derzeit eine Gruppe von jungen Tauben unter recht sonderbar erscheinenden Bedingungen: Die Vögel befinden sich in einer speziellen Voliere, die zwar lichtdurchlässig ist, aber blickdicht. Und wenn sich Pfleger nähern, dann nur mit verhülltem Kopf. Denn die Tauben sollen niemals einen Menschen zu Gesicht bekommen. In weiterer Folge soll diese Taubengruppe dieselben Bilderkennungstests durchlaufen wie die bisherigen Tiere. Dieses „Kaspar-Hauser-Experiment“ zielt neuerlich auf ein Kernthema der Forschergruppe ab: Sind fundamentale Verstandesleistungen wie Kategoriebildung genetisch fixiert oder erlernt? Huber: „Ist Wahrnehmung genetisch einprogrammiert oder durch individuelles Lernen geprägt?“

Eigentlich hat es für Tauben kaum Sinn, von der Evolution auf die Identifizierung von Menschen getrimmt zu sein – in ihrer Welt brauchen die Vögel dies nicht. Beruhen die ermittelten Fähigkeiten schlicht darauf, dass Tauben in Großstädten permanent mit Menschen konfrontiert sind und deren Erkennung allmählich erlernt haben? Erst im Dezember des Vorjahres wollten US-Forscher anhand von Zwillingsstudien nachgewiesen haben, dass genetische Prägung eine wichtige Rolle spielt, wenn es um Gesichtserkennung sowie um räumliche Wahrnehmung geht. Und bei Tieren wurden bislang überhaupt viele kognitive Fähigkeiten auf die Gene zurückgeführt. Selbst das Talent von Krähen, einfache Werkzeuge zu verwenden, werde vererbt, behaupteten britische Forscher im Fachblatt „Nature“. Huber und seine Kollegen tendieren heute zu einer differenzierteren Ansicht. „Wir haben die Vermutung, dass sehr viel auf individuellem Lernen beruht“, so Huber.

Umweltfaktoren. Kommen wir also mit einem uns von der Evolution zugeteilten und in den Genen fixierten Ausmaß an Klugheit auf die Welt, und ist Intelligenz gleichsam naturgegeben? Oder prägen und schulen letztlich die Umwelt, die Eltern, die Schule, Freunde und Bekannte unseren Verstand? Sind Kinder, die von ihren Eltern intellektuell gefordert werden und das Privileg genießen, viel zu sehen, zu hören und auszuprobieren, klüger als solche, die sensorisch vergleichsweise verarmen? Aufgrund der bisherigen Ergebnisse ihrer Studien denken die Kognitionsbiologen sehr wohl, dass solche Zusammenhänge bestehen. Die Evolution des Verstandes wäre demnach stark von Umwelt- und sozialen Einflüssen gesteuert. Allerdings stehen die Experten in vieler Hinsicht noch am Beginn und tragen vorerst einzelne Splitter und Puzzlesteinchen zusammen. Dennoch hoffen die Forscher letztlich auf ein Gesamtbild, um sukzessive jenen Phänomenen auf die Spur zu kommen, die, so Huber, „den Weg zur Entstehung des menschlichen Verstandes pflastern“.

Von Alwin Schönberger