Die Farben der Freiheit

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Die Zeit ist vorbei, da die Ukraine einer der unbekanntesten Staaten Europas war. Gewiss: Über Moldawien und vielleicht Weißrussland weiß man auch nicht viel. Aber die Ukraine ist ein großes Industrieland mit knapp 50 Millionen Einwohnern. Nun, seit hunderttausende Menschen in den schneebedeckten Straßen Kiews, Lembergs und anderer ukrainischer Städte friedlich Freiheit fordern, seit sie, eingehüllt in orange Schals, der Kälte trotzend, gegen Wahlbetrug protestieren, seit dort die demokratische Revolution unterwegs ist, sind alle Augen auf diese ehemalige Sowjetrepublik gerichtet.

Dass die Ukraine von der Welt bisher so wenig wahrgenommen wurde, liegt wohl auch daran, dass sie ihre Unabhängigkeit von Moskau so undramatisch errungen hat und dass ihr vergangenes Jahrzehnt gleichfalls sehr ruhig und unspektakulär verlief. Und das ist erstaunlich.

Man erinnere sich: Als sich Osteuropa und in der Folge die Peripheriestaaten der Sowjetunion von Moskau absetzten, da wussten die Ostspezialisten ganz genau: Die Ukraine werden die Kremlherren so leicht nicht aus der Hand geben, da werde es zu Blutvergießen kommen. Die Ukraine sei für Russland zu wichtig: symbolisch – das russische Reich wurde einst von Kiew aus gegründet; aber auch wirtschaftlich – immerhin war die Ukraine die Kornkammer Russlands, ist heute hoch industrialisiert, und wichtige Gas- und Ölpipelines führen über ukrainisches Territorium.

Die Russland-Fachleute irrten. Der 1991 von der Ukraine getroffenen, friedlichen und demokratischen Entscheidung, aus dem gemeinsamen Haus der Sowjetunion auszuziehen und ein Fünftel der UdSSR-Bevölkerung mitzunehmen, wurde von Moskau kein Widerstand entgegengesetzt. Keine Panzer rückten aus. Es floss kein Tropfen Blut.

Es gab natürlich Krisen in den neunziger Jahren. Konnte Russland sich mit der Teilung der mächtigen Schwarzmeerflotte einverstanden erklären?, wurde gefragt. Russland konnte. Die Kriegsschiffe wurden zwischen Moskau und Kiew aufgeteilt. Wie können die ethnisch russischen Bewohner der Halbinsel Krim, die nur durch historischen Zufall ukrainisch geworden waren, zustimmen, unter die Herrschaft Kiews zu kommen? Sie akzeptierten das. Und dass die Ukrainer ohne großes Aufheben ihre Atomwaffen den Russen übergeben würden, hätte auch niemand geglaubt.

Die ruhige postkommunistische Periode brachte viele Fortschritte für die Wirtschaft. Seit einigen Jahren aber hat die ukrainische Demokratie – im Schlepptau von Russland und mit offener Unterstützung Wladimir Putins – den Rückwärtsgang eingelegt. Eine böse autokratische und korrupte Elite hat sich immer mehr Bereiche unter den Nagel gerissen, von der Industrie über die Politik bis zu den Medien.

Das ist der Hintergrund für die aktuelle Protestbewegung. Die Ukrainer wollen aus dem russischen Zug in Richtung Diktatur aussteigen. Ihre Augen sind gen Westen gerichtet. Die „samtene Revolution“ – jene friedliche Umwälzung, die Osteuropa Ende der achtziger Jahre, Serbien und Georgien erst kürzlich erlebten – hat mit einiger Verspätung vergangene Woche auch die Ukraine erfasst.

Wer letztlich siegen wird – Putin und seine ukrainischen Satrapen oder die nach Demokratie und Freiheit dürstenden Ukrainer –, ist ungewiss. Etwas Positives haben die Ereignisse in Kiew aber bereits bewirkt: Der Westen ist von der schändlichen Appeasement-Politik gegenüber dem Kremlherrn abgerückt.

Es war erbärmlich: George W. Bush, der selbst ernannte Kämpfer gegen den Terrorismus und für Demokratie, unterstützte vollmundig den wüsten russischen Krieg gegen die Tschetschenen, nach dem Motto: Sind ja auch Terroristen. Dafür machte der Kremlherr Propaganda für Bushs Wiederwahl. Gerhard Schröder schwärmte in den höchsten Tönen von seiner Freundschaft mit dem russischen Präsidenten. Dieser wurde in Westeuropa zum gern gesehenen Staatsgast, dessen autoritären Kurs zu kritisieren man für realpolitisch unklug hielt. Besonders hervorgetan hat sich dabei das offizielle Österreich, das, begleitet von den Boulevardmedien, den ehemaligen sowjetischen Geheimdienstler vor drei Jahren geradezu hymnisch willkommen hieß.

Mit fadenscheinigen Argumenten war in Europa der Kuschelkurs mit Putin begründet worden: Man habe gegenüber dem öl- und gasreichen (und mit Nuklearwaffen ausgestatteten) Russland kein Druckmittel in der Hand. Dabei ist es doch so offensichtlich, dass das wirtschaftlich marode Reich des Wladimir Putin das wohlhabende und mächtige Europa um vieles mehr braucht als dieses Russland.
Nun hat der Westen gottlob – diesmal wieder geschlossen – klar für die Orangen und gegen Moskau Stellung bezogen. Das ist wohlverstandene Realpolitik. Offenbar hat man erkannt, dass viel auf dem Spiel steht – und zwar nicht nur für die Ukraine, wo sich in diesen Tagen entscheidet, ob ihre Zukunft in einer liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts liegt oder in einer Halbdespotie östlicher Prägung.

In Kiew werden auch Weichen für Russland gestellt: Sackt Moskau Weißrussland und die Ukraine wieder ein, würde dies einen Rückfall in die sowjetische Imperialpolitik bedeuten. Mit einer Ukraine jedoch, die sich nach Westen orientiert, bekommt, so argumentiert der britische Historiker Timothy Garton Ash, Russland „die Chance, ein normaler moderner Nationalstaat zu werden“. Und eine Ukraine im demokratischen Aufbruch könnte auch ansteckend für die Russen wirken.

Wir erleben weltpolitisch bedeutsame Tage. Und wer meint, trotzdem gelassen sein zu können, weil die Ukraine eh weit entfernt ist, dem sei geraten, den Atlas zu konsultieren: Bis zur ukrainischen Grenze ist es von Wien weniger weit als nach Bregenz.