Die sechs größten Gesundheitslügen

Die Gesundheits-Mythen. Tausende Studien sollen die Wahrheiten liefern

Warum sie wissenschaft-lich nicht haltbar sind!

Drucken

Schriftgröße

Die Sommerzeit ist stets auch eine Saison sportlicher Großereignisse. Ob der Ironman Austria Triathlon in Kärnten, der Großglockner Berglauf oder die Tour de France – jedes Mal, wenn ein Startschuss fällt, hat eine Botschaft ihr Ziel nicht selten schon erreicht: besonders viel trinken. Also nippen gestählte Männer und durchtrainierte Frauen an ihren Flaschen, ergänzen verlorene Salze durch Spezial-drinks, laben sich an den Wasserstellen entlang der jeweiligen Strecken.
Möglichst viel trinken – diese Empfehlung hat Cynthia Lucero das Leben gekostet. Die junge Frau war im Jahr 2002 beim Boston-Marathon mitgelaufen. 35 Kilometer hatte sie scheinbar ohne größere Probleme bewältigt, dann begann die 28-Jährige zu taumeln. Kurz darauf brach die erfahrene Läuferin zusammen, fiel ins Koma und starb wenig später im Krankenhaus. Diagnose: Gehirnschwellung und Organversagen durch Hyponatriämie – starken Natriummangel.
Cynthia Lucero hatte ihren Körper mit so viel Flüssigkeit überschwemmt, dass er den Salzverlust nicht mehr wettmachen konnte. Seit dem Tod der Ecuadorianerin wird vor übermäßiger Flüssigkeitsaufnahme gewarnt. Die Richtlinie der Marathon-Mediziner-Vereinigung IMMDA (International Marathon Medical Directors Association) lautet nun, nur so viel zu trinken, dass sich das Gewicht während des Laufens nicht verändert. Auf langen Strecken heißt das: maximal einen halben bis drei viertel Liter pro Stunde.

Verwirrende Vielfalt. Noch nie wurde die Menschheit mit so vielen medizinischen Ratschlägen, Regeln und Geboten überhäuft wie heute. Ob es um Ernährung geht, die Pulsfrequenz beim Aufwärmtraining, das wirksamste Schönheitsprogramm oder die lustvollsten Sexpraktiken – zu allen Fragen versuchen Forscher die garantiert letztgültige Wahrheit anzubieten. „Es gibt heute mehr Wissenschafter als bisher in der ganzen Menschheitsgeschichte“, sagt Erhard Oeser, Wissenschaftstheoretiker an der Universität Wien. Und die sorgen dafür, dass sich das medizinische Wissen alle fünf Jahre verdoppelt.
Mit der steigenden Zahl an Publikationen zu den verschiedensten Themen nimmt freilich auch die Vielfalt der Resultate zu, und nicht wenige der Studien haben nur kurze Zeit Gültigkeit – bis die nächste Publikation alles infrage stellt oder gar das Gegenteil zu belegen scheint.

Zum Beispiel Stretching gegen Sportverletzungen: Eine im März vom amerikanischen Center for Disease Control vorgestellte Studie, in der alle seit 1946 zu dem Thema veröffentlichten Untersuchungen zusammengefasst wurden, zeigt, dass Dehnen vor dem Sport die Verletzungsgefahr nicht nachweisbar senkt. Auch gegen Muskelkater helfen die Verrenkungen nicht. Der österreichische Olympiatrainer Hans Holdhaus empfiehlt Freizeitathleten stattdessen sanftes Aufwärmen vor und Auslaufen nach dem Training. Die Behauptung, dass Kaffee dem Herzen schadet, ist ebenfalls nicht mehr haltbar. Neueste Studien zeigen, dass der beliebte Bürotrank sogar vor Stress, Diabetes und Alzheimer schützen kann.
„Früher haben sich wissenschaftliche Ergebnisse Jahrzehnte gehalten“, berichtet Oeser. Heute indes wollen Massenmedien und Ratgeberverlage ständig mit Neuigkeiten gefüttert werden. „Und es sind nicht immer die besten Wissenschafter, die an vorderster Front die Öffentlichkeit suchen“, glaubt Oeser.

Popeye-Effekt. Durch den ständigen Publikationsdruck entsteht selbst in angesehenen Fachjournalen oft eine Art Popeye-Effekt: Ein schlichter Kommafehler bei der Berechnung des Eisengehalts von Spinat hatte zur lange verbreiteten Meinung geführt, dass das Gemüse – wie beim Comic-Seemann – als Kraftspender taugt und besonders gesund ist. Erst im Mai berichteten Emili García-Berthou und sein Team in der Fachzeitschrift „Medical Research Methodology“ über ähnliche Fehler: Die Statistiker wollen in bedeutenden wissenschaftlichen Journalen wie „Nature“ und „British Medical Journal“ („BMJ“) bei einem Drittel aller untersuchten Arbeiten Komma- oder Rechenfehler gefunden haben.
Doch selbst wenn die Zahlen stimmen, werden Schlüsse aus Studienergebnissen oft zu einfachen Imperativen verkürzt. Am besten verkaufen sich simple Botschaften: Iss wenig Fett, treibe Sport, meide die Sonne.

Letztere hat in den vergangenen Jahren zu einer wahren Sonnenpanik geführt. Sicher: Die Hautkrebsraten steigen, und eine Serie von Sonnenbränden ist alles andere als gesund. Doch statt differenzierter Warnungen hieß es zuletzt pauschal: Eine gesunde Bräune gibt es nicht – eine bedenkliche Behauptung, wie sich inzwischen zeigt.

Denn Sonnenlicht wird für die Vitamin-D-Produktion im Körper benötigt. Mehr als 90 Prozent davon werden in der Haut selbst produziert – wenn sie genug Sonne bekommt. Regelrechte Sonnenphobie dagegen kann zu Mangelerkrankungen wie der einst gefürchteten Volkskrankheit Rachitis führen, die heute bei Kindern wieder öfter diagnostiziert wird.

In seinem neuen Buch „The UV Advantage“ kritisiert Michael Holick, Dermatologe an der Universität Boston, die vielfach verordnete Angst vor der Sonne denn auch als übertrieben und empfiehlt regelmäßige Sonnenbäder als depressionsmindernd, knochenstärkend, sogar krebsvorbeugend. Holicks Empfehlung: ein paar Mal pro Woche für ein Viertel jener Zeit in die Sonne gehen, die es dauern würde, bis ein Sonnenbrand entsteht. Das kurble die Vitaminproduktion ausreichend an und schade der Haut nicht. „Aber es ist eben einfacher zu sagen, bleibt der Sonne ganz fern, als eine intelligente Empfehlung abzugeben“, so Holick.

Simple Lösungen. Je komplexer ein Lebensbereich, desto intensiver jedoch vielfach die Versuche, ihn mit einfachen Geboten und Verboten abzustecken. Als Klassiker in dem Zusammenhang dürfen wohl die inzwischen allgegenwärtigen Ernährungsregeln gelten – deren Gültigkeit mitunter gleich mehrfach revidiert werden muss.

So wird seit Jahren gepredigt, dass Ballaststoffe vor Darmkrebs schützen. Die Überlegung klingt zunächst plausibel: In den Industrieländern leiden viele Menschen an Verstopfung. Gleichzeitig steigt die Darmkrebsrate. Ergo, so der einfache Schluss, führt Verstopfung zu Darmkrebs. Weil Ballaststoffe die Verdauung fördern, sollte eine faserreiche Kost also auch das Darmkrebsrisiko mindern.
Allerdings: Bei mehr als 100.000 amerikanischen Frauen, deren Ernährungsgewohnheiten über Jahre akribisch aufgezeichnet worden waren, machte es in Bezug auf die Darmkrebsrate keinen Unterschied, ob sie viel oder wenig Ballaststoffe zu sich genommen hatten.

In zwei im Vorjahr in den USA sowie in Europa durchgeführten Studien fanden Forscher dann doch wieder signifikante Zusammenhänge zwischen der verzehrten Ballaststoffmenge und Darmkrebs. Die Erklärung: Im Gegensatz zur ersten US-Untersuchung waren die Teilnehmer der neueren US-Studie zuvor einem Darm-Check unterzogen worden. Nur eindeutig krebsfreie Personen durften teilnehmen – was die Aussagekraft über den Zusammenhang zwischen Ballaststoffen und Krebs erhöht. Das europäische Forscherteam streicht zudem heraus, dass „viel“ nicht gleich „viel“ ist: Was in Amerika als hoher Ballaststoffverzehr angesehen wird, gilt in Europa als geringer Konsum.

Fettmythos. Auch die seit fast zwanzig Jahren als unumstößliche Säule der Ernährungslehre angesehene Empfehlung, wonach maximal 30 Prozent der Nahrung aus Fett bestehen dürfen, scheint widerlegt. Nun stellt sich allmählich heraus, dass in Wahrheit die viel gepriesenen Kohlenhydrate dick machen. Erst im Mai wurde dieser Effekt durch die Harvard-Universität in Boston wieder belegt: „Die Analyse des Ernährungsexperten Simin Liu“, kommentiert das Fachblatt „Nature“ die Untersuchung, „stützt die Ansicht, dass der Ratschlag, Fett zu reduzieren, ein Schuss ins Knie war“.

Margarine, Maiskeim- oder Distelöl wiederum wurden mehr als 30 Jahre lang als gesunde Alternative zu Butter und Schmalz gepriesen. Nun wird plötzlich zur Vorsicht gemahnt: „Wir wissen heute, dass die beworbenen Pflanzenöle zu großen Teilen aus Omega-6-Fettsäuren bestehen“, erklärt Uffe Ravnskov, Sprecher des Internationalen Netzwerks der Cholesterinhäretiker. „Und die könnten krebserregend sein und das Immunsystem schwächen.“ Diese mehrfach ungesättigten Fettsäuren hatten das Krankheitsrisiko von Tieren in die Höhe schnellen lassen und zu Wachstumshemmung, Leberschäden und erhöhten Krebsraten geführt. Studien bei Menschen, etwa in Schweden, lassen zudem einen Zusammenhang mit der Brustkrebshäufigkeit bei Frauen vermuten. Positiv wirken sich nach heutigem Wissen dagegen einfach ungesättigte Fette mit hohem Omega-3-Fettsäuren-Anteil aus. Diese sind in Oliven-, Raps- oder Nussölen enthalten.

Oliven-Geschäft. Doch auch in Bezug auf Olivenöl bestehen überzogene Erwartungen. Beobachtungen hatten einst gezeigt, dass die Bewohner von Kreta trotz fettreicher Ernährung unter weniger Herzkrankheiten litten als Mitteleuropäer. Man gelangte deshalb zum Schluss, dass das reichlich verwendete Olivenöl ein grundsätzlich gesundes Fett sei.

„Oliven sind aber auch ein gutes Geschäft“, sagt der Sozialmediziner Dieter Borgers von der Universität Düsseldorf. „Also regt die Vereinigung der Olivenbauern ein paar Studien an. Die Studien können durchaus gut gemacht sein, betrachten aber eben nur diesen einen Aspekt.“ So etablierte sich der Mythos vom Allheilmittel Olive, obwohl mit der gleichen Berechtigung die auf Kreta reichlich verzehrten Tomaten oder der entspannte Lebensstil zu den niedrigen Herzinfarktraten beitragen könnten. Und dass auf Korfu trotz ebenso hohen Olivenölkonsums wie auf Kreta gleich viele Menschen an Herzinfarkten sterben wie in Mitteleuropa, wird ohnehin nie erwähnt. „Hier stoßen wir an die Grenzen einer positiv verstandenen Wissenschaft“, so Borgers.

Betrugsfälle. Dramatischer sind Allianzen zwischen Forschung und Wirtschaft naturgemäß dann, wenn gezielt unvollständige oder falsche Empfehlungen publiziert werden. Gleich mehrere solche Fälle hat das Londoner Komitee für publizistische Ethik im März des Vorjahres aufgedeckt. Nach Durchsicht angesehener Journale stieß der Verband internationaler Fachmagazinherausgeber gleich auf 29 Fälle von Betrug und Bestechung. So wollten zwei US-Forscher im „British Medical Journal“ („BMJ“) den Nachweis geführt haben, dass Passivrauchen nicht schädlich sei. Verschwiegen hatten sie, dass sie im Sold der Tabakindustrie standen, einer sogar als professioneller Lobbyist. Vor Gericht stellte sich später heraus, dass Daten manipuliert worden waren.
Andererseits werden Krankheiten mitunter regelrecht künstlich geschaffen, um den Markt für eine Behandlungsmethode oder ein Medikament aufzubereiten. Zunächst wird beispielsweise so lange an Grenzwerten gefeilt, bis eine einfache Befindlichkeitsstörung zur Krankheit erklärt worden ist. Dazu gibt es dann die passende, durch Studien untermauerte Therapie.

„Man kann eine Menge Geld verdienen mit gesunden Menschen, die glauben, dass sie krank sind“, beginnen der Journalist Ray Moynihan, die Allgemeinmedizinerin Iona Heath und der Pharmakologe David Henry einen Artikel zu diesem Thema, das in Fachkreisen als Disease Mongering („Handeln mit Krankheiten“) bezeichnet wird. Im „BMJ“ weisen die drei Autoren nach, dass sich die Strategien der Pharmaindustrie kaum von der Markteinführung fettfreier Joghurts unterscheiden.
So zitieren die Autoren aus dem internen Papier eines australischen Marketingdienstleisters des Pharmakonzerns GlaxoSmithKline, in dem ein ausgeklügelter Dreijahresplan dargelegt wurde. Ziel der Kampagne war es, eine bis dahin als einfaches Bauchweh bezeichnete Unpässlichkeit durch gezielte „Aufklärung“ als „glaubwürdige, weit verbreitete und konkret benennbare Krankheit“ zu etablieren. Medien und Fachleute wurden mit Informationen bombardiert, medizinische Treffen bezahlt, Richtlinien ausgearbeitet – bis genug Australier am neuen Syndrom „Reizdarm“ litten.

Teil-Frauen. Ein weiteres Beispiel, welche Folgen die Schaffung neuer Krankheiten samt dazu passender Therapie haben kann, ist die Hormonersatztherapie. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hatte sich die Sichtweise etabliert, Frauen nach der Menopause würden mit ihrer Fruchtbarkeit auch ihre Weiblichkeit einbüßen – dürften nicht mehr als „vollständige“, sondern nur noch als „Teil-Frauen“ gelten, wie es der New Yorker Gynäkologe Robert Wilson in den sechziger Jahren formulierte. In seinen – vom Hormonersatzhersteller Wyeth Ayerst finanziell unterstützten – Artikeln pries er die Vorteile einer Östrogenversorgung „von der Wiege bis zur Bahre“. Und legte damit den Grundstein für die Hormonersatztherapie.

40 Jahre später stehen Experten vor einem veritablen Desaster der Medizingeschichte. Wie sich bei den ersten fundierten Studien zu der Therapie zeigte, die mittlerweile Millionen von Frauen über Jahrzehnte verschrieben wurde, blieben nicht nur die meisten erwarteten Wirkungen aus, vielmehr kam es teils auch zu dramatischen Nebenwirkungen.
Dabei war der Einsatz von Hormonen durchaus ausführlich diskutiert worden. Vor allem so genannte Konsens-Konferenzen hatten für die Festlegung von Richtlinien zur „besten Behandlung“ gesorgt. Die Crux dabei: Bei diesen Treffen hochrangiger Experten überzeugen nicht unbedingt die besten Daten, sondern oft die durchsetzungsfähigsten Redner.

sFehlersuche. Nun wollen Forscher mit dieser „Eminenz“-basierten Wissenschaft aufräumen und sie durch eine Evidenz-basierte ersetzen – also eine Denkschule, die sich ausschließlich auf nüchterne Beweise verlässt. Bereits in den siebziger Jahren hatte der britische Epidemiologe Archie Cochrane damit begonnen, die Aussagekraft von medizinischen Arbeiten zu überprüfen, indem er alle zum Thema verfügbaren Studien, Leitlinien und anderen Quellen zu gängigen Behandlungsverfahren akribisch durchforstete. Nach Cochranes Vorbild werden nun schlecht durchgeführte Studien aussortiert und unplausible Ergebnisse hinterfragt.
In immer mehr Ländern entstehen seither Zentren der Evidenz-basierten Medizin (EBM), die sich dieser mühevollen Aufgabe verschreiben. „Wir möchten so etwas wie ein demokratisches Prinzip in den Meinungsbildungsprozess einbringen“, erklärt Jürgen Windeler vom Deutschen Netzwerk EBM.
Die bisher vorliegenden EBM-Analysen stellen denn auch einige der gängigsten Gesundheitsmythen infrage: Mammografie zum Brustkrebs-Screening? Laut einer Studie des Direktors der dänischen Cochrane-Collaboration, Peter Gøtzsche, zeigen die bisher zum Thema publizierten Studien nicht, dass deshalb wirklich weniger Frauen an Brustkrebs sterben.
Wer wiederum schon im Herbst damit beginnt, Hochdosis-Vitamin-C zur Erkältungsvorbeugung einzunehmen, könnte sich das Geld sparen: Die Vitaminbomben helfen offenbar nicht. Auch wenn der Schnupfen bereits zugeschlagen hat, scheint der Effekt der Ascorbinsäure nicht überwältigend zu sein: Knapp einen halben Tag rinnende Nase spart man sich bestenfalls.
Oder die routinemäßigen Ultraschalluntersuchungen in der späten Schwangerschaft: Bei normal verlaufenden Schwangerschaften fanden EBM-Forscher keinen Unterschied in Bezug auf Komplikationsraten oder die Sterblichkeit von Frauen und ihren Babys – egal, ob es nach der 24. Woche Ultraschallanalysen gegeben hatte oder nicht.
Dass die EBM-Untersuchungen oft mehr Wissenslücken aufzeigen, als definitive Antworten zu bringen, unterstreicht, dass die Forschung noch immer von letztgültigen Wahrheiten entfernt ist. Die könne man aber ohnehin nie erwarten, meint Ulrike Felt von der Universität Wien. „Wissenschaft ist im Fluss. Sie hat nie bleibende Antworten geliefert und wird dies auch nie tun“, glaubt die Wissenschaftstheoretikerin.
Umso unverständlicher sind deshalb die fast sektiererischen Züge, die Empfehlungen und Lebensregeln oft annehmen. Sozialmediziner Dieter Borgers: „Diese Einteilung in gut und böse, gesund und ungesund ist eine Mickymaus-Vorstellung davon, wie die Welt funktioniert."