Jürgen Trittin: "Sehe ich erschöpft aus?"
Interview: Robert Treichler und Christine Zeiner
profil: Landesweite Proteste gegen die Regierung Erdogan und die brutale Reaktion der türkischen Polizei sorgen für weltweite Besorgnis. Sind die autoritären Tendenzen ein Argument für oder gegen einen EU-Beitritt der Türkei?
Jürgen Trittin: Die meisten, die sich am zivilen Ungehorsam auf dem Taksim-Platz beteiligen und für Demokratie und Meinungsfreiheit streiten, sind Anhänger einer europäischen Türkei. Jetzt die EU-Beitrittsverhandlungen abzubrechen, hieße, ihnen ins Gesicht zu schlagen, und das wäre das Falscheste, was man tun kann. Es gilt aber auch: Europa muss seine eigenen Werte ernstnehmen. Das heißt, wir können nicht die Türkei anklagen, während wir in Ungarn Laissez-Faire walten lassen.
profil: Im Fall Ungarns versucht die EU, die Regierung Orban wegen rechtsstaatlich bedenklicher Maßnahmen zu disziplinieren - mit mäßigem Erfolg. Die Türkei wäre wegen ihrer Größe ein ungleich mächtigeres EU-Mitglied. Könnte das noch funktionieren?
Trittin: Wir müssen in der Tat feststellen, dass es in der Türkei in jüngster Zeit im Bereich der Meinungsfreiheit wieder massive Einschränkungen gegeben hat, nachdem die Strafgesetzgebung davor liberalisiert worden war. Der Beitrittsprozess ist weder unumkehrbar noch frei von Widersprüchen. Deshalb sage ich: Ja, man muss diesen Prozess weiter fortsetzen, aber auf der Basis von Klartext und eindeutig formulierten Normen und Werten.
profil: Kommen wir nach Deutschland, das zurzeit so etwas ist wie das gelobte Land Europas. Was ist das Geheimnis des Champions-League-Siegers und Vorzugsschülers in Sachen Wirtschaft?
Trittin: Ach, man soll so eine Fußball-Saison auch nicht überschätzen. Aber Deutschlands Vorteil besteht einerseits sicher darin, dass wir ein Industriestandort mit beachtlicher Wertschöpfungstiefe sind. Unsere Stärke hängt aber auch sehr mit einem inneren Zusammenhalt der Gesellschaft zusammen und damit, dass wir in der Frage des Sozialstaates nicht den Weg der neoliberalen Deregulierung gegangen sind, den die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher, Ex-FDP-Chef Guido Westerwelle und zeitweilig auch Kanzlerin Angela Merkel uns empfohlen haben. Das ist aber kein Grund für Überheblichkeit. Auch bei uns liegt vieles im Argen. Wir liegen schlecht in den Bereichen Investitionen, Frauenerwerbstätigkeit und Bildungserfolg. Dummerweise verabsäumen wir das, was der Deutsche Fußballbund schon sehr lange und sehr erfolgreich betreibt - nämlich Nachwuchsförderung.
profil: Politisch drängt sich der Vergleich mit Frankreich auf: Die Franzosen haben im vergangenen Jahr ihre konservative Regierung zugunsten eines links-grünen Bündnisses abgewählt. Laut allen Umfragen bereuen sie das mittlerweile bitter.
Trittin: Das ist völlig normal. Wenn es umgekehrt gewesen wäre, wäre es genauso.
profil: Staatspräsident François Hollande hatte zudem ganz ähnliche Pläne wie Rot-Grün in Deutschland: die Reichen belasten, den Binnenkonsum stärken, Arbeitsplätze schaffen und Wachstum fördern. Genau das Gegenteil ist passiert. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, der Binnenkonsum eingebrochen, statt Wachstum herrscht Rezession.
Trittin: Frankreich wäre in der gleichen Situation, wenn der abgewählte Nicolas Sarkozy noch Präsident wäre. Die Jugendarbeitslosigkeit war da schon skandalös hoch. Die Krise hat im Wesentlichen zwei Hauptursachen: eine insgesamt schlechte Wirtschaftsstruktur, nämlich sehr viele große Betriebe und nur wenige klein- und mittelständische Unternehmen. Das liegt an steuerlichen Regelungen, die Großbetriebe sehr begünstigen. Außerdem hat Frankreich einen sehr unflexiblen Arbeitsmarkt. Darum muss sich Hollande jetzt kümmern, ebenso wie Sarkozy das hätte tun müssen. Was wir in Europa brauchen, sind Reformen und wirtschaftliche Stimuli für Wachstum im Süden. Sonst rückt die Krise immer näher an Deutschland heran.
profil: Die Grünen üben scharfe Kritik an Merkels Euro-Politik. Welche Rezepte darf man von Ihnen erwarten, etwa um spanischen Jugendlichen Arbeit zu geben?
Trittin: Weil Spanien faktisch keine öffentlichen Investitionen mehr tätigen kann, bekommt auch der gesamte klein- und mittelständische Handwerksbereich keine Aufträge mehr. Der geht dann zu seiner Bank, die ihrerseits unter irgendeiner Notverwaltung steht, und kriegt keinen Kredit, weil die Bank sagt: "Du kriegst sowieso keinen Auftrag. Das führt in eine Abwärtsspirale. Deshalb brauchen wir in Europa Infrastrukturmaßnahmen zum Ankurbeln der Wirtschaft. Da gab es die Idee der Project Bonds, um Geld für solche Großinvestitionen aufnehmen zu können. Aber was dabei rauskam, war weniger als die Geldmittel, die Deutschland in einem einzigen Jahr für den Ausbau des Stromnetzes ausgibt. Heute kriegen Sie keine Kilowattstunde Strom aus Spanien nach Frankreich, weil die Trassen nicht fertig sind und weil die Franzosen ihren Markt eifersüchtig blockieren.
profil: Sind Sie weiterhin für den Fiskalpakt?
Trittin: Der Fiskalpakt ist nichts anderes als die Verabredung, die Neuverschuldung zu begrenzen. Wir gehen ja sogar weiter: Wir wollen Schulden abbauen. Deswegen haben wir in Deutschland vorgeschlagen, die Schulden aus der Finanzkrise mittels einer zeitgebundenen Vermögensabgabe zu reduzieren. Und wir sind der Auffassung, dass mittelfristig alle europäischen Staaten ihre Schulden wieder unter die Quote von 60 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes bekommen sollten. Aber nicht über noch mehr Kürzungen, sondern durch einen gemeinschaftlichen Schuldenabbau, finanziert unter anderem aus einer Vermögensabgabe.
profil: Sind Sie einverstanden damit, wie das derzeit gehandhabt wird: Wer die Schuldenvorgabe überzieht, kriegt mehr Zeit zum Abbau?
Trittin: Brutales Sparen ohne Rücksicht auf die Menschen führt jedenfalls nicht zum Erfolg, wie der IWF jetzt bestätigt hat. Entscheidend ist aber, dass die Spar-Vorgaben nicht mehr durch Kungeleien ausgehebelt werden können, wie wir es mal gemeinsam mit Frankreich praktiziert haben.
profil: François Hollande hat kürzlich in Deutschland beim Festakt der SPD anlässlich ihres 150-jährigen Bestehens die rot-grüne "Agenda 2010 gelobt, die Sie im Rückblick recht scharf kritisieren. Er hob ausdrücklich die "schmerzhaften Entscheidungen hervor, die damals getroffen wurden. Tut dieses Lob weh?
Trittin: Es ist nie alles so ganz einfach. Wir wollten damals, im Jahr 1998, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen. Das war der Kern der Agenda 2010, und in diesem Punkt handelte es sich auch nicht um ein Sparprogramm, weil das Milliarden kostete. Das war richtig. Ich finde es auch richtig, dass wir dafür gesorgt haben, Ehefrauen nach einer Scheidung nicht einfach in die Sozialhilfe abzuschieben, sondern ihnen den Anspruch auf berufliche Weiterqualifikation zu gewähren. All das haben wir eingeführt.
profil: Sie bekennen sich also zu den Segnungen und distanzieren sich von den Härten?
Trittin: Die sinnvollen Reformen sind einhergegangen mit Dingen, die nicht funktioniert haben. Zum Beispiel haben wir als Maßnahme gegen Rekordarbeitslosenzahlen den Einstieg in die Zeitarbeit ermöglicht. Das war richtig. Aber wir haben damals nicht festgeschrieben, dass für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn bezahlt werden muss. Das hat zu massiven Auslagerungen von Regelarbeitsverhältnissen in die Zeitarbeit geführt. Dem muss man jetzt einen Riegel vorschieben. Wir haben es auch verabsäumt, einen gesetzlichen Mindestlohn festzusetzen. Auch das muss korrigiert werden.
profil: Hoffen Sie noch, dass SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück das Vertrauen der enttäuschten Sozialdemokraten zurückgewinnen kann?
Trittin: Natürlich kann er das. Je näher die Wahl rückt, desto eher werden die Unterschiede zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb deutlich. Und das mobilisiert dann. Außerdem hat Peer Steinbrück mit Klaus Wiesehügel einen Mann in sein Schattenkabinett geholt, der immer ein verlässlicher - übrigens ziemlich grüner - Gewerkschafter war und dem man, glaube ich, abnimmt, dass er die Gerechtigkeit in seiner Politik wirklich lebt.
profil: Ist es nicht sehr fraglich, ob die Symbolbesetzung eines Agenda-2010-Kritikers reichen wird?
Trittin: Am Ende wählen die Menschen Inhalte. Und da hat sich die SPD in vielen Fragen bewegt, zum Beispiel beim gesetzlichen Mindestlohn oder bei der Leiharbeit.
profil: Die Grünen werden in Deutschland wie auch in Österreich stärker, dadurch ergeben sich neue Koalitionsmöglichkeiten. Es ist gut möglich, dass sich nach der Bundestagswahl Rot-Grün nicht ausgeht. Warum schließen Sie Schwarz-Grün eigentlich aus?
Trittin: Wir führen unseren Wahlkampf mit inhaltlicher Klarheit. Wir treten dafür ein, dass die Energiewende ein Erfolg wird. Was erleben wir zurzeit gerade? Eine vorsätzliche Sabotage von Energiewende und Klimaschutz durch die Union. Frau Merkel ist die größte Bremserin beim Klimaschutz in Europa.
profil: Wir haben ja verstanden, dass Ihnen Rot-Grün lieber ist
Trittin: Ich hab noch gar nichts über Rot-Grün gesagt. Bisher erzähle ich Ihnen nur, wie das Verhältnis der Grünen zur CDU ist. Und da stellen wir fest, dass die CDU Frauen aus dem Erwerbsleben drängen will, etwa durch die Einführung des Betreuungsgeldes für Mütter, die zu Hause bleiben. Die CDU will das Gegenteil von dem, was wir wollen - ja bitteschön, wie sollen wir dann koalieren?
profil: Die Frage nach der Wahl könnte aber lauten: Was ist besser für Deutschland: Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün?
Trittin: Besser für Deutschland ist auf jeden Fall Rot-Grün.
profil: Die Grünen haben in den vergangenen Jahren ein leicht autoritäres Image bekommen, weil sie mit Vorliebe mit Verboten auf Probleme reagieren: etwa Heizpilze in Gastgärten wegen der Energievergeudung, Zigarettenautomaten zum Schutz der Jugend oder Luxussanierungen im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, um die Mietpreise nicht explodieren zu lassen. Muss das sein?
Trittin: Ich glaube, dass uns einige dieses Image andichten wollen. Wer hat denn das Rauchverbot in Bierzelten beschlossen? Eine überwältigende Mehrheit der Wahlberechtigten in Bayern! Und wenn Sie auf den Prenzlauer Berg schauen, dann müssen Sie feststellen, dass wir da ein ernstes Problem haben: Dort wird die angestammte Wohnbevölkerung verdrängt, zum Teil mit kriminellen Methoden.
profil: Gegen Kriminalität kann man sich auch mit dem Strafrecht zur Wehr setzen, nicht mit dem Verbot von Fußbodenheizungen und Zweitbädern, wie es die Grünen tun.
Trittin: Es gibt viele Möglichkeiten, sein Haus mieterfrei zu bekommen. Da ist zum Beispiel das Gerüst im Sommer immer noch nicht abgebaut oder die Baufirma geht zufälligerweise pleite. Ich möchte nicht in einer Stadt leben, wo es eine Segregation von Stadtvierteln nach Einkommensklassen gibt und wo ganze Straßenzüge unbewohnt sind, weil da nur noch Einkaufs- und Übernachtungsmöglichkeiten für reiche Russen und Araber angeboten werden, wie es in Paris der Fall ist. Dazu stehe ich, dagegen muss man sich wehren.
profil: Die schlimmen Heizpilze muss man auch verbieten?
Trittin: Nirgendwo sind Heizpilze auf privatem Grund verboten. Aber wenn in einer Stadtsatzung festgelegt wird: Hier findet Außengastronomie mit Heizpilzen nicht statt - dann ist das eine zulässige Entscheidung, die das Ziel hat, die unnütze Verschwendung von Ressourcen ein Stück zu begrenzen. Das finde ich richtig.
profil: Sie sind seit gut drei Jahrzehnten in der Politik. Ihr Ex-Kollege Joschka Fischer sagte einmal, er habe sich an den Grünen "erschöpft. Wie ist es bei Ihnen?
Trittin: Schauen Sie mich an - sehe ich erschöpft aus?
profil: Der Wahlkampf nervt auch nicht?
Trittin: Nee, das ist ein Jungbrunnen!
Jürgen Trittin, 58,
bildet gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt das Spitzenkandidaten-Duo der Grünen für die Bundestagswahl am 22. September. Der einer bürgerlichen Familie aus Bremen entstammende einstige Maoist war Umweltminister der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder (1998-2005). Damals trieb er den Atomausstieg und die Ökosteuer voran und war der Lieblingsgegner der bürgerlichen Opposition. Ihm "trauten die konservativen Bürger von Besitz und Bildung lange nicht über den Weg, schrieb der "Spiegel über den vermeintlichen "Funktionär einer potenziellen Öko-Diktatur. Heute wird der Diplom-Sozialwirt im Falle einer rot-grünen Koalition als möglicher Finanzminister gehandelt.