„Die Hamas-Leute sind Pragmatiker“

Interview mit Palästina- Spezialistin H. Baumgarten

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profil: Die EU und die arabische Welt sind über die „außergerichtliche Tötung“ von Scheich Ahmed Yassin und Abdelaziz Rantisi durch die Israelis empört. Sollte morgen Osama Bin Laden von US-Soldaten umgebracht werden, käme zumindest in Europa kaum Entrüstung auf – trotz der weit verbreiteten antiamerikanischen Stimmung. Warum dieser Unterschied?
Baumgarten: Nun, ich würde sagen, die internationale Öffentlichkeit zeigt damit, dass sie sehr wohl den Unterschied zwischen Hamas und al-Qa’ida erkannt hat.
profil: Gibt es den wirklich?
Baumgarten: Hamas ist im Wesen eine politische Organisation, die zunächst gegen ein Besatzungsregime kämpft. Da wird auch Gewalt ausgeübt, da die Besatzung als solche schon Gewalt ist. Selbstmordattentate, auch gegen Zivilisten, sind, auch wenn man sie vehement ablehnt, ein Teil dieses Kampfes.
profil: Suizidanschläge sind auch die bevorzugte Methode der Bin-Laden-Leute.
Baumgarten: Das stimmt. Aber al-Qa’ida steht in keinem konkreten politischen Kontext. Da geht es weder um Besatzung noch um irgendeinen anderen konkreten Zusammenhang – sondern um diffus antiwestliche Einstellungen und Gefühle. Und genauso diffus ist auch ihr Feindbild aufgebaut.
profil: Das würde es rechtfertigen, dass man Bin Laden umbringt?
Baumgarten: Auch in seinem Fall würde ich meinen, dass man trachten sollte, ihn vor ein Gericht zu stellen.
profil: Nun argumentieren die Amerikaner und Israelis, dass sie sich im Krieg gegen den Terrorismus befinden. Die Ermordung von Yassin und Rantisi wären in den Augen der Regierung in Jerusalem Kriegshandlungen, Selbstverteidigung Israels.
Baumgarten: Das Argument hinkt ganz gewaltig. Zunächst ist Rantisi kein Militär. Er war, so wie Yassin auch, ein politischer Führer einer politischen Organisation, die in aller Öffentlichkeit operiert. Wenn man ihm vorwirft, Organisator von Selbstmordattentaten zu sein, dann kann Israel als Besatzungsmacht diesen Mann verhaften und ihm diese Vorwürfe in einem Gerichtsverfahren nachweisen und ihn dann entsprechend verurteilen. Aber ich kann nicht einfach mit Hubschraubern Raketen abschießen, dabei noch alle möglichen anderen Leute umbringen und sagen: Das ist Selbstverteidigung.
profil: Nun ist Hamas eine besonders grausliche Organisation: Die Hamas-Leute sind wirkliche Judenhasser. Nicht zufällig beziehen sie sich auf die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein Urtext des europäischen Antisemitismus.
Baumgarten: Sie haben Recht. Jede Differenzierung zwischen Juden generell einerseits, dem Staat Israel und der israelischen Besatzung andererseits, eine Unterscheidung, die für die PLO unter der Führung von Arafat absolut zentral war und bis heute ist, fehlt bei Hamas völlig. Hamas macht sich schuldig, die rassistischen Gedankenmuster des europäischen Antisemitismus übernommen zu haben. Das muss man auch ganz klar beim Namen nennen und kritisieren. Aber worauf konzentriert sich Hamas im Konkreten, in der Praxis? Da würde ich meinen, dass Hamas eine Organisation ist, deren Hauptziel der Kampf gegen die israelische Besatzung im Westjordanland, Ostjerusalem und dem Gazastreifen darstellt.
profil: Das deklarierte Ziel von Hamas ist aber doch ein palästinensischer Staat auf dem gesamten Gebiet des historischen Palästina. Das heißt: weg mit Israel.
Baumgarten: Gewiss wird das immer wieder formuliert. Und diese Maximalvorstellungen sind in der palästinensischen Gesellschaft im Allgemeinen seit dem Beginn der zweiten Intifada, seit 2000, stärker geworden. Das geht parallel zu der sich in Israel immer mehr verbreitenden Idee von Großisrael, das auch das gesamte historische Palästina umfassen sollte. Andererseits hat sich vor allem im vergangenen Jahr herauskristallisiert, dass Hamas zu politischen Abkommen bereit ist. Hamas hat einen Waffenstillstand ausgerufen …
profil: … Hudna genannt, der dann aber durch ein Attentat gebrochen wurde.
Baumgarten: Nach allem, was man weiß, war das kein Hamas-Attentat. Das führte dann wieder zu israelischer Vergeltung und Wiederaufnahme der Selbstmordattentate. Aber der Waffenstillstand wurde von Hamas eingehalten und beinhaltete, dass man zu politischen Abkommen mit Israel bereit ist, auf der Basis des Abzugs aus den besetzten Gebieten von 1967 und der Anerkennung eines zu bildenden palästinensischen Staates. Dann könne – und das habe ich in mehreren Interviews mit Hamas-Führern, auch mit Yassin, vergangenes Jahr gehört – der Waffenstillstand „eine Sache von Generationen sein“. Die kommenden Generationen sollten sich dann die weitere Zukunft untereinander ausmachen.
profil: Das Ziel, das in der Hamas formuliert wurde – ganz Palästina den Palästinensern und der Aufbau eines islamischen Staates – wäre dann nur aufgeschoben.
Baumgarten: Wörtlich genommen, ja. Aber in der Praxis sieht das anders aus. Es wird oft verkannt, dass die Hamas-Leute keine wilden utopistischen Träumer sind. Das sind sehr pragmatische Politiker. Und ihr Pragmatismus ist vor allem dadurch verstärkt, dass sie sehr tief in der palästinensischen Gesellschaft verankert sind. Sie wissen, dass das palästinensische Volk nicht bereit ist, sich quasi in die Luft zu jagen und für immer auf eine mögliche Friedenslösung zu verzichten. Die wissen, dass die Leute eine greifbare Lösung dann akzeptieren würden, wenn diese von der israelischen Seite her möglich gemacht wird.
profil: Nach Umfragen hätte Hamas bei Wahlen etwa zwanzig bis dreißig Prozent in den besetzten Gebieten. Ist das glaubhaft?
Baumgarten: Es könnte sogar mehr sein. Viele Leute geben in Umfragen vielleicht nicht an, dass sie für Hamas sind.
profil: Muss man nicht verstehen, dass die israelische Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit – konfrontiert mit den Selbstmordanschlägen in Diskos, Bussen, auf Marktplätzen und traumatisiert durch die jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts – die Tötung von Hamas-Führern unterstützt?
Baumgarten: Emotional ist das absolut verständlich. Das heißt aber nicht, dass es legal ist oder politisch richtig. Die Emotionen gibt es auf beiden Seiten. Deshalb auch unter anderem die Unterstützung, die Suizidanschläge in der palästinensischen Gesellschaft haben. Nur: Mit Emotionen sollte man keine Politik machen.
profil: Und welche Politik der Israelis wäre Ihrer Meinung nach sinnvoll?
Baumgarten: Innerhalb des Strategie-Establishments und Geheimdienstkreisen in Israel gibt es viele, die meinen, dass man Hamas in einen politischen Prozess einbinden muss und dass damit die Tendenz zu Selbstmordattentaten gestoppt beziehungsweise ihr der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann. Zukunftsträchtig schien es mir, die Organisation politisch zu fordern und einzubinden, während man gleichzeitig die Kräfte in Hamas, die an der Strategie der Selbstmordattentate festhalten, maximal zu marginalisieren versucht. Die Suizid-Bomben-Strategie und der Terror gegen Zivilisten wird auch innerhalb der Hamas kontrovers diskutiert. Ist diese Strategie vereinbar mit islamischen Werten? Und sind das effektive Methoden? Diese Fragen werden durchaus gestellt.
profil: Glauben Sie, dass der Terror der Hamas durch die Tötung wichtiger Führungspersönlichkeiten reduziert werden kann?
Baumgarten: Absolut nicht. Da gibt es völlig falsche Einschätzungen von Seiten der israelischen Politik. Hamas ist keine Organisation wie die alten arabischen Parteien, die Baath-Partei oder die Nasseristen oder palästinensisch-nationalistische wie die Fatah, wo die Organisation in vielem mit der Führungspersönlichkeit steht und fällt. Hamas war von Anfang an ganz klar auf eine Gruppenführung hin ausgerichtet, und die verschiedenen Ebenen der Organisation sind voll an Beschlussfassungen beteiligt. Wenn dann der eine oder andere politische Führer ermordet wird, schadet das der Organisation nur sehr, sehr wenig.
profil: Das heißt: Die Eskalation geht weiter.
Baumgarten: Ja.
profil: Und wird Hamas international Terror ausüben, so wie al-Qa’ida?
Baumgarten: Das halte ich für ausgeschlossen. Das war nie Hamas-Strategie. Es geht ausschließlich gegen Israel. Und es gibt viele klare Statements von Hamas-Leuten, dass man nicht gegen Amerika kämpft.