Elfriede Hammerl

Die Hauptverdächtige

Die Hauptverdächtige

Drucken

Schriftgröße

Die Mutter. Fast könnte man meinen, sie wäre die eigentliche Übeltäterin. Weil: Das gibt’s doch nicht, dass die nichts bemerkt hat. Es muss ihr doch was aufgefallen sein. Wie ist denn das möglich, 24 lange Jahre, und sie will nichts mitbekommen haben? Warum hat sie geschwiegen, nichts unternommen, nicht verhindert? Unglauben, Zweifel, Empörung in den Medien und in der Bevölkerung. Etwas Schreckenerregendes wird offenbar, und wir schreien nach der Mama. Die Mama soll helfen. Die Mama soll uns beschützen. Wo eine wachsame Mutter, da kann nichts passieren. Es scheint, dass das unfassbare Verbrechen in Amstetten eine kollektive Regression ausgelöst hat. Eine Nation wird zu Kindern und macht die Mutter – in diesem Fall die Mutter-Großmutter der betroffenen Familie – dafür verantwortlich, dass sie eine derartige Beschädigung unserer heilen Welt zugelassen hat.
Ja, klar ist das eine der ersten Fragen, die sich aufdrängen. War es möglich, dass die Ehefrau des Übeltäters ahnungslos blieb, wie sie behauptet? Gibt’s das? Die Frage liegt nahe. Verwunderlich ist die rasche und überzeugte Antwort: Das kann’s doch nicht geben. Man sollte annehmen, dass auch für Frau F. zunächst einmal die Unschuldsvermutung gilt. Und: Dass etwas schwer vorstellbar ist, heißt nicht, dass es unmöglich ist. Was Josef F. gemacht hat, ist erst recht kaum vorstellbar, und trotzdem ist es passiert. Und gerade weil Josef F. offenbar mit einer für andere Menschen nicht nachvollziehbaren kriminellen Energie, Fantasie und Präzision vorgegangen ist, gewinnt die Behauptung seiner Ehefrau, sie habe ihn nicht durchschaut, an Glaubwürdigkeit.

Von außen und im Nachhinein kann man leicht miss-trauisch sein, verächtlich, überlegen. Wieso lässt sie sich von einem Despoten herumkommandieren, warum hält sie sich an seine Ge- und Verbote (zum Beispiel an das, seine Werkstatt nicht zu betreten, wo hinter einem Regal die Tür zum Verlies war)? Aus Furcht? Aus Liebe? (Ja, auch Despoten werden geliebt, die Liebe ist eine hinterhältige Schlampe, würde sie sich ausschließlich an die guten Charaktere schmiegen, sähe die Welt anders aus.) Oder weil sie eben das war, was man in konventionellen Kreisen eine gute Ehefrau nennt?
So wie es sich derzeit darstellt, kümmerte sich Frau F. um sieben Kinder und mindestens drei Enkelkinder, und zwar sorgfältig und tadellos. Vielleicht blieben Frau F., könnte man vermuten, weder Zeit noch Kraft, ihren Mann zu beobachten, vielleicht ging sie einfach ihren umfangreichen Pflichten nach und er dem, was sie für seine hielt, und damit hatte sich’s? Vielleicht hat sie aber auch der Schmerz um die verlorene Tochter, die vermeintlich missratene, innerlich gebrochen? Mehrere Deutungsmöglichkeiten. Ergriffen wird nur die: Muss doch was gewusst haben. War schließlich dem Täter am nächsten. Dabei verhindert gerade ein Naheverhältnis, dass man einem Menschen Unmenschliches zutraut. Eine monströs absurde Form nahm das Klischee von der für alles verantwortlichen Mutter in der ORF-TV-Sendung „Im Zentrum“ am 27. April an, als der Amstettner Bezirkshauptmann mitten in der Debatte um den Kriminalfall Josef F. plötzlich feierlich mitteilte: Als Vater von drei Kindern sei er dankbar, dass seine Frau zu Hause bleiben durfte, als die Kinder in der Pubertät waren. Niemand in der Diskussionsrunde schrie auf oder fragte auch nur nach, was denn, um Himmels willen, damit gemeint sei, im Zusammenhang mit einem Verbrechen, bei dem eine Mutter bizarrerweise 24 Jahre lang zu Hause war, und zwar eingesperrt in einem Keller? Weil es offenbar nicht um Logik geht. Sondern um Schuldzuweisungen. Und der Hinweis, dass sich Mütter nur dann nicht schuldig machen, wenn sie zu Hause bleiben, zieht immer.

Der Leiter des niederösterreichischen Kriminalamts wiederum glaubt Frau F. Wie er das begründet, ist allerdings einigermaßen sonderbar. Frau F. könne, sagt er, nichts gewusst haben, denn welche Frau, so fragt er, hätte zugesehen, wie der Mann mit der eigenen Tochter ein neues Leben beginnt?
Dieser hochrangige Kriminalbeamte – der in einer Pressekonferenz mehrmals fast beeindruckt auf die erhöhte sexuelle Potenz des dynamischen Täters verwies – reduziert also ein unfassbares Gewaltverbrechen auf das Muster Alter Hengst mit junger Frau und spricht Frau F. lediglich wegen mangelnder Stutenbissigkeit vom Verdacht der Mitwisserschaft frei. Und noch mehr schnelle Brüter allerorten, flinke Ferndeuter der Täterpsyche, der Opferpsychen, der nachbarlichen Charaktere, der österreichischen Seele. Eine Traumatherapeutin attestiert der gefangenen Tochter ungschaut
via Zeitung das Stockholm-Syndrom („… so umgedreht, dass sie auch freiwillig geblieben ist“), ein Psychologe sieht im allseits als despotisch beschriebenen Tatverdächtigen eine „unsichere Persönlichkeit“, gewerbsmäßige Kommentatoren geißeln die österreichische Untertanenmentalität, die sich im Wegschauen der Nachbarn manifestiere. Weil, siehe oben: Die müssen doch was bemerkt haben. Müssen sie? Muss ich es merken, wenn eine Familie mit drei Kindern, zwei Häuser weiter, für fünf Kinder einkauft? Spricht es gegen mich, wenn ich meinen Mitmenschen über den Weg traue und mir einfach nicht vorstellen kann, dass sie Unvorstellbares tun? Der Amstettner Kriminalfall wirft eine Menge Fragen auf. Darunter auch die, warum sich Hinz und Kunz berufen fühlen, sie vorschnell zu beantworten.