Aktion "Nakam": Die Nazi-Mörder

Die Nazi-Mörder: Wie junge österreichische Juden NS-Verbrecher ermordeten

Wie junge Juden NS- Verbrecher ermordeten

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Von Herbert Lackner

Seine Eltern nannten ihn Fredl. Alfred klang zu steif im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring. Also Fredl Müller, geboren 1921 in der Thaliastraße, nicht weit vom Gürtel. Juden gab es in Ottakring nur wenige: die Dichters etwa, die drüben am Brunnenmarkt ein Kaufhaus betrieben; den Schuhmacher Brauer, dessen Sohn Arik so gut malen konnte – und eben auch die Müllers, Arbeiter, wie fast alle in dieser ärmlichen Vorstadt. An jedem 1. Mai zog Fredl auf seinem mit rotem Krepp zwischen den Speichen geschmückten Fahrrad auf den Rathausplatz und hörte die Reden von Karl Seitz und Otto Bauer. Der Vater war schließlich Mitglied beim Schutzbund, der Wehrorganisation der Sozialdemokraten. Religiös war die jüdische Familie Müller aus der Thaliastraße nicht.

Mit 14 begann Fredl die Schlosserlehre in einer Werkstätte im Nachbarbezirk Fünfhaus. Einmal in der Woche besuchte er die Berufsschule in der Mollardgasse. Alles schien vorgezeichnet. Bis zu jenem Tag im März 1938, nach dem so viele Leben eine dramatische Wendung nahmen. Wie auch jenes von Fredl Müller, den die Zeitläufte in ein fernes Exil und schließlich zu einer Geheimtruppe verschlugen, an deren Aktionen sich die Zeitgeschichtsforschung bis heute nur sehr zögernd versucht: jener Einheit junger, meist aus Österreich oder Deutschland stammender Juden, die in den ersten Wochen nach Kriegsende etwa 100 – manche Schätzungen gehen bis 300 – am Holocaust beteiligte SS- und Gestapo-Männer ermordete.

Gnadenlose Rache in gnadenloser Zeit.
An jenem Märztag ’38, an dem sich sein Leben ändern sollte, stand der 17-jährige Schlosserlehrling Alfred Müller an der Ringstraße, sah die Nazis die Stadt übernehmen und beschloss, das Land zu verlassen. Im Februar 1939 hatte er die nötigen Papiere beisammen und verabschiedete sich von den Eltern, die er nie mehr sehen sollte. Am 15. März legte sein Schiff in Palästina an. Am selben Tag marschierten Hitlers Truppen in Prag ein.
Fredl Müllers Vater wurde wenig später von der Gestapo zur Zwangsarbeit nach Norddeutschland verschleppt. 1941 kam er zu Tode geschunden nur noch zum Sterben heim in die Thaliastraße. Wenige Tage danach wurde die Mutter deportiert.

Eingeholt. Der Krieg holte Fredl Müller – oder Chaim Miller, wie er nun hieß – auch in Palästina ein. Im September 1940 bombardierte die italienische Luftwaffe Tel Aviv. In Nordafrika rückten Rommels Panzer vor. Die 500.000 Juden im britischen Mandatsgebiet Palästina fürchteten, der deutsche Vormarsch würde auch über sie hinwegrollen. Die zur Abwehr arabischer Überfälle gegründete Selbstschutzorganisation Haganah, Vorläuferin der späteren Armee Israels, plante ein Kommandounternehmen: Etwa 40 Juden aus Österreich und Deutschland sollten für Sabotageaktionen hinter die deutsche Linie geschmuggelt werden. Chaim Miller, nunmehr Schlosser im Kibbuz Kfar Menachem, meldete sich freiwillig.

Monatelang wurde die kleine Einheit mit dem „Lehrbuch für den Felddienst“ und an deutschen Waffen ausgebildet. Sie trugen erbeutete deutsche Uniformen und sprachen nur Deutsch. Selbst die Lieder der verhassten Nazis mussten sie lernen. Chaim Miller kann sie bis heute: „Die Fahne hoch/ die Reihen fest geschlossen!/ SA marschiert/ mit ruhig festem Schritt“, intonierte er vergangene Woche beim Treffen mit profil das Horst-Wessel-Lied, zu dem die Mörder seiner Familie marschiert waren. Zum „Training“ wurden die jüdischen Aktivisten in Kriegsgefangenenlager der Briten geschmuggelt, wo sie deutsche Soldaten über Pläne und Truppenstärke aushorchten.

Die britische Armeeführung hielt die geplante Geheimaktion der Juden für das, was sie wohl war: ein Himmelfahrtskommando, bei dem keiner der Kämpfer mit dem Überleben rechnen konnte. Bevor Millers „deutsche Einheit“ hinter den deutschen Linien zum Einsatz kam, schlug der britische General Bernard Montgomery Rommels Panzerarmee im August 1942 bei El Alamein zurück. Doch nun waren die Juden in Palästina fest entschlossen, selbst einen Beitrag zur Niederringung der Nazis zu leisten – ein Entschluss, der durch die immer häufiger eintreffenden Gerüchte über das Grauen in den Konzentrationslagern noch maßgeblich angestachelt wurde.

Juden im Krieg. Immer nachdrücklicher verlangte der spätere Staatsgründer David Ben Gurion vom britischen Premierminister Winston Churchill das Aufstellen einer „jüdischen Division“. Erst im September 1944 gab Churchill nach. Die „Jewish Brigade Group“ umfasste 5000 Mann. Sie war Teil der 8. Britischen Armee, ihr Abzeichen war der Davidstern. Bei einem feierlichen Flaggenappell verlas ein Korporal „Zwölf Gebote des hebräischen Soldaten auf deutschem Boden“: „Erinnere dich an deine ermordeten Brüder … Betrage dich als Jude, der stolz auf sein Volk ist und auf seine Fahne. Beflecke nicht die Ehre, und mische dich nicht unter die Deutschen.“ Erstmals seit 2000 Jahren zogen wieder Männer unter dem Symbol des Judentums in den Krieg. Im konkreten Fall war das der Krieg in Italien. Einer der Soldaten ist Chaim Miller.

Als er Anfang Mai mit seiner Einheit in Italien landet, ist Deutschland praktisch schon geschlagen. An den Seiten der vor­rückenden Dodge-Lastwagen hat die „Jewish Brigade“ Transparente angebracht: „Deutschland kaputt! Kein Reich! Kein Führer! Die Juden kommen!“ Die Briten fürchten Racheaktionen und stationieren die jüdischen Truppen vorsichtshalber diesseits der Grenze. Millers Gruppe liegt bei Tarvis, jenem Grenzort, durch den einst auch er geflohen war, der 18-jährige Fredl aus Ottakring.

Jetzt ist er 24, und er und die rund 40 Kameraden seiner Einheit sind unglücklich: Sie wollen kämpfen, sie wollen die Mörder ihres Volkes selbst niederringen – und nun liegen sie bei Tarvis, und der Krieg ist vorbei.
Eines Tages, Mitte Mai 1945, belebt sich die von Österreich herüberführende Straße. In Zügen und auf Armeelastwagen kommen Überlebende aus den Vernichtungslagern der Nazis vorbei: zerlumpte, gepeinigte Gestalten, dem Tod noch näher als neuem Leben. Ihre Geschichten sind Kompendien des Grauens. Sie erzählen von den Hunden, die die SS auf sie hetzte, den Peitschen der Aufseher, den Selektionen, den Gaskammern, den Öfen, sie erzählen vom millionenfachen Tod.

Die jungen Juden wissen, dass sie auch vom Schicksal ihrer eigenen Familien erzählen, vom Tod ihrer Eltern, ihrer Geschwister, ihrer Freunde. Im Dreiländereck zwischen Österreich, Deutschland und Italien sind in diesen Tagen auch jugoslawische Partisanen unterwegs, unter ihnen die damalige Ehefrau ­Titos. Sie geben den Juden Listen mit den Adressen höherrangiger SS-Männer und von Gestapo-Beamten. Weitere Adressen finden sich zufällig in der Datei des Spitals in Tarvis. Und auch jüdische Mitarbeiter im britischen und amerikanischen Geheimdienst recherchieren und versorgen die jüdische Brigade mit Informationen. Insgesamt verfügen Miller und seine Kameraden über 700 Täternamen. Die Aktion „Nakam“ – das hebräische Wort für Rache – kann beginnen. „Ich war im Raum Klagenfurt, Villach und Lienz eingesetzt“, erzählt Chaim Miller, „wir fuhren meist in Dreiergruppen am Abend los.“

Den Davidstern am Revers nehmen die Rächer vorher ab. Die aufgespürten NS-Schergen sollen glauben, es mit britischen Soldaten zu tun zu haben, die sie zum Verhör holen. Aber schon auf der Fahrt geben sich die Juden zu erkennen. Die meisten der gekidnappten Nazis hätten darauf mit tiefer Verzweiflung reagiert, erzählt Miller. In einem Wald nahe Tarvis wird Gericht gehalten: Ältere und erfahrenere Soldaten der jüdischen Brigade führen die Verhöre durch. Einige der SS- und Gestapo-Männer müssen selbst ihr Grab schaufeln, so wie es die Juden in den von den Deutschen besetzten Gebieten tun mussten.

Danach werden sie erschossen. Er sei bei etwa 20 Hinrichtungen dabei gewesen, sagt Miller und: Ja, auch er habe einmal einen Mann erschossen. „Niemand wurde dazu gezwungen. Es wurde beschlossen, und es wurde getan.“ Hatten die des Judenmords Verdächtigten eine realistische Chance, bei diesem „Gericht“ im Wald von Tarvis freigesprochen zu werden? Miller denkt lange nach: Ja, einmal sei ein Mann wieder freigelassen worden, erinnert er sich. Aber nur einmal.

Gletscherspalten. Manchmal sind die jüdischen Soldaten in britischen Uniformen auch nur touristisch in der alten Heimat unterwegs. Im Frühsommer 1945 fahren Miller und seine Freunde ins Großglocknergebiet. In einer Almhütte stoßen sie auf zwei Männer, die sich dort offenbar verbergen. Auf der Innenseite ihrer Oberarme tragen sie ihre Blutgruppe eintätowiert, 20 Zentimeter über dem Ellbogen, so wie es das SS-Regelwerk vorsah. Die beiden SS-Männer werden verhört und danach in eine tiefe Gletscherspalte geworfen. „Man hat nicht lange gefragt damals“, sagt Miller.

Die Vergeltungsaktionen werden von zwei Männern organisiert: Chaim Laskov, dem nachmaligen Generalstabschef der israelischen Armee, und Me’r Zorea, auch er später ein hoher General. Um die Jahresmitte 1945 agieren in Österreich mehrere unabhängig voneinander handelnde Kommandos: In Graz erschießen sie den SS-Obersturmführer Alois Gawenda, der für den Tod tausender Juden in Kroatien verantwortlich war. In Bad Aussee stöbern jüdische Brigadisten einen SS-Offizier auf, der an der blutigen Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto beteiligt war. Sie binden ihm einen Stein um den Hals und werfen ihn in den See.
In Turin entdecken sie in einem Flüchtlingslager einen polnischen Arzt, der SS-Männern gegen gute Bezahlung die Blutgruppen-Tätowierung entfernt.
In Wien erschießt ein jüdisches Kommando einen Mann, der Adolf Eichmann ähnlich sieht. Ein Nazi wird in seinem „arisierten“ Geschäft erschlagen. Ein SSler wird im Wienerwald mit einem Seidenstrumpf erdrosselt.

Die Angehörigen der Entführten wenden sich meist einige Tage nach deren Verschwinden an die jeweilige Besatzungsmacht, aber die Nachforschungen verlaufen stets im Sand. Nach dem Sommer wird Millers Truppe in die Niederlande versetzt. Die jüdische Führung in Palästina hat von den Vergeltungsmaßnahmen Wind bekommen. Sie passen nicht zu Ben Gurions politischen Plänen, die auf die Gründung eines Judenstaats hinauslaufen.

Im November 1945 wird der Haganah-Offizier Asher Ben Natan – später Israels erster Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland – nach Wien entsandt, um die Suche nach NS-Tätern in geordnete Bahnen zu lenken. So verhindert Ben Natan etwa die Durchführung des Plans, Rache an Adolf Eichmanns in Altaussee lebender Familie zu üben und dessen Kinder zu ertränken. Von seinem Büro in der Wiener Frankgasse aus spürt Ben Natan einen für grauenhafte Pogrome in Polen verantwortlichen SS-Führer auf. Ordnungsgemäß wird der Mann der US-Besatzungsmacht übergeben, die ihn nach Polen ausliefert. Dort wird er hingerichtet.

Giftige Pläne. Anderen dauert eine solche Prozedur zu lang. Ihr Wortführer wird der aus Litauen stammende Abba Kovner, eine wahrhaft schillernde Figur. Kovner war 23, als die Deutschen 1941 in seiner Heimatstadt Wilma einmarschierten und fast alle der 55.000 Juden der Stadt innerhalb weniger Wochen ermordeten oder in Vernichtungslager verfrachteten. Eine Szene beschrieb er später: „Der Soldat packte die Frau an den Haaren und riss sie nieder. Dabei fiel der Säugling zu Boden, den sie im Arm gehalten hatte. Der Soldat zog das Kind an einem Bein hoch, die Frau kroch auf ihn zu, umfasste seinen Stiefel und winselte um Gnade. Aber der Deutsche schlug das Baby mit dem Kopf gegen die Wand: einmal, zweimal …“ Kovner gelang es mit einer kleinen Gruppe junger Männer, in die litauischen Wälder zu entkommen, von wo aus er den Deutschen drei Jahre lang einen erbitterten Partisanenkampf lieferte.

Nun will er sie büßen lassen: So wie sie Millionen Juden umgebracht haben, will er Millionen von ihnen töten. Als Opfer hat er die Bewohner von Hamburg und Nürnberg erkoren, er will ihr Trinkwasser vergiften. Im Dezember 1945 läuft die Aktion an. Kovner hat bereits Agenten in die Wasserwerke eingeschleust und in Palästina das Gift besorgt. In der Uniform eines Soldaten der „Jewish Brigade“ schifft er sich auf einem britischen Truppentransporter ein, um das Gift nach Europa zu bringen. Aber die jüdische Führung in Palästina und ihre Geheimarmee Haganah haben Wind von der Aktion bekommen und den Briten offenbar einen Tipp gegeben. Kurz vor der Landung im französischen Hafen Toulon wird Kovner verhaftet und verschwindet für vier Monate in einem britischen Militärgefängnis in Ägypten.

Die Aktion ist geplatzt. Aber Kovners Leute geben nicht auf. Ihr neuer Plan ist ein Giftanschlag auf die 12.000 im Gefangenenlager Langwasser bei Nürnberg inhaftierten SS-Männer und NS-Größen. Eine Aktion mit Symbolkraft: Auf dem Gebiet des Gefangenenlagers befand sich zuvor Hitlers Reichsparteitagsgelände. Die ehemaligen jüdischen Partisanen schleichen sich im April 1946 in die Lagerbäckerei und bestreichen 3000 Brotlaibe mit Gift. Am nächsten Tag krümmen sich 2200 Gefangene vor Schmerzen, aber keiner stirbt. Die Giftmenge war offenbar zu gering bemessen gewesen. Der Gruppe gelingt die Flucht nach Palästina, wo sich die Männer gemeinsam mit Kovner im Kibbuz EnHaHoresch ansiedeln. Kovner tut sich im Nahostkrieg 1948 als verwegener Haudegen hervor. Danach veröffentlicht er mehrere Lyrikbände und seine Lebenserinnerungen. Er bekommt Literaturpreise und stirbt 1985 im Alter von 67 Jahren.

Kämpferamnestie. Einmal noch, 1949, rückt ein jüdisches Kommando aus. In Berlin wollen die drei Rächer in das Spandauer Zuchthaus eindringen und die dort einsitzenden NS-Größen Karl Dönitz, Albert Speer und Rudolf Hess erschießen. Von der Wohnung des Filmproduzenten Artur „Atze“ Brauner aus sondieren sie die Lage – und geben den Plan wegen Undurchführbarkeit auf.

„Wir haben in Israel 50 Jahre lang über all das nicht gesprochen“, sagt Chaim Miller. Dann, Mitte der neunziger Jahre, begannen zwei deutsche Journalisten, Jim Tobias und Peter Zinke, mit Recherchen für ein Buch zu diesem Thema. Erste Ergebnisse wurden in „Spiegel-TV“ präsentiert, wor­auf die bayrische Justiz – bei der Verfolgung von Nazis hatte sie sich nicht mit Ruhm bekleckert – sofort Verfahren wegen Mordes gegen die involvierten Mitglieder der ­„Jewish Brigade“ einleitete. Nach internationalen Protesten wurden diese im Mai 2000 eingestellt.

In Österreich wären die Taten wohl unter die so genannte „Kämpferamnestie“ gefallen: Die Regierung Renner hatte im Dezember 1945 ein Gesetz beschlossen, wonach alle zwischen Mai und Dezember 1945 begangenen Straftaten nicht weiter verfolgt werden, wenn sie im Kampf gegen den ­Nationalsozialismus oder in der Absicht erfolgten, „ein selbstständiges, unabhängiges und demokratisches Österreich wiederherzustellen“.

Vorvergangene Woche sprach Chaim Miller auf Einladung der Aktion „Letter To The Stars“ in mehreren österreichischen Schulen. Die Wiener SPÖ lud ihn am 1. Mai als Gast auf die Ehrentribüne am Rathausplatz ein. Erstmals seit 1932 erlebte er wieder eine Maifeier (1933 war sie bereits verboten). Vor den Schülern wollte er nicht auf die Details jener unbarmherzigen Zeit eingehen. Aber er steht dazu: „Heute würde ich das natürlich nicht mehr tun, aber damals – damals war alles gerecht.“ Auch mit 88 arbeitet er noch als Schlosser im Kibbuz. Erst vergangenes Jahr hat er erfahren, wie seine Mutter starb: Nachdem man sie aus dem Haus in der Thaliastraße geholt hatte, wurde sie in einem Viehwaggon nach Riga deportiert und dort sofort nach ihrer Ankunft erschossen.

Fast zur selben Zeit, als Miller und seine Kameraden in Österreich Nazi-Täter umbrachten, kam es in Polen bereits wieder zu den ersten Judenpogromen. In der Stadt Kielce wurden 41 polnische Juden, die die Konzentrationslager überlebt hatten, von einem katholischen Mob bei lebendigem Leib verbrannt.