Leitartikel: Herbert Lackner

Die dritte Republik

Die dritte Republik

Drucken

Schriftgröße

Die Analyse von Leserbriefen, ORF-Anrufprotokollen und Internet-Debatten eignet sich nicht wirklich für eine wissenschaftliche Auslotung der Volksmeinung. In Zeiten allerdings, in denen sie weitgehend deckungsgleich sind, in denen die Akademiker fast ebenso denken wie die Mindest­rentner, der vornehme Industrielle nicht viel anders argumentiert als der Bodybuilder im Sportlercafé ums Eck, ja wenn selbst die parteipolitischen Präferenzen egal sind – dann leuchtet ein kollektives Wollen auf. Derzeit, zum Beispiel, langen in den Zeitungen, in den Telefonzentralen des ORF und in den Internet-Foren kaum Reaktionen ein, die der einen oder der anderen Partei die Schuld an der gegenwärtigen Misere geben. Aus ihnen spricht meist auch kein besonderer Zorn über „die da oben“, sondern – weit schlimmer – nur noch blanke Verachtung. Man will nichts mehr, man erhofft sich nichts mehr, die Mehrheit will nicht einmal Neuwahlen: Die würden doch auch nichts ändern. Wirft ein Politiker in den Abendnachrichten reflexartig die Stirn in Falten und mahnt, nun gelte es zu arbeiten statt zu streiten, glaubt das schon längst niemand mehr. Gäbe es die Möglichkeit, den Bundeskanzler direkt zu wählen, käme laut vorwöchiger OGM/profil-Umfrage Alfred Gusenbauer auf 11, Wilhelm Molterer auf kaum bessere 14 Prozent. Wolfgang Schüssel, wahrlich kein Idol der Massen, hatte oft Werte jenseits der dreißig Prozent verbucht. Franz Vranitzky und sogar Viktor Klima waren durchgängig bei mehr als sechzig Prozent gelegen. Selbst die eigenen Parteifreunde nehmen jetzt kaum noch Rücksicht: Der Tiroler SP-Chef Hannes Gschwentner lässt ausrichten, Gusenbauer brauche gar nicht erst beim nächsten Parteitag anzutreten, wenn er jetzt der ÖVP nachgibt. Da ist kein Respekt mehr, weder vor dem Amt noch vor dem Amtsträger. Der Kanzler – ein Reibebaum, an dem man sich die Krallen für Wahlen im eigenen Bundesland schärft, mehr nicht. In der ÖVP ist es übrigens nicht viel anders, das Getuschel ist nur etwas diskreter. Haben das alles Gusenbauer und Molterer verspielt? Ist ihre Vorstellung tatsächlich so jämmerlich, dass das Ansehen der Politik so tief im Keller gelandet ist? Gut ist es nicht gelaufen, in diesen vierzehn Monaten ihrer Regierungszeit, viel haben sie nicht vorzuweisen. Aber so unfähig, dass ihnen ein so hohes Maß an Verachtung entgegenschlägt – das ­waren Gusenbauer und Molterer sicher nicht. Hinter dem erschreckenden Autoritätsverlust hoher staatlicher Instanzen steckt mehr als bloß ein – zu­gegebenermaßen ärgerlicher – Zank innerhalb einer Regierung. Stillstand hatte es schließlich auch in den großen Koalitionen vor dem Jahr 2000 immer wieder gegeben, Wähler der Großparteien waren zeitweise in hellen Scharen zur Großsprecherpartei Jörg Haiders abgewandert. Trotzdem hatte man darauf vertraut, dass „die Politiker“ im Großen und Ganzen schon das Richtige tun werden, wie sie ja auch damals das Richtige getan haben: beim Wiederaufbau nach 1945, beim Staatsvertrag, bei der Modernisierung von Staat und Gesellschaft in den siebziger Jahren. Noch 1994 hatten zwei Drittel für den EU-Beitritt gestimmt, als SPÖ und ÖVP dies empfahlen. Dieser in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Nimbus der Politik war belastungsfähig. Er überdauerte ein halbes Jahrhundert und ist nicht erst jetzt untergegangen, sondern wohl schon in den Turbulenzen der Zeitenwende 1999/2000. Der Ansehensverlust hat übrigens nicht nur die Politik getroffen: Kirche, Polizei und sogar Ärzteschaft wurden davon ebenso erfasst wie zuletzt auch die Wirtschaft, wo einige Raffzähne zuerst obszöne Millionengagen kassierten, um sie dann steuerschonend in einem liechtensteinischen Briefkasten zu bunkern.

In anderen Ländern gab es diese Entwicklung schon früher. In Italien war das durch und durch korrupte Parteiensystem schon in den neunziger Jahren krachend in sich zusammengebrochen. Auf seinen Trümmern bildeten sich neue politische Konfigurationen, die – siehe Berlusconi – oft nicht viel weniger fragwürdig waren. In den USA haben jene Politiker die größten Chancen, gewählt zu werden, die am nachhaltigsten vermitteln können, sie seien eigentlich gar keine. Der beliebteste Präsident des 20. Jahrhunderts war Ronald Reagan, der mit der Agitation gegen „big government“ das mächtigste Amt der Welt erkämpft hatte. Im Extremfall pervertiert dort solches Denken zu rabiater Antistaatsideologie, die dann von einigen Käuzen und ihren Sekten mit der Flinte in der Hand verteidigt wird. So weit ist es in Österreich nicht, und so wird es wegen der völlig anderen Traditionen wohl nie kommen. Auch eine Radikalisierung des Parteiensystems – etwa das Entstehen einer populistischen Linkspartei wie in Deutschland – ist hierzulande kaum vorstellbar. Wahrscheinlicher ist eine typisch österreichische Konsequenz: Rückzug in die Gleichgültigkeit. Für eine lebendige Demokratie ist auch das Gift.