Sexualität - Alfred Kinsey: Intim-Work

Die sexuelle Revolution: Die freie Liebe 57 Jahre nach dem Kinsey-Report

Wie frei lieben die Menschen heute wirklich?

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In seinem enthusiastisch rezipierten Roman „Strategie“ (2004) beschreibt der britische Autor Adam Thirlwell die sexuellen Verrenkungen eines jungen Pärchens: „Nana und Moshe hatten sich ineinander verliebt. Nachdem das passiert war, haben sie auch die Missionarsstellung, Oralverkehr, Rollenspiele, Lesbianismus und den Dreier ausprobiert. Nicht alles davon mit Erfolg. Eigentlich kaum etwas davon mit Erfolg …“

Damit wären die negativen Nebenwirkungen, mit denen die Kinder der sexuellen Revolution zu kämpfen haben, auch schon kurz und illusionslos umrissen: Wer alles darf, will möglicherweise gar nicht immer alles dürfen müssen. Die verordnete Tabulosigkeit brachte auch Leistungsdruck, Frustration und Ratlosigkeit mit sich.

Als der US-Biologe Alfred Kinsey Ende der dreißiger Jahre seinen Forschungsfanatismus von den Gallwespen auf das menschliche Triebleben (siehe Kasten Seite 94) übertrug, befand sich Amerika auf einem vorsintflutlichen Aufklärungsniveau. Nicht selten wurde der Wissenschafter im Zuge seiner Interviews bei der Frage: „Welche Stellung bevorzugen Sie?“ mit der Gegenfrage: „Wieso? Gibt es mehrere?“ konfrontiert. In einer Zeit, in der Selbstbefriedigung und Homosexualität als pathologische Phänomene gewertet wurden, hatten Kinseys statistische Exkursionen in die Tabuzonen der menschlichen Sexualität kernerschütternde Wirkung. Sein forschender Blick unter Amerikas Tuchent bewies, dass moralische Zwänge und Informationsdefizite die Menschen keineswegs davon abhielten, ihren inneren Trieben nachzugehen, nur hatten sie bislang nicht gewagt, offen darüber zu sprechen.

Wegbereiter. Anfang März läuft die leidlich ungeschönte Hollywoodproduktion „Kinsey“ mit einem herausragenden Liam Neeson in der Titelrolle in den österreichischen Kinos an, die bei ihrem US-Start im vergangenen November unter schweren Beschuss christlicher Fundamentalisten geraten war. Zum selben Zeitpunkt erscheint T. C. Boyles biografischer Roman „Dr. Sex“ (siehe Interview) in der deutschen Übersetzung. Dass der Mann, der nach Sigmund Freud und Wilhelm Reich als wichtigster Wegbereiter der sexuellen Revolution gilt, nun von der Popkultur gefeiert wird, ist kein Zufall, hat sich doch im Amerika des George W. Bush erneut der Geist der sexuellen Repression eingenistet. Die Wiederaufnahme der Abtreibungsdebatte, das Verbot der Ehe unter homosexuellen Paaren, die der US-Präsident schlicht als „überflüssig“ klassifiziert, sind die prekärsten Indizien für den moralischen Backlash.

Das Kinsey-Credo, wonach „zwischen zwei Menschen alles erlaubt sein sollte, sofern beide einverstanden sind“, bekommt in diesem Kontext eine neue Aktualität. Freud, den Begründer der Psychoanalyse, und den gelernten Biologen Kinsey verband die Überzeugung, dass die menschliche Sexualität als eine dem rationalen Bewusstsein gleichzustellende Kraft zu werten sei. Doch während der Psychopatriarch Freud in seinen ansonsten bahnbrechenden Sexualtheorien das Lustempfinden der Frau als „passiv“ abwertete und den klitoralen Orgasmus als „unreif“ klassifizierte, verzichtete der bisexuelle Kinsey auf jede Differenzierung zwischen den Geschlechtern, weil er die sexuelle Identität nur als gesellschaftliches Konstrukt wertete.

Machte ihn die erste Kinsey-Studie „Das sexuelle Verhalten des Mannes“ 1948 noch zum cover- und bestsellerlisten-tauglichen Volkshelden, so führte das gegengeschlechtliche Pendant fünf Jahre später zu einem dramatischen Karriereknick. Die Öffentlichkeit reagierte auf den Kinsey-Report „Das sexuelle Verhalten der Frau“ dermaßen schockiert, dass die Rockefeller Foundation es sich nicht länger leisten wollte, ihn zu unterstützen. „Amerika kann dir nicht verzeihen“, erklärt die für ihre Darstellung der Mrs. Kinsey für den Oscar nominierte Laura Linney, „dass du ihm erzählst, seine Mütter und Großmütter würden fremdgehen und sich selbst befriedigen.“

Forschungszugang. Insgesamt kann die Historiografie der Sexualität nur auf eine rund hundertjährige Geschichte zurückblicken. Zwar hatte man sich schon in früheren Jahrhunderten für das Sexualverhalten interessiert, dabei aber vor allem „pathologische“ Aspekte wie Geschlechtskrankheiten, Prostitution und Onanie beschrieben. Ein „gesunder“ Forschungszugang war vor Freud stets vom moralischen Selbstbild der Gesellschaft blockiert worden. Kinseys aufklärerische Wirkung bestand in der Aufhebung der Kluft zwischen allgemein approbierten Moralstandards und gelebter Liebespraxis.

Der unpolitische Naturwissenschafter taugte in der ideologietrunkenen Ära der Befreiungstheoretiker jedoch nur bedingt als argumentative Stütze. Eher beriefen sich die Apo-Revolutionäre auf den Wiener Freud-Schüler und späteren Dissidenten Wilhelm Reich, der die Heilung von „Bewusstseinsverkrüppelungen“ durch „sexuelle Querverbindungen“ propagiert hatte.

Vom Reich’schen Glauben an die transformative Kraft der Sexualität beseelt, zogen die Studenten und Arbeiter in Paris, Berlin und Hamburg zuerst zum Klassenkampf auf die Straßen und dann in die Matratzenlager, um die „versteinerten Liebesverhältnisse“ zum Tanzen zu bringen. „Make love – not war!“, lautete die Kampfparole. Die Berliner „Kommune 1“ um Rainer Langhans und Revolutionsbeauty Uschi Obermaier, in der das Jeder-mit-jedem-Prinzip zum Haussegen ausgerufen wurde, brachte es sogar auf die Titelseite des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“.

„Carte blanche“. Die neue Promiskuität wurde aber nicht nur ideologisch munitioniert. 1957 war in den USA das erste orale Verhütungsmittel zugelassen worden, das 1960 auf den Markt kam. 1961 war die Antibabypille auch in Österreich erhältlich. Als Väter des revolutionären Medikaments, das den Frauen zuerst die Angst vor ungewollter Empfängnis nahm und in der Folge die „Carte blanche“ zur sexuellen Selbstbestimmung gab, gelten der aus Österreich stammende Chemiker Carl Djerassi und der US-Biologe Gregory Pincus. Die Königsidee zu dem Präparat, das häufig neben der Relativitätstheorie, der Atombombe und dem Internet als folgenreichste Erfindung des 20. Jahrhunderts genannt wird, stammte allerdings von zwei betagten Damen namens Margaret Sanger und Katherine McCormick. Bei einem Abendessen mit Pincus meinten sie, beide weit über 70, dass sich wohl am sichersten verhüten ließe, wenn man bereits schwanger gewesen sei. Warum sollte sich dieser Zustand im Körper nicht chemisch simulieren lassen? Zehn Jahre verstrichen, ehe Pincus und Djerassi diesen Geistesblitz in Tablettenform pressen konnten.

Der „Boogie-Woogie der Hormone“ (Henry Miller), anderswo schon in den Sixties lustvoll getanzt, erreichte Österreich erst in den siebziger Jahren. „Die österreichische Gesellschaft war lange immun geblieben gegen alle Versuche der Erneuerung und Vergangenheitsbewältigung“, meinte der Kulturpublizist Peter Weibel.

Das bekannteste Pendant zur Berliner „Kommune 1“ initiierte der burgenländische Aktionist Otto Mühl, der seine radikale Lebensform-Alternative 1970 ins Leben rief. Das sozialaufklärerische Experiment „Friedrichshof“ entwickelte jedoch bald sektenähnliche Züge, denn Mühl wollte das Leben seiner Kommunarden bis ins intimste Detail kontrollieren. Erst 1990 jedoch wurde er abgesetzt, im Jahr darauf wegen Unzucht mit Minderjährigen zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Zu diesem Zeitpunkt herrschte im Märchenland der sexuellen Revolution längst Katerstimmung. Denn mit der neu gewonnenen Freiheit, „wen immer, wann immer vögeln zu können“ (so die Feministin Germaine Greer), war auch das Frustpotenzial dramatisch gewachsen.

Das endgültige Aus für die Party der Promiskuität kam 1981, als die ersten Aids-Fälle in den USA publik wurden. In der Reagan-Ära zunächst als „Schwulenkrebs“ abgetan, beunruhigte die tödliche Immunschwäche-Krankheit bald eine breite Öffentlichkeit, weil Heterosexuelle davon gleichermaßen betroffen waren.

Neue Permissivität. In Österreich wurde der erste Aids-Tote 1983 registriert. Die Parole „Safe Sex“ stand für einen neuen, risikobewussteren Umgang mit freier Sexualität. Die Entwicklung spezieller Medikamente, die das Krankheitsbild stabilisierten und den HIV-Infizierten den bis dahin sicheren Aids-Tod ersparten, führte in den neunziger Jahren zu einer neuen Form der Permissivität. Fetischismus, Pornografie und Sadomaso-Inszenierungen sickerten unaufhaltsam in den Alltag ein. In Nachmittags-Talkshows plauderte das TV-Proletariat freizügig über Vibratoren, Schwanzlängen und sexuelle Obsessionen. Fitness-Studios und das Internet wurden zu zentralen Foren libidinöser Ersatzbefriedigung.

In seinem Essay „Hooking Up“ schrieb der US-Schriftsteller Tom Wolfe vor fünf Jahren, die sexuelle Revolution sei zu einem „gespenstischen Karneval“ pervertiert worden. Der französische Philosoph Jean-Claude Guillebaud spricht von einer „Tyrannei der Lust“ und beklagt, dass die heutige, krankhaft intimitätsfixierte Gesellschaft im historischen Vergleich zugleich „die am wenigsten erotische ist, die es je gab“.

Dysfunktionen. Die (mediale) Diktatur der totalen Lust begünstigt auf der anderen Seite einen massiven Backlash, der sich vor allem in einer neuen Prüderie und dem verstärkten Auftreten sexueller Störungen niederschlägt. Die Potenzpille Viagra, 1998 vom Pharmakonzern Pfizer auf den Markt gebracht, machte zwar kurzfristig „aus schlaffen Managern Könige des Urwalds“ („Newsweek“), konnte jedoch die biologische Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass die Kommandozentrale der Lust noch immer im Kopf sitzt.

Eine repräsentative Untersuchung unter der Ägide des Wiener Spitals SMZ Ost ergab vergangenen Sommer, dass etwa eine Million Österreicher an Erektionsproblemen leiden. Über 300.000 Männer haben gar mit einer mäßigen bis ausgeprägten Form der erektilen Dysfunktion zu kämpfen. Erstaunlicherweise treten Potenzschwierigkeiten in der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen genauso oft auf wie bei den Befragten zwischen 40 und 50 Jahren. Noch immer sei das Eingeständnis des Problems für Männer „ein schwieriges Thema“, sagt der Studienleiter und Urologe Stephan Madersbacher.

Auch die Realität des weiblichen Begehrens sieht sehr viel trister aus, als es die kürzlich eingestellte Kultserie „Sex and the City“ sechs Staffeln lang suggerierte. Jüngste einschlägige Studien in Österreich und Deutschland zeigen, dass mindestens ein Drittel aller Frauen irgendwann im Leben mit sexuellen Funktionsstörungen konfrontiert ist. Libido- und Orgasmusprobleme sind für Frauen eher die Regel als die Ausnahme.

Auch ein halbes Jahrhundert nach Ausbruch der sexuellen Revolution täuschen immer noch neunzig Prozent der Frauen bisweilen den Höhepunkt vor, wie eine große Studie der Berliner Charité-Klinik ergab. Zehn Prozent der Befragten gaben an, den Orgasmus regelmäßig zu simulieren – meist aus Höflichkeit: 41 Prozent spielen dem Partner etwas vor, „um ihn zu bestätigen“.

Frohe Kunde immerhin von der Autonomiefront: Im Hite-Report aus dem Jahr 2000 vermeldet die Sexforscherin Shere Hite, „dass die Selbstbefriedigung inzwischen zum Alltag der Frauen gehört wie das Schminken“.

Trotz der medialen Übersexualisierung liegt das Aufklärungsniveau der österreichischen Jugendlichen unter dem internationalen Standard. Der Wiener Gynäkologe Werner Grünberger, Begründer der „First Love“-Ambulanzen, eines Beratungsservice für Jugendliche, hält fest, dass 68 Prozent der von ihm Befragten beim ersten Mal nicht verhüteten. Ein weiteres Indiz für gravierende Informationsdefizite: In der europaweiten Statistik von Teenagermüttern belegt Österreich Platz acht.

Über ein halbes Jahrhundert nach Kinsey wird die menschliche Intimsphäre in der medialen Öffentlichkeit hemmungsloser ausgebeutet als jemals zuvor. Doch im privaten Raum scheint die Sexualität noch nie so kompliziert gewesen zu sein wie heute. Nicht zuletzt diesem Paradox wohl verdankte die TV-Serie „Sex and the City“ ihre sensationellen Quotenerfolge.

„Wir sind alle paarfixiert wie die Gänse und promisk wie die Zwergschimpansen“, resümiert die amerikanische Schriftstellerin Erica Jong. „Dazwischen gibt es alle Schattierungen von Keuschheit und Sinnlichkeit. Wir müssen nur lernen, uns vor unseren Sehnsüchten nicht zu fürchten.“