gastkommentar: Heinz Fischer

Die Samen der Vielfalt

Die Samen der Vielfalt

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Die stärkste emotionale Bindung an Europa, das stärkste Gefühl meiner europäischen Identität hatte ich vor 32 Jahren, als ich im Jahr 1974 mit meiner Frau durch den Fernen Osten reiste. Über Moskau, Irkutsk und Pjöngjang kamen wir in das China der ausklingenden Kulturrevolution unter Mao Tse-tung. Zu diesem Zeitpunkt gab es dort fast keinen Tourismus. Es war ein völlig anderes China als heute. Und wenn meine Frau und ich auf dieser Reise auf einen Engländer oder Schweden trafen – was selten genug der Fall war –, begegneten wir einander als Europäer und hatten die Gemeinsamkeit, Europäer zu sein.

Was hat diese gemeinsame europäische Identität eigentlich ausgemacht? Die geografische Zusammengehörigkeit im Westen des eurasischen Kontinents? Religiöse oder kulturelle Einflüsse? Historische Erfahrungen? Oder was sonst?
Ich habe mir diese Fragen damals kaum gestellt und hätte sie natürlich auch nicht beantworten können. Heute, wo ich intensiv über diese Fragen nachdenke, weil das Erfassen der europäischen Gemeinsamkeiten von großer Wichtigkeit für die Zukunftschancen des europäischen Projekts ist, erkenne ich, wie verwirrend verknüpft die weit in die Geschichte zurückreichenden Fäden der europäischen Identität sind.

Am Beginn steht die Geschichte von der Entführung der jungen Europa durch Zeus. Aber dieses Mädchen namens Europa war keine Europäerin im heutigen Sinn, sondern eine phönizische Königstochter aus Kleinasien. Und Zeus war nicht die Gottheit einer monotheistischen Religion, wie sie heute in Europa dominieren, sondern er war der Göttervater eines polytheistischen Pantheon. Aber auch das heute in Europa vorherrschende Christentum hat seine Wurzeln in der Nähe der Heimat der phönizischen Königstochter und fand seine erste Ausbreitung in den Regionen rund um das Mittelmeer, die mit dem heutigen Europa absolut nicht identisch sind.

Das gleiche Bild, wenn wir einen Blick auf die kulturellen Wurzeln werfen. Europa verdankt bis heute sein Zahlensystem den Arabern. Das wunderbare Epos der „Ilias“, das so starken Einfluss auf die europäische Kultur ausübte, handelt vom Kampf um eine kleinasiatische Stadt, und Prometheus, der nach der Sage den Menschen verbotenerweise Licht und Aufklärung brachte, wurde zur Strafe an einen Felsen im heutigen Georgien geschmiedet. Aber auch das Museion von Alexandria, also gewissermaßen das Harvard der Antike als angesehenste „präeuropäische“ Ausbildungsstätte der damaligen Zeit, war in Ägypten angesiedelt.

Das heißt, viele Leuchttürme der aufblühenden europäischen Kultur und Wissenschaft stammen nach heutigen Begriffen nicht aus Europa, jedenfalls nicht aus Ländern der Europäischen Union. Erst aus der Summe dieser Leuchttürme, aus den Samen dieser kulturellen Vielfalt, aus den kleinasiatischen Denkschulen, aus den arabischen Einflüssen, aus Judentum und Christentum, aus Völkerwanderung und Völkervermischung, aus indogermanischen und slawischen Einflüssen, aus Humanismus und Aufklärung entwickelte sich allmählich jene europäische Kultur, jenes europäische Denk- und Lebensmodell, jener Katalog von Menschenrechten, das heißt jener moderne Begriff von Europa, in seiner Kompaktheit und in seiner Vielseitigkeit, dem wir heute auch politische Gestalt zu geben versuchen.

Für mich ist die Europäische Union ein großes politisches Projekt, in erster Linie ein Friedensprojekt, aber natürlich auch ein ökonomisches und kulturelles Projekt. Um Verständnis für dieses Projekt zu finden, müssen wir auch die Frage nach der Relevanz dieses Projekts für das tägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger stellen. Wir haben bekanntlich in vielen Mitgliedsländern der EU derzeit kein besonders freundliches Meinungsklima gegenüber der EU. Nur 45 Prozent der Europäer vertrauen derzeit der EU. Und ich denke, eine der Ursachen dafür besteht darin, dass unsere Bürgerinnen und Bürger einen beträchtlichen Unterschied verspüren zwischen schönen Prinzipien und großen Worten auf der einen Seite und ihrer ganz konkreten, schwierigen Lebenssituation auf der anderen Seite, die sie in manchen Fällen durch die EU nicht nur nicht positiv, sondern sogar negativ beeinflusst sehen.

Ein Beispiel dafür, das sich in Europa millionenfach wiederholt, ist wahrscheinlich eine Europäerin oder ein Europäer, der im Fernsehen das große Lob eines Politikers auf die positiven Auswirkungen des Binnenmarktes hört, aber gerade den Arbeitsplatz verloren hat, weil der regionale Arbeitgeber den Produktionsstandort in ein Niedriglohnland verlegt hat. Aus österreichischer Sicht wären da noch etliche weitere Sorgenkinder anzusprechen, wie zum Beispiel die Frage der Studienplätze, des Transits oder der Gentechnik. Aufgabe der nationalen und der europäischen Politik müsste es sein, auf diese Probleme frühzeitig und mit Sensibilität zu reagieren, um massive Einbrüche des Meinungsklimas zu vermeiden.

Wir müssen zugeben, dass wir trotz der nachweislichen Erfolge Europas in den letzten Jahren immer wieder Beispiele für den auf guter Beobachtung beruhenden Satz von Bertolt Brecht erleben, der da lautet: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ Genau dort befinden wir uns heute: in den Mühen der europäischen Ebenen, die uns offenbar mehr zu schaffen machen als alle Mühen des Anstieges und des Aufstieges in das gemeinsame Europa.

Nehmen wir etwa die so genannte EU-Verfassung. Ich weiß, dass dieser Verfassungsvertrag nicht als Stein der Weisen angesprochen werden kann, sondern einen hart erarbeiteten Kompromiss darstellt. Ich persönlich bin aber ein überzeugter Verteidiger dieses Verfassungsvertrages – trotz aller großen Verfahrensschwierigkeiten, die mir voll bewusst sind –, weil man nicht übersehen kann, dass gerade dieser Verfassungsvertrag viele konkrete Schritte anpeilt, die von Relevanz für das tägliche Leben der Bürger wären, wie zum Beispiel:

* die Charta der Grundrechte in Teil II des Vertrages,

* die direkte Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Union durch Einzelpersonen (gem. Art. III-365 (4) sowie Art. III-367 (3) VVE),

* das „Bürgerbegehren“ (gem. Art. I-47 VVE), wonach Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedsstaaten handeln muss, die Kommission auffordern können, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu bestimmten Themen zu unterbreiten, oder

* die Zielsetzung der Intensivierung der Koordination im Bereich Beschäftigung und Soziales und auch in anderen Politikbereichen

* und vor allem die Erleichterung und Beschleunigung der Willensbildung in Europa.

Der Verfassungsvertrag wäre ein wichtiger Schritt vorwärts auf dem Weg, die Zustimmung zum Projekt der europäischen Integration zu erhöhen, auch wenn er natürlich kein Allheilmittel sein kann, um die Zukunftssorgen und die Europaskepsis vieler Bürgerinnen und Bürger zu überwinden.

Dabei bin ich überzeugt, dass es nicht das europäische Projekt als solches ist, das Widerstände auslöst, es ist nicht der Grundgedanke der europäischen Zusammenarbeit, der Kritik auf sich zieht, sondern es sind bestimmte konkrete Erfahrungen. Es ist der reale Zustand der heutigen Europäischen Union der 25, der von vielen Menschen kritisch wahrgenommen und beurteilt wird.

An Beispielen besteht kein Mangel:

* Immer wieder werden nationale Interessen gegen Unionsinteressen ausgespielt.

* Viele Bürger und Bürgerinnen Europas fühlen sich mit ihren Sorgen nicht wahrgenommen und Lichtjahre entfernt von den Entscheidungsträgern in Brüssel und anderswo.

* Es gibt die große Versuchung, Erfolge zu nationalisieren und Unangenehmes zu europäisieren.

* Es gibt das Gefühl – und es ist mehr als ein bloßes Gefühl –, dass das demokratische Modell auf europäischer Ebene nicht oder noch nicht zufrieden stellend funktioniert.

Es ist auch wahr, dass die Antworten, die bisher den derzeit ungefähr 19 Millionen registrierten Arbeitslosen in Europa gegeben wurden, nicht befriedigend sind. Das Schicksal dieser Millionen Menschen ohne Arbeit ist aber bittere Realität. Daher müssen wir auch Ankündigungen und Ziele, die eine Reduzierung der Arbeitslosenzahl betreffen, bitter ernst nehmen.

Es ist meine feste Überzeugung, dass das Vertrauen in Europa in beträchtlichem Ausmaß vom Vertrauen in die soziale Stabilität Europas abhängt. Und Probleme im Bereich von Migration, Asylwesen oder innerer Sicherheit haben letztlich auch eine starke soziale Dimension.

Die Bewohner des europäischen Hauses, das ein friedliches und sicheres Haus sein soll und sein muss, brauchen aber auch ein festes Fundament gemeinsamer europäischer Werte, damit sich eine gute, solidarische Hausgemeinschaft entwickeln kann. Zu diesen Werten zählen vor allem die Menschenrechte einschließlich der gemeinsamen Ablehnung der Todesstrafe. Dazu zählt aber auch und ganz besonders ein gemeinsames Verständnis von Demokratie in Theorie und Praxis. Das Konzept der Demokratie ist nicht nur ein politisches, es ist auch eine Frage der politischen Kultur, die in der Teilnahme von mündigen Bürgerinnen und Bürgern an der politischen Willensbildung und in der Einhaltung von Spielregeln ihren Ausdruck findet. Die Demokratie braucht auch demokratiefähige Politikerinnen und Politiker.

Für mich steht fest, dass Toleranz zwischen verschiedenen Religionen, Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Staaten und friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Volksgruppen innerhalb eines Staates die Kulturentwicklung fördert.

Und in diesem Zusammenhang möchte ich einen Satz aus einem Brief von Sigmund Freud an Albert Einstein zitieren, welcher lautet: „Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.“

Das europäische Modell ist ein Friedens- und Zukunftsmodell. Es verdient Vertrauen und Zuversicht.