Wie lange werden wir künftig arbeiten?

Die Schwerarbeiterregelung aus dem Jahr 2003 verfolgt die ÖVP

Harmonisierung droht im Chaos zu versinken

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Am Ende hoben sogar Nationalratspräsident Andreas Khol und Staatssekretär Alfred Finz resignierend die Hand. Zuvor hatten sie „in einer ausgesprochen emotionalen Diskussion“ (ein VP-Vorstandsmitglied) noch alles versucht, um die übrigen Teilnehmer der Vorstandssitzung des schwarzen Arbeitnehmerflügels ÖAAB von der Notwendigkeit der Pensionsabschläge zu überzeugen. Vergebens.
Einstimmig – auch die Minister Elisabeth Gehrer und Günther Platter votierten ohne Murren dafür – fasste das ÖAAB-Gremium Donnerstag vergangener Woche den Beschluss, dass jene Staatsbürger, die nach 45 Beitragsjahren in Pension gehen wollen, keinerlei Einbußen hinnehmen dürften. „Als die Landesobmänner berichtet haben, dass die Menschen bei den Sprechtagen mit Tränen in den Augen darüber klagen, dass sie einfach nicht mehr könnten und endlich in Pension gehen wollten, ist die Stimmung schnell zu unseren Gunsten gekippt“, beschreibt ein Gegner des Regierungsentwurfs die Eigendynamik der ÖAAB-Klausur.
Mit seiner Forderung „45 Jahre sind genug“ führt der ÖAAB jedoch in Wahrheit ein Scheingefecht. Denn was aufmüpfig klingt, kostet wenig.
Der Teufel steckt im Detail: Gemeint sind nicht Versicherungsjahre, also auch Kindererziehungszeiten, längere Krankenstände und Arbeitslosigkeit, sondern echte Arbeit. Damit würden heuer nur 2000 bis 5000 Österreicher in den Genuss dieser Regelung kommen. Frauen und Schwerarbeiter wären wohl keine dabei. Denn gerade Bauarbeiter werden regelmäßig stempeln geschickt, wenn die Auftragslage nicht stimmt oder der Winter zur Pause zwingt. Die meisten Frauen im pensionsfähigen Alter wiederum haben ihrer Kinder wegen mehrere Jahre nicht gearbeitet. Die Nutznießer der vom ÖAAB forcierten Faustregel wären zum Beispiel Lehrlinge, die mit 15 bei einer Bank eingetreten sind und bis zur Pensionierung dort bleiben.

Die ÖVP-Spitze konnte die ÖAAB-Rebellen also getrost eine kleine Revolutionsposse ohne weit reichende Folgen inszenieren lassen.

Missliche Lage. Dennoch darf sich wieder einmal die Opposition freuen. Denn weder ÖVP noch FPÖ machen in der Schwerarbeiterdebatte derzeit eine besonders glückliche Figur.
Die Volkspartei hat sich ihre missliche Lage selbst zuzuschreiben. Im Streit um die Pensionsreform 2003 hatte die ÖVP nach wochenlangen Drohungen des Kärntner Landeshauptmanns Jörg Haider in letzter Sekunde doch noch eingelenkt. Als Unterpfand für die Zustimmung zur Pensionsreform versprach Wolfgang Schüssel der FPÖ im vergangenen Juni eine Sonderregelung für Schwerarbeiter. Ab 2006 soll diese die bisher geltende Hacklerregelung ersetzen.
Dieses in der Not abgerungene Zugeständnis sollte die Volkspartei noch lange verfolgen. Mitte Juli 2004 kam die Schwerarbeiterregelung im Zuge der geplanten Pensionsharmonisierung wieder aufs Tapet. Zusätzlich zum Koalitionsstreit gossen auch die Interessenvertreter Öl ins Feuer. Nach den Bauarbeitern drängen nun auch Exekutivbeamte, Spitalsärzte und Bauern auf einen Sonderstatus. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts market bezeichnen sich gar 31 Prozent der Österreicher als Schwerarbeiter.
Wird die Schwerarbeiterregelung tatsächlich zum Schlupfloch in die Frühpension, wie manche Pensionsexperten befürchten, käme Schüssels kleines Zugeständnis tatsächlich sehr teuer.
Kein Wunder, dass der Bundeskanzler seinen Sparkurs gefährdet sieht.

Kleine-Mann-Partei. Doch nicht nur der schwarz-schwarze Konflikt zwischen dem VP-Arbeitnehmerflügel und dem Kanzler-Technokratenkreis lastet derzeit schwer auf dem Koalitionsgefüge, auch die vormalige „Kleine-Mann-Partei“ FPÖ findet zu keiner einheitlichen Linie.
Nach 45 Arbeitsjahren oder als Schwerarbeiter auch früher sollen sich die Österreicher ohne Abschläge in die Pension verabschieden dürfen – so Jörg Haiders Credo. Seine eigene Partei kann ihm da nur im Zickzackkurs folgen. Während Sozialsprecher Sigisbert Dolinschek mit einem klaren Nein zu Abschlägen voll auf Haider-Kurs liegt, befindet Parteichefin Ursula Haubner: „Ich lege mich auf keine Schmerzgrenzen fest, sondern ich sage: auf jeden Fall unter drei Prozent.“
Und hatte Generalsekretär Uwe Scheuch nach dem vorwöchigen FPÖ-Vorstand am Mittwoch noch kämpferisch erklärt, alles unter drei Prozent an Abschlägen bei der Schwerarbeiterregelung sei ein Erfolg für die Freiheitlichen, ruderte er tags darauf reumütig zurück: „Es steht in der FPÖ außer Diskussion, dass Menschen, welche lange Schwerarbeit geleistet haben, ohne Abschläge in Pension gehen können müssen.“ Scheuch später zerknirscht: „Ich wurde missverständlich zitiert.“ Der ÖVP droht der Kärntner nun mit einem blauen Veto im Ministerrat – und zwar beim gesamten Harmonisierungspaket. „Ich kann mir nicht vorstellen“, so Scheuch, „dass die ÖVP so ein Jahrhundertprojekt wegen ein paar Prozent Abschlägen bei der Schwerarbeiterregelung gefährden will.“
Doch das FPÖ-Liebkind scheint kaum in die Praxis umsetzbar. Statt wie in weiten Teilen Europas ganze Berufsgruppen als Schwerarbeiter zu definieren, soll eine Arbeitsgruppe unter Sozialminister Herbert Haupt eine Liste der am stärksten belastenden Tätigkeiten festlegen. Nicht jeder Bauarbeiter und jede Krankenschwester hat demnach ein Anrecht auf den Sonderstatus, sondern nur jene, die eine lebensverkürzende und gesundheitsgefährdende Beschäftigung ausüben.

Mission impossible. Eine Schwerarbeiterregelung auf der Basis von Tätigkeiten ist in Europa jedoch aus gutem Grund unbekannt. Für eine Berechnung der in der Vergangenheit geleisteten Schwerarbeit fehlen schlicht die Daten. Statt der genauen Tätigkeit der Arbeitnehmer erhält der Hauptverband nur Informationen über den Beruf des Versicherten. Auch das erst seit 1972: Für die Zeit davor existiert keine EDV-Aufzeichnung. Karl Haas, Obmann der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, warnt daher vor strengen Auflagen für den Zugang zur Schwerarbeiterpension: „Wie soll jemand beweisen, dass er 1963 mit einem Pressluftbohrer am Bau gearbeitet hat? Wenn die Schwerarbeiterregelung überhaupt administrierbar ist, wird die Beweisführung Wochen und Monate dauern.“
Auch die arbeitsmedizinische Definition der Schwerarbeit droht zu scheitern. Laut einer Studie der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeit (Forba) machen die komplexen Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Belastungen in der modernen Arbeitswelt eine rein naturwissenschaftliche Beschreibung von „Schwerarbeit“ unmöglich.
Sozialexperte Bernd Marin erklärt die von ihm selbst lange forcierte Ausnahmeregelung deshalb für unmöglich: „Mit den in Österreich vorhandenen statistischen und medizinischen Daten lässt sich die Schwerarbeiterregelung schlicht nicht umsetzen.“ Kein Zufall: Bis heute ist es zu keiner Sitzung der Arbeitsgruppe im Sozialministerium gekommen.

Kleine Kröte. Auch für seinen deutschen Kollegen Bert Rürup ist „das Anknüpfen an Tätigkeiten statt an die Branche mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden“. Trotzdem begrüßt Rürup die Regelung: „Wenn das der Preis für den großen Schritt der Harmonisierung ist, lohnt es sich politisch und fiskalisch, diese kleinere Kröte zu schlucken.“
Angesichts des drohenden Chaos bei der Umsetzung dürfte die Schwerarbeiterregelung der Regierung schwer im Magen zu liegen kommen. Gibt es bei der Anerkennung der Pensionen zu lange Verzögerungen oder werden Anträge massenhaft abgewiesen, drohen ähnliche Proteste wie bei der Ambulanzgebühr. Auch damals stammte die Logistik aus der Feder Herbert Haupts.
Steuert die ÖVP also in die nächste Sackgasse? Generalsekretär Reinhold Lopatka: „Dass die Schwerarbeiterdefinition kein einfaches Unterfangen ist, liegt auf der Hand.“ Es werde in den kommenden Tagen Gespräche mit Experten und Sozialpartnern geben, in denen die Frage „Wer ist ein Schwerarbeiter?“ geklärt werden soll. „Damit das Ganze dann auch verfassungsrechtlich wasserdicht ist“, sagt Lopatka.
Die Opposition meldet jedenfalls Zweifel an. Der Grünen-Sozialsprecher Karl Öllinger meint: „Die Absicht zu sparen lässt sich mit dem Anspruch, doch etwas zu tun, nicht unter einen Hut bringen. Nun droht im Herbst eine legistische Katastrophe.“

Beamtenverhandlungen. Bei der weit komplexeren Harmonisierung der ASVG-Pensionen mit den großzügigen Ruhestandsregelungen der Beamten scheint eine Einigung noch in weiter Ferne. Erst diese Woche kam es zu ersten Verhandlungen zwischen der Regierung und dem Chef der Gewerkschaft öffentlicher Dienst, Fritz Neugebauer. ÖVP-Klubobmann Wilhelm Molterer setzt im profil-Interview dennoch auf Optimismus (siehe S. 22): „Die Beamtengewerkschafter werden genauso wie alle anderen akzeptieren, dass es nach dem 1. Jänner (2003, Anm.) ein Pensionssystem für alle gibt.“
Angesichts der bekannten Forderungen spricht viel gegen Molterers Szenario. Auf der Wunschliste von Fritz Neugebauer stehen höhere Einstiegsgehälter, ein Optionsrecht statt eines verpflichtenden Umstiegs in das neue System und eine Abfertigung. Für den Fall, dass der Kanzler die Beamtenbegehren zu ignorieren gedenkt, schaltet Motorradfreak Neugebauer schon einmal einen Gang hinauf: „Dann ist ein Arbeitskampf durchaus denkbar.“