„Die Serben sind reif für Europa“

Interview: Wolfgang Petritsch über Vergangenheitsbewältigung am Balkan

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profil: 16 Jahre nach dem Völkermord von Srebrenica wurde nun der mutmaßliche Hauptverantwortliche für dieses Verbrechen, der Ex-General Ratko Mladic, gefasst. Wird damit endgültig ein Schlussstrich unter den Balkankrieg gezogen?
Petritsch: Das wird erst die Zukunft weisen. Ganz sicher ist die Festnahme von Mladic aber eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur. Man muss das freilich in einem größeren Zusammenhang sehen. Wenige Tage vor seiner Gefangennahme entschuldigte sich das serbische Fernsehen bei all jenen, die es in den neunziger Jahren mit seinen Hasstiraden verletzt hatte – Hasstiraden, die wesentlich zum Krieg beitrugen. Das zeigt klar, dass es Belgrad nicht nur um eine juristische Aufarbeitung geht, sondern auch um eine gesellschaftliche. Dass diese beiden Ereignisse, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben – die TV-Entschuldigung und die Festnahme von Mladic – zur selben Zeit passieren, deutet darauf hin, dass Serbien an einem Wendepunkt angelangt ist.

profil: Trotzdem sprechen sich in Meinungsumfragen über 50 Prozent der Serben gegen die Auslieferung von Mladic
an das Haager Kriegsverbrechertribunal aus.
Petritsch: Das wird sich auch so rasch nicht ändern, weil nach dem Krieg über viele Jahre hinweg subkutane Propaganda betrieben wurde, indem die Hauptverantwortung Serbiens im jugoslawischen Drama geleugnet wurde.

profil: Warum hat es so lange gedauert, bis Mladic gefasst wurde?
Petritsch: Das Militär, vor allem der militärische Geheimdienst, wusste sicher, wo er sich aufhielt. Da spielte auch die Loyalität des serbischen Offizierskorps eine Rolle. Mladic war vom Habitus her ein Haudegen. Das machte ihn im Militär populär. Und Boris Tadic, der serbische Präsident, ist vorsichtig vorgegangen – jedenfalls vorsichtiger als sein Vorvorgänger Zoran Djindjic, der, als es 2001 um die Auslieferung von Milosevic ging, sein Leben aufs Spiel setzte: Er wurde bekanntlich wenig später ermordet.

profil: Auch die politische Lage in Serbien hat sich verändert.
Petritsch: Tadic konnte seit seiner Amtsübernahme 2008 die Milosevic-Treuen und Mladic-Unterstützer im Staatsapparat zurückdrängen. Und bei den Ultranationalisten gab es einen Schwenk. Man muss sich das vorstellen: Der ehemalige Parteisekretär der Milosevic-Partei ist heute unter Tadic Innenminister. Die einst einflussreiche Radikale Partei hat sich gespalten, ein Teil ist auf Europakurs umgeschwenkt. Vor allem aber muss man den Zeitfaktor bedenken: Die drei der apokalyptischen Troika Milosevic/Karadzic/Mladic wurden der Reihe nach gefasst: 2001, 2008 und 2011. Der Krieg war im Wesen ein Bruderkrieg, ein Bürgerkrieg. Und wir wissen aus eigener historischer Erfahrung, wie lange dieser nachwirkt und wie schwierig sich die Nachkriegszeit gestaltet, wenn der Krieg sozusagen nicht am Schlachtfeld entschieden, sondern von außen gestoppt wird. Deswegen zögere ich, von einem Schlussstrich zu sprechen.

profil: Wäre ohne Druck der EU Mladic überhaupt gefasst worden?
Petritsch: Ich bin überzeugt davon, dass der gesamte Balkankrieg der neunziger Jahre ohne Europäische Union nur eine Episode in einer Folge von endlosen Konflikten gewesen wäre. Diese fatale Entwicklung ist durch die EU durchbrochen worden.

profil: Serbien dürfte demnächst Kandidat für den EU-Beitritt werden. Ist das Land überhaupt reif dafür?
Petritsch: Ja, es ist reif für Europa. Ich glaube, dass Serbien politisch und ökonomisch bessere Voraussetzungen hat – auch vom Willen zum Staat und von der Verantwortung der Gesellschaft her – als das eine oder andere Mitglied der EU in dieser Region. Das Problem besteht eher darin, dass die serbische Gesellschaft, stark orthodox-traditionalistisch geprägt, immer noch nicht weiß, was sie wirklich ist, wo sie sich einordnen soll. Immer wieder wird mit der „russischen Karte“ gespielt. Nach wie vor sind Tendenzen vorhanden, die eine politische Dominanz in der Region anstreben.

profil: Die Serben sind aber auch die wahren Verlierer des Balkankriegs: Montenegro und der Kosovo gingen verloren. Und das Land ist, gemessen an den Großmachtambitionen eines Milosevic, heute ein Kleinstaat.
Petritsch: Ja, weil er und seine Leute mit einem politischen Konzept aus dem 19. Jahrhundert einen Nationalstaat in einer multiethnischen Region militärisch erzwingen wollten. Das musste ins Desaster führen. Das geht im 21. Jahrhundert einfach nicht mehr. Es gibt im Grunde nur eine Möglichkeit der Vereinigung, von der alle Serben träumen. Und diese ist nicht in einem Großserbien zu verwirklichen, sondern nur im europäischen Verbund.
profil: Sie kennen die bosnischen Serben gut. Wie nehmen diese die Gefangennahme Mladics und seine Auslieferung auf?
Petritsch: Ich denke, die bosnischen Serben können sehr wohl unterscheiden zwischen denen, die ihnen letztlich schwer geschadet, und denen, die ihnen genützt haben. Mladic, Karadzic und Milosevic waren ein Unglück für die Serben – auch wenn es nicht laut ausgesprochen wird. Ich habe selbst miterlebt, wie 1999, 2000 und 2001 die ersten serbischen Kriegsverbrecher gefasst wurden: Da gab es keine große Aufregung mehr. Die Ernüchterung ist groß, sowohl in Serbien als auch bei den bosnischen Serben.

profil: Von allen als Kriegsverbrecher angeklagten Serben ist Goran Hadzic, der ehemalige politische Führer der Serben in Kroatien, als Einziger noch flüchtig. Schafft das noch Probleme?
Petritsch: Für die Bilanz des Haager Tribunals und die Geschichtsschreibung wäre es positiv, wenn man auch ihn noch kriegen könnte. Politisch ist das aber kaum mehr von Bedeutung. Mit der Gefangennahme der Hauptverantwortlichen ist dieses Kapitel beendet.

profil: Wie, glauben Sie, wird sich Mladic verteidigen?
Petritsch: Wie ein Militär: Er habe seine Pflicht erfüllt, politischen Befehlen gehorcht. Er wird sicher auch Karadzic und den bereits verstorbenen Milosevic in die Pflicht nehmen. Und sicher wird er auch behaupten, man habe präventiv getötet, um sich zu verteidigen. Mladic ist nicht gerade für eine subtile, intellektuelle Argumentation bekannt.

profil: Wird das Verfahren des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen Mladic auch so lange dauern wie die bisherigen?
Petritsch: Ich hoffe, dass man die Fehler, die beim Milosevic-Verfahren gemacht wurden, diesmal vermeidet. Vor allem geht es darum, klar die Anklage auf Srebrenica zu fokussieren und herauszuarbeiten, welche konkrete Rolle Mladic bei den Massakern gespielt hat. Das interessiert die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer. Und das ist auch entscheidend für das jugoslawische Narrativ. Es sollte gelingen, in wesentlich kürzerer Zeit zu einem Urteil zu gelangen, als bei Verfahren bisher. Schließlich kann man in Den Haag auf viele Unterlagen zurückgreifen, weil die politische Verantwortung für Srebrenica ja schon in anderen Prozessen – vor allem in jenen gegen die verantwortlichen Militärs – behandelt wurde. Man verfügt über ­Zeugenaussagen. Und ein serbischer Ex-­General wurde bereits wegen des Tat­bestands des Genozids verurteilt.

profil: Innerhalb von nur wenigen Monaten sind gleich mehrere der großen Missetäter zur Strecke gebracht worden: Hosni Mubarak wurde gestürzt, ihn erwartet ein Prozess. Osama Bin Landen wurde von einem Killerkommando ins Jenseits befördert. Nun konnte Mladic verhaftet werden. Welche Botschaft schickt das an die noch verbliebenen Tyrannen und Bösewichter dieser Welt?
Petritsch: Es zeigt ihnen, dass – auch wenn es sehr lange dauern kann – ihr Verhalten nicht ungesühnt bleibt. Das zeugt von der Stärke einer im Vergleich mit der Zeit vor 1945 so viel aufgeklärteren und wesentlich demokratischeren globalen Gesellschaft.

profil: Mladic wird gefangen genommen und vor ein internationales Gericht ­gestellt. Bin Laden wurde einfach liquidiert. Wie beurteilen Sie diesen Unterschied?
Petritsch: Die europäische Methode ist eindeutig vorzuziehen: Dass einer wie Mladic nicht mit den gleichen Methoden zur Strecke gebracht wurde, die er selbst massenhaft anwendete, sondern mit den Mitteln der Juristerei, ist enorm wichtig. Ich sehe durchaus auch die Probleme eines Gerichtsverfahrens in Den Haag. Wir haben sie bei den Prozessen gegen Milosevic und Karadzic zur Genüge erlebt. Trotzdem ist dies der absolut bessere Weg, mit Kriegsverbrechern umzugehen. Denn dies signalisiert jenen Fortschritt, den wir im Zusammenleben der Menschen, in der Rechtssprechung und der Rechtsstaatlichkeit auf internationaler Ebene gemacht haben.
Interview: Georg Hoffmann-Ostenhof