Die letzten Tage des Friedens

Die letzten Tage des Friedens: Vor 70 Jahren begann der Zweite Weltkrieg

Vor 70 Jahren begann der Zweite Weltkrieg

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Die beiden großen Dramen des 20. Jahrhunderts wurden mit Schüssen aus Bordkanonen eingeleitet. „Aurora“ hatte jener Panzerkreuzer geheißen, auf dessen Kanonensignal hin am 7. November 1917 Rotgardisten in Petrograd das Winterpalais des wenige Monate zuvor abgesetzten Zaren stürmten und damit die Sowjetmacht begründeten. Fast 22 Jahre später sollten wieder Schiffsgeschütze eine Zeitenwende eindonnern. Um 4.45 Uhr des 1. September 1939 eröffnete die „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf polnische Stellungen nahe Danzig. Es war der erste Schuss des Zweiten Weltkriegs. 2076 Tage dauerte das Schlachten und Morden. An jedem Kriegstag starben im Schnitt 30.000 Menschen – im Granatenhagel zerfetzte Soldaten, im Bombenregen verbrannte Frauen, zu Tode geschundene Zwangsarbeiter, systematisch ermordete Juden. Am Ende, im Mai 1945, zählte man 60 Millionen Tote, der Kontinent lag in Trümmern. Der Krieg in Ostasien ging noch bis August weiter und endete im Höllenfeuer der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki.

Eine Woche vor Kriegsbeginn hatten sich die beiden großen Mordbrenner des Jahrhunderts, Adolf Hitler und Josef Stalin, auf einen Nichtangriffspakt geeinigt. Er sah im Kleingedruckten die Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vor. Nur zwei Wochen nach Hitler schickte auch Stalin seine Truppen los.

Offiziell begründete die NS-Propaganda den Einmarsch im östlichen Nachbarland mit angeblichen Gräueltaten in den nach dem Vertrag von Versailles Polen zugesprochenen Gebieten Westpreußens und der Forderung nach einem Korridor ins nun vom Reich abgeschnittene Danzig. Aber diese Begründungen waren nur ein Vorwand. Schon im April 1939 hatte Hitler bei einer Geheimsitzung zur Planung der Operation „Fall Weiߓ – Codename für den Überfall auf Polen – seinen Generalstab in Klarsprache informiert: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten.“ Im August steigerte sich die antipolnische Propaganda bis zur Hysterie. „Polens Bluthunde und ihre Opfer“, titelte die „Ostmark“-Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ eine Fotostory über angeblich misshandelte Volksdeutsche. „Polenterror kaum mehr zu überbieten“, hieß eine Schlagzeile der „Kronen Zeitung“ am Tag vor Kriegsbeginn.

Während des monatelangen Propagandakriegs zwischen Polen und Hitler-Deutschland war es tatsächlich zu Übergriffen gegen Deutsche in Westpreußen gekommen. Einige der Vorfälle wurden freilich von Berlin selbst inszeniert, wie sich später herausstellte. So wurden KZ-Häftlinge zur polnischen Grenze gekarrt und dort erschossen. Tags darauf wurden sie als Opfer polnischer Übergriffe dargestellt. Das Fass zum Überlaufen sollte ein angeblicher Überfall auf den grenznahen deutschen Sender Gleiwitz bringen. Freilich waren es nicht Polen, die die Radiostation stürmten, sondern SS-Männer in Uniformen der polnischen Armee. Sie ließen sogar einen Toten zurück, der ebenfalls aus einem Konzentrationslager zugeliefert worden war.

„Seit 4.45 Uhr wird nun zurückgeschossen“
, donnerte tags darauf Adolf Hitler im Reichstag. Die Stimmung der Bevölkerung der „Ostmark“, wie Österreich nach der Annexion durch Hitler-Deutschland hieß, wurde in den Tagen vor dem 1. September propagandistisch auf das Losschlagen vorbereitet. Dennoch lief das Leben in den letzten Tagen des Friedens, in Wien und den Bundesländern, zum Teil fast verstörend normal ab.
Die Chronik eines dramatischen Spätsommers.

24. August 1939, Donnerstag.
Die Außenminister von Deutschland und der Sowjetunion, Ribbentrop und Molotow, unterzeichnen in Moskau einen Nichtangriffspakt. Im geheimen Zusatzprotokoll teilen sich Hitler und Stalin Polen auf. Am selben Tag erscheint in Berlin eine Schrift des NSDAP-Ideologen Alfred Rosenberg zum Thema: „Müssen weltanschauliche Kämpfe wirklich staatliche Feindschaften ergeben?“ Stalin liefert in den folgenden Monaten hunderte vor den Nazis in die ­Sowjetunion geflohene deutsche Kommunisten an die Gestapo aus.
Bis weit in den Süden des Deutschen Reichs ist um 2.45 Uhr nachts ein Nordlicht zu sehen – ein für diese Breiten ungewöhnliches Naturschauspiel. Wenig später graut ein schöner Spätsommertag. Rudolf Heß, der Stellvertreter des Führers, trifft am Vormittag in Graz ein. Die „Stadt der Erhebung“ zeigt reichen Fahnenschmuck. Die Belegschaft der Kabelwerke in Wien-Meidling wird vom NS-Betriebsführer geschlossen ins Hetzendorfer Kino gebracht, um die Filme „Westwall“ und „Die Straßen des Führers“ zu sehen. Im Apollo-Kino in der Wiener Gumpendorfer Straße läuft „Hallo Janine!“ mit Marika Rökk und Johannes Heesters an. Das in Wien erscheinende „Neuigkeits-Welt-Blatt“ veröffentlicht eine Fotoseite mit von den Polen vertriebenen Volksdeutschen aus Oberschlesien. „Polens Krieg gegen Frauen und Kinder“, titelt das Blatt. Die Zeitungen rufen die Bevölkerung zur Mithilfe bei der „Jagd auf den Mörder Glaser“ auf. Glaser habe in Garmisch einen Bankangestellten erschossen und sei wahrscheinlich in seinen Heimatbezirk Wien-Wieden geflohen. Die Polizei setzt 1000 Reichsmark Belohnung für Hinweise aus, die zu Glasers Ergreifung führen.

25. August 1939, Freitag.
Seit heute sind die deutschen Truppen in ihren Bereitschaftsräumen. Der „Fall Weiߓ ist angelaufen. In einer Heeresgruppe Nord und einer Heeresgruppe Süd werden insgesamt 1,5 Millionen Soldaten in Stellung gebracht. Polen verfügt über 1,3 Millionen Mann, aber weit weniger Panzer und Flugzeuge als Deutschland. „Deutsche Gehöfte in Flammen“ und „Kopfprämien auf die Deutschen in Polen“, titeln die Zeitungen. Im gesamten Reich werden Veranstaltungen anlässlich des 25. Jahrestags der Schlacht von Tannenberg abgehalten, das jetzt zu Polen gehört. Damals, im August 1914, hatten die deutschen Feldherren Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff ein zahlenmäßig überlegenes Heer des russischen Zaren vernichtet. Der „Völkische Beobachter“ bitter: „Das gleiche Tannenberg, bei dem vor 500 Jahren das Heer der deutschen Ordensritter von dem andrängenden Polenheer durch Verrat geschlagen wurde.“ Ausführlich berichten alle Blätter über den „aus Polen zugewanderten Juden Isaak Wachstein“, der zehn Bauern Gerät zu überhöhtem Preis verkauft habe. In New York wird der „berüchtigte jüdische Gangster Louis Lepke“ verhaftet, ein hochrangiger Mafioso. Der öffentlich gesuchte „Raubmörder Glaser“ wird in der Pressgasse in Wien-Wieden aufgespürt. Er hatte sich hinter einem Wandverbau seiner Lebensgefährtin versteckt und wird noch in deren Wohnung erschossen. Im Wiener Stadion finden die Sportweltspiele der Studenten statt. In einer zwölfzeiligen Meldung der „Kronen Zeitung“ über das Spiel Deutschland gegen Italien kommt fünfmal das Wort „Kampf“ vor.

26. August 1939, Samstag.
Für diesen Tag hatte Hitler den Angriffsbefehl auf Polen gegeben, den er aber kurzfristig wieder zurückzog, als ihm Mussolini erklärte, Italien sei noch nicht kriegsbereit. England und Frankreich bekräftigen, sie würden Deutschland im Fall eines Angriffs auf Polen den Krieg erklären. Ein Kommandotrupp der deutschen Wehrmacht kann nicht mehr rechtzeitig gestoppt werden und dringt nach Polen ein. Die ersten Soldaten fallen schon Tage vor Kriegsbeginn. An Wiener Gemeindebauten werden Tafeln mit „Führerworten“ angebracht. Ein Bau in Floridsdorf bekommt den Spruch „Ein ewiger Traum der deutschen Menschen wurde verwirklicht“ verpasst. Am Gaudenzdorfer Gürtel prangt: „Wir reden nicht, sondern handeln!“ Rudolf Heß sagt in einer Rede in Graz: „Juden und Freimaurer wollen den Krieg gegen dieses neue Deutschland, in dem sie ihre Macht verloren haben.“ Ab sofort gibt es Grundnahrungsmittel nur noch auf Bezugsschein. Der Wirtschaftsredakteur des „Völkischen Beobachters“ redet die Maßnahme schön: „Wenn das Reich die Kontingentierung dieser Güter verordnet, dann nicht darum, weil sie knapp sind, sondern im Gegenteil nur deshalb, um jede Verknappung zu verhindern.“ Auf der Hausfrauenseite gibt es Rezepte zu Krautfleckerln, Salat aus Weißkraut, Apfelschaum und Erdäpfeltascherln sowie Tipps zur Wiederverwertung von Fettresten. Ab sofort gilt eine Post­sperre für Soldaten außerhalb ihres Standorts.

27. August 1939, Sonntag.
Die deutsche Wehrmacht überschreitet mit kleinen Trupps an verschiedenen Stellen die Grenze und liefert sich Scharmützel mit polnischen Einheiten. In Berlin wird Generalstabschef Ludwig Beck, 59, auf eigenen Antrag des Dienstes enthoben. Er hatte zuvor Hitler in einer Denkschrift vor dem „Weg der Gewaltlösung“ gewarnt. In den Kriegsjahren lebt Beck zurückgezogen und schließt sich 1944 den Verschwörern vom 20. Juli an: Für ihn war das Amt des Staatspräsidenten in einem neuen Deutschland vorgesehen. Als der Plan scheitert, begeht Beck Selbstmord.
Ein milder Spätsommer-Sonntag. In Ried im Innkreis wird die Ausstellung „Schaffendes Innviertel“ von Landwirtschaftsminister Anton Reinthaller eröffnet. Besonderes Schaustück ist ein Bienenstock aus Leonding, den laut Ausstellungsführer „einst der Vater des Führers betreut hat“. Reinthaller wird 1956 erster Bundesparteiobmann der FPÖ. Der Landdienst der Hitlerjugend wird verlängert, um noch in dieser Woche alle Kartoffeln und Rüben einzubringen. SA und HJ üben in der Prater-Hauptallee den Aufmarsch beim bevorstehenden Reichsparteitag in Nürnberg. Berliner Blätter berichten, es sei eine polnische Landkarte aufgetaucht, auf der Polen im Westen bis Berlin und Lübeck reicht. Die Wiener Polizei veröffentlicht eine neue Unfallstatistik. Die meisten Verkehrsunfälle ereigneten sich demnach im ersten Halbjahr 1939 am Praterstern, gefolgt von der Opernkreuzung, dem Schottentor und dem Südtirolerplatz.

28. August 1939, Montag.
In London berichtet der britische Botschafter in Berlin, Neville Henderson, dem ­Kabinett über das Scheitern seiner letzten Gespräche mit Hitler. Premierminister Neville Chamberlain begibt sich daraufhin zu einem mehrstündigen Gespräch mit König George VI. in den Buckingham Palace. Die Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich wird geschlossen. Der Kapitän der vor dem Hafen Gdingen/Gdynia nahe Danzig liegenden „Schleswig-Holstein“ erhält den Befehl, sich auf die Beschießung der Hafenanlagen vorzubereiten. Er wird am 1. September das erste Geschützfeuer des Weltkriegs zünden. Frontkämpfern des Ersten Weltkriegs wird aus Anlass des Tannenberg-Jubiläums ein „Ehrensold“ zuerkannt. Träger der Tapferkeitsmedaille bekommen monatlich 20 Reichsmark. Auf den Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen mühen sich die Redakteure ab, das fast völlige Verschwinden von Fleisch von den Märkten zu erklären: „Wenn das deutsche Volk sich so wie andere Völker mehr von pflanzlicher Kost ernähren würde, wären wir ernährungswirtschaftlich längst unabhängig vom Ausland“, mahnt das Wiener „Neuigkeits-Welt-Blatt“ zum freudigen Verzicht, „um dem Führer die Freiheit des Handelns zu geben.“ Ein „Fräulein Anny Hackl“ ließ in Graz einen Luftballon aufsteigen, an dem sie einen Zettel befestigt hatte. Den Ballon trieb es – ein kleiner Rekord – bis ins niederösterreichische Traisental. Die Aufschrift auf dem Zettel lautete: „Heil Hitler aus Graz!“ Fräulein Hackls Aktion wird von der Presse durchwegs lobend erwähnt. Bei Bezau im Bregenzerwald werden auf einer Alm drei Tote in einem Zelt gefunden, zwei junge Männer und eine junge Frau. Wie die Polizei ermittelt, haben die drei Deutschen nach einem Beziehungsdrama Selbstmord begangen. Der Reichssender Wien beschließt den Tag mit einer Übertragung vom Auftakt des „Reichsparteitags des Friedens“ in Nürnberg. Danach, um 20.15 Uhr, gibt es „Heitere Volksmusik aus allen Gauen der Ostmark“.

29. August 1939, Dienstag.
Der Zionistenführer Chaim Weizmann, später erster Präsident Israels, schreibt in einem Brief an Premierminister Chamberlain, die Juden würden ungeachtet aller Probleme in Palästina „bei Großbritannien stehen und an der Seite der Demokratien kämpfen“. Alte und neue Nazis stellten den Weizmann-Brief nach 1945 als „Kriegserklärung des Judentums an Deutschland“ dar. Hitler antwortet auf einen britischen Vermittlungsversuch mit der ultimativen Forderung nach der Rückgabe Danzigs und Garantien für die deutsche Minderheit in Polen. Auch Seife wird jetzt rationiert. Gegen den entsprechenden Kartenabschnitt werden höchstens 125 Gramm Kernseife, 200 Gramm Schmierseife und 100 Gramm Waschpulver pro Monat abgegeben. Wer bei einem Kohlenhändler Brennmaterial bestellt, muss genaue Angaben über seinen Lagervorrat machen. Alle Motorsportveranstaltungen werden „aus Rücksicht auf den derzeitigen Bedarf an Treibstoffen“ abgesagt. Die Zeitungen berichten ausführlich über eine „alpine Glanzleistung unserer Gebirgsjäger“: Vier Mann schleppten einen 90 Kilogramm schweren Granatwerfer samt Munition durch die 400 Meter hohe Nordwand des Geiselsteins bei Füßen. Sie benötigten dafür 14 Stunden. Das Statistische Amt veröffentlicht eine neue Gesundheitsstatistik. Demnach wurden in der letzten Juliwoche in der „Ostmark“ 234 Fälle von Diphtherie, 205 Fälle von Scharlach und 110 Typhuserkrankungen gemeldet. Das Wetter gestaltet sich nach heftigen Gewittern jetzt etwas kühler.

30. August 1939, Mittwoch.
Generalmobilmachung in Polen. Am Abend übergibt der britische Botschafter in Berlin eine letzte Note seiner Regierung. Hitler bildet per Erlass einen „Ministerrat für die Reichsverteidigung“. Der kriegslüsterne Schriftsteller Ernst Jünger, 44, schreibt in sein Tagebuch: „Ich betrachte mich im Spiegel. In meiner Leutnantsuniform. Indessen geht es heute wohl vielen Männern in Europa ähnlich, die niemals daran dachten, wieder Dienst zu tun.“ Er erfährt, dass er zum Hauptmann befördert wird: „Ich nehme das als Zeichen, dass mir Kriegsgott Ares nicht abhold geworden ist.“ „Wenn es zum Krieg käme“, lautet der Titel des Leitartikels in der „Kronen Zeitung“: „Ob es Krieg geben wird oder nicht, das weiß heute niemand“, heißt es da. Und weiter: „Wenn aber der Führer, der das Grauen des Kriegs besser kennt als jeder andere Staatsmann in der ganzen Welt, das deutsche Volk aufrufen würde zum höchsten Einsatz, dann wissen wir, dass die Ehre und das Leben Deutschlands dies fordern.“ Gaststätten müssen ab sofort an zwei Tagen pro Woche ausschließlich fleischlose Gerichte anbieten. Sie werden angehalten, Eintöpfe und Tellergerichte zu servieren, weil damit Personal eingespart werden kann. Ausführlich wird in Presse und Rundfunk über den Überfall eines jungen Juden auf eine alte Frau berichtet. Einige Zeitungen „vergessen“ auf den Hinweis, dass es sich auch beim Opfer um eine Jüdin handelte. Das Burgtheater eröffnet die Spielzeit mit Schillers „Don Carlos“, die Volksoper mit Flotows Oper „Martha“.

31. August 1939, Donnerstag.
Hitler glaubt, England und Frankreich würden vor einer Kriegserklärung zurückschrecken, wenn es Deutschland gelänge, Polen eine Teilschuld zuzuschieben. Er weist den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, an, polnische Übergriffe vorzutäuschen. Himmler gibt den Befehl an Sicherheitschef Reinhard Heydrich weiter, der einen Trupp in die grenznahe Radiostation Gleiwitz entsendet. In polnischen Uniformen täuschen die SS-Männer um 20 Uhr einen Überfall auf den Sender vor, strahlen eine entsprechende Meldung in polnischer Sprache aus und hinterlassen eine aus einem KZ gelieferte Leiche. In allen Zeitungen des Reichs trifft die Nachricht noch vor dem Andruck ein. Der letzte Friedenstag in Europa. Aus dem Osten kommt feuchte und kühlere Luft. In Salzburg dirigiert Hans Knappertsbusch Webers „Freischütz“. Man beschäftigt sich noch mit den kleinen Katastrophen: Die „Kronen Zeitung“ meldet auf der Chronikseite, in Wien-Hernals sei Frau Lilly Fuder ein gelber Wellensittich namens Lumpi entflogen, „um die Rückgabe des Sittichs wird herzlich gebeten“. Im ­Budapester Zoo wird der 150. Geburtstag des Elefanten Siam gefeiert. Das laut Fama 1789 geborene Tier wurde Napoleon von einem Maharadscha geschenkt, Napoleon schenkte es Schönbrunn, Kaiser Franz Joseph ließ den alternden Elefanten anlässlich der 1000-Jahr-Feier Ungarns nach Budapest bringen. Der „Völkische Beobachter“ bemüht sich, das Geschichtsbild zu revidieren, Polenkönig Sobieski habe Wien 1683 aus der Türkennot befreit: Der Pole habe vielmehr „schweinisches Benehmen“ bewiesen, schreibt das NS-Blatt, ihm sei es nur um die Kriegsbeute gegangen. In Wahrheit hätten „treue Offiziere im Bewusstsein ihrer völkischen Verantwortung Wien, die deutsche Bastion gegen den Osten, verteidigt“. Der Reichsminister für Luftfahrt ordnet die sofortige Entrümpelung der Dachböden an. Die Zeitungen veröffentlichen Bastelanleitungen für Feuerpatschen.

1. September 1939, Freitag.
Zeitgleich mit dem ersten Geschützfeuer der „Schleswig-Holstein“ überschreiten die Heeresgruppen Nord und Süd der deutschen Wehrmacht um 4.45 Uhr die Grenzen und rücken dank ihrer technischen Überlegenheit rasch vor. Am Vormittag informiert Hitler den Reichstag, die Rede wird im Radio übertragen: „Ich will jetzt nichts anderes sein als der erste Soldat. Ich habe damit wieder jenen Rock angezogen, der mir selbst der heiligste und teuerste war.“ Hitler hatte im Ersten Weltkrieg gedient, es aber nur bis zum Gefreiten gebracht. Im ganzen Land wird Verdunkelung angeordnet. Auf der Ringstraße werden die Fahrbahnränder mit Leuchtfarbe markiert, um Unfälle im Dunkel zu verhindern. Alle Zeitungen veröffentlichen Hinweise zur Gestaltung von Luftschutzräumen. Pro Person sind drei Kubikmeter Luftraum vorzusehen. Der erst zwei Tage zuvor gegründete Ministerrat für die Reichsverteidigung erlässt eine neue Rundfunkverordnung: Das Verbreiten von Nachrichten ausländischer Sender wird mit dem Tod bestraft. Für das bloße Abhören gibt es Zuchthaus. Im Scala-Kino ist „Unsterblicher Walzer“ mit Paul Hörbiger angelaufen, im Schwarzenberg-Kino zeigt man „Menschen vom Varieté“ mit Hans Moser, Attila Hörbiger und Christl Madayn. In der Payr-Bar am Getreidemarkt geigt Rudi Lukesch mit seinen Solisten, und in Hübners Kursalon am Stadtpark bietet man sinnigerweise „die alles erobernde Kapelle Karl von Balaban“ auf.

2. September 1939, Samstag.
Die Wehrmacht rückt in Polen rasch vor. Die britische Regierung stellt Hitler ein Ultimatum: Rückzug bis Sonntag, elf Uhr oder Großbritannien erklärt Deutschland den Krieg. So viel Entschlossenheit hatte Hitler nicht erwartet. Sein Chefdolmetscher Paul Schmidt, der Hitler den Text des Ultimatums übersetzte, schrieb später: „Hitler saß völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich zu Ribbentrop, der wie erstarrt am Fenster stehen geblieben war: „Was nun?“, fragte Hitler seinen Außen­minister. Die Kriegswirtschaftsverordnung des Ministerrats sieht einschneidende Maßnahmen vor: Die Lohnsteuer wird in allen Stufen um 15 Prozent erhöht, der Spitzensteuersatz auf 65 Prozent angehoben. Auf Bier und Tabakwaren wird eine zusätzliche Steuer von 20 Prozent verfügt. Die Zuschläge für Überstunden, Sonntags- und Nachtarbeit werden gestrichen. Ab sofort werden alle Tanzveranstaltungen untersagt. Zuwiderhandelnden droht „strenge Bestrafung“. Die Einsiedezuckerration wird auf 500 Gramm gekürzt. Der „Völkische Beobachter“ veröffentlicht das Bild einer jungen Frau mit zu einem Kranz gelegten Blondzopf. Die Bildunterschrift lautet: „Krieg mit England! Lächelnd und mit entschlossener Zuversicht sieht die Wiener Hausfrau diesen weltgeschichtlichen Ereignissen entgegen.“