Die Türken vor Wien

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Die Türkei wird in zehn Jahren zwischen 90 und 100 Millionen Einwohner haben. Das wird zu jenem Zeitpunkt fast einem Viertel der Bevölkerung der Europäischen Union entsprechen. Die größte Stadt Europas ist schon heute Istanbul. Nimmt man die Idee ernst, dass Europa eines Tages so etwas Ähnliches wie die Vereinigten Staaten von Europa sein kann, also eine gemeinsame, emotional und rechtlich determinierte Heimat für alle EU-Bürger, dann heißt das: Ein Beitritt der Türkei zur EU kommt dem Experiment gleich, die Bevölkerung jedes einzelnen EU-Landes über Nacht mit einem Fünftel türkischen Staatsbürgern zu durchmischen. Zwei Millionen Türken nach Österreich, 15 Millionen nach Frankreich, 20 Millionen nach Deutschland.
Das ist ein gewagtes Experiment.

Als solches bezeichnen auch die Fürsprecher einer derartigen Erweiterung die Angelegenheit. Finnlands Ex-Präsident Martti Ahtisaari, Vorsitzender der „Unabhängigen Türkei-Kommission“, sagt, ein Beitritt der Türkei sei „keine Notwendigkeit, sondern eine historische Chance“. Das britische Magazin „The Economist“ schreibt von einem „Testfall“ für Europa.

Die Leichtfüßigkeit, mit der hier empfohlen wird, es bei einem derart heiklen Thema auf einen Versuch ankommen zu lassen, ist freilich überraschend. Vielleicht spielt da auch eine Rolle, dass Ahtisaari eine persönliche Schuld einlösen muss: Unter Finnlands EU-Präsidentschaft wurde der Türkei der Kandidatenstatus für die Aufnahme eingeräumt. Und sicher kommt zur Geltung, dass der „Economist“ ein britisches Magazin ist: Das Zukunftsbild der Briten von Europa ist eben nicht jenes einer gemeinsamen Heimat. Die Schweizer „Weltwoche“ – einem Türkei-Beitritt ablehnend gegenüberstehend – beschreibt die Dimension des Risikos so: „Das große Projekt der politischen Einigung Europas würde zerstört.“

Überraschenderweise retten sich auch kluge Befürworter eines Türkei-Beitritts dorthin, wo die Mehrheit der europäischen Wähler mit ihrer Ablehnung schon sind (in Österreich laut profil-Umfrage 57 Prozent): in einen Diskurs über die weltanschaulichen Differenzen zwischen Türkei und EU. Der „Economist“ etwa argumentiert spaltenlang gegen „die größte Sorge von allen, den Islam“.

Das ist insofern überraschend, weil der moslemische Glaube der 90 oder 100 Millionen Türken an der derzeitigen Identität Europas wenig verändern würde. Ja, man könnte sogar offensiv sagen: Es wäre durchaus sinnvoll, das christliche Erscheinungsbild Europas ein wenig zu neutralisieren und den Kontinent solcherart zu globalisieren. Schließlich besteht die Welt nicht mehrheitlich aus Christen.
Aber die europäische Identität ist in Wahrheit eine wirtschaftliche Realität. – Wer jetzt sagt, sie sei auch eine darüber hinausgehende politische Identität, dem kann man entgegnen: Im „darüber Hinausgehenden“, also vor allem in der Außenpolitik, ist die Türkei durch ihre Nato-Mitgliedschaft schon heute stärker in die EU integriert als zum Beispiel Österreich. – Europa definiert sich durch ökonomische Regeln. Bis auf Teile der Steuerpolitik ist das wirtschaftspolitische Instrumentarium an die Union delegiert. Die Staaten haben sich ihrer autonomen Währungspolitik (Euro), Budgetpolitik (Maastricht) und Zinspolitik (Europäische Zentralbank) begeben, wie Peter Pilz in diesem profil in anderem Zusammenhang analysiert.

Ökonomisch sieht die Angelegenheit so aus: Die durchschnittliche Wirtschaftsleistung eines Türken beträgt 29 Prozent der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung eines Bürgers der heutigen – also erweiterten – Union. Damit liegt das Pro-Kopf-BIP der Türkei weit unter allen EU-Mitgliedern. Das wäre noch kein Problem, handelte es sich bei der Türkei um ein Land wie die Slowakei mit 5,5 Millionen Einwohnern. Aber es geht eben um heute 70 Millionen und in zehn Jahren 90 bis 100 Millionen Menschen, die nichts verdienen und wenig produzieren.

Noch ein Vergleich: Die Bundesrepublik hat mit der Wiedervereinigung einen (als Anteil an der Bevölkerung) nur wenig größeren, aber wirtschaftlich besser gestellten Staat aufgesaugt. Die Rechnung werden noch ein bis zwei Generationen ehemaliger Westbürger zu bezahlen haben.

Was die Türkei für die EU darstellt, heißt bei einer Bank oder bei einer Versicherung „Klumpenrisiko“: Ein einziger Kunde kann aufgrund seiner schieren Größe in Relation zum übrigen Geschäft das ganze Unternehmen ins Wanken bringen. Dieses Risiko besteht bei der Türkei aus einer Vielfalt von Unsicherheiten. Zum Beispiel: niedrige Wirtschaftsleistung, die durch EU-Zahlungen angekurbelt werden muss; versteckte Arbeitslosigkeit einer riesigen jungen Bevölkerung, die in diesem Fall wirklich Migration bewirken kann; instabile Währung. Das Gewicht des Landes in der EU – auch durch die Nato-Mitgliedschaft – würde Brüssel erpressbar von den Politikern in Ankara machen.

Und Risiko ist die Türkei dennoch keines; sie ist vielmehr eine Gefahr: Denn die wirtschaftlichen Vorteile für den Fall, dass doch alles gut geht, sind nicht ersichtlich. Wer von den Exportchancen und den Investitionsmöglichkeiten des Westens in der Türkei spricht, vergisst: Österreich und der Rest der EU haben im Osten verdient, bevor die Union um diesen Osten erweitert wurde.