Zehn Thesen: Die Welt nach der Krise

Die Welt nach der Krise: Weniger Gier, mehr Verantwortung und umfassende Kontrolle

Auf internationaler Ebene die Weichen stellen

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Von Andrea Rexer

Es war ein braver Spaziergang, den die 15.000 Demonstranten der großen österreichischen Gewerkschaften am Mittwoch der vergangenen Woche in Wien absolvierten. Auch diejenigen, die vor einigen Wochen „Wir zahlen nicht für eure Krise“ skandiert hatten, wirkten zahm – im Angesicht dessen, was auf uns zukommt. Anfang Juni arbeiten in Österreich schon mehr als 57.000 Menschen kurz – verlieren sie nach dem Auslaufen dieser Hilfe ihre Jobs endgültig, steigt die Arbeitslosigkeit mit einem kräftigen Schub an. Konjunkturforscher rechnen im kommenden Jahr mit einer Arbeitslosenquote von 8,2 Prozent. Das birgt Sprengpotenzial. Nicht nur in Österreich. Schon jetzt gibt es Landstriche in Osteuropa, in denen Menschen mit festem Job bereits zur Ausnahme gehören. „Wenn wir nicht gegenlenken, steht die Demokratie auf dem Spiel“, warnt der Wiener Soziologieprofessor Sighard Neckel.

So weit darf es nicht kommen. Jetzt, am Tiefpunkt der Krise, müssen die Politiker weltweit deutliche Zeichen setzen: Weniger Gier, mehr Verantwortung und mehr Kontrolle sollen die Schlagworte einer neuen Weltfinanzordnung sein. Denn das jetzige System droht die Gesellschaft auseinanderfliegen zu lassen. „Wenn ein Spielzeugauto unter dem Christbaum explodiert, gibt es umgehend globale Regeln, dass diese Autos so nicht mehr gebaut werden dürfen. Jetzt ist unsere Finanzwelt explodiert. Wie viel Druck braucht es noch, um die Dinge zu ändern?“, fragt Rudolf Scholten, Chef der Österreichischen Kontrollbank, lakonisch. Der Zeitpunkt für einen großen Wurf ist günstig. „Menschen sind vergesslich, Politiker nur für kurze Zeit gewählt: Aus politischen Gründen lassen sich langfristige Reformen des Finanzmarkts nur jetzt, mitten in der Krise, umsetzen“, sagt der neoliberale Hans-Werner Sinn vom deutschen Konjunkturforschungsinstitut ifo. Die Finanzfeuerwehr ist bereits am Werk – und hat ­erste Erfolge erzielt. Weltweit sind Konjunktur- und Bankenpakete in Kraft getreten. Es gibt nun erste Anzeichen, dass zumindest der Fall ins Bodenlose abgebremst ist. Frühindikatoren wie der deutsche ifo-Index, der widerspiegelt, wie Unternehmen das Geschäftsklima einschätzen, zeigen leicht nach oben. Für Politiker und Ökonomen beginnt jetzt die Phase zwei der Krise: das Anpacken tief greifender Reformen der Finanzwelt.

Innovationskraft. Doch wo ist die Wurzel des Problems? „Alle schauen auf den Dammbruch – dabei ist der Aufstauprozess das Interessante“, sagt Stephan Schulmeister, Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut. Folglich müsse man sich den Boom ansehen, der dem Absturz vorangegangen ist. Getragen wurde der sagenhafte Aufschwung primär von der Innovationskraft der Finanzwelt. Zu viel Geld vagabundierte durch die Welt auf der Suche nach einer guten Investition. Doch in vielen Ländern war die Güterproduktion längst nicht so innovativ wie die Finanzbranche. In der Folge wurde Geld vom Zahlungsmittel selbst zur Ware. Die eigentliche Funktion der Banken, Unternehmen Geld für Investitionen zur Verfügung zu stellen, geriet ins Hintertreffen. Selbst einst „brave“ Institute wie die österreichische Kommunalkredit, deren eigentliche Aufgabe ­darin bestand, Kommunen und Städte zu finanzieren, folgten dem Sog der Renditeversprechen und finanzierten Wertpapiere.

„Zu viele Leute haben zu risikoreiche Geschäfte ohne Haftung machen können. Das trifft nicht nur Banker, sondern auch die Häuslbauer“, analysiert Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Norbert Walter. Über verschachtelte Konstruktionen konnten Banken Kredite vergeben, deren Ausfallrisiko sie nicht schultern mussten: Denn das wurde gebündelt und tranchiert, durch Ratingagenturen mit bester Bonität ausgezeichnet und anschließend kreuz und quer in der ganzen Welt verkauft. Letztendlich hatte niemand mehr den Überblick über diese Kreditderivate. Das muss sich ändern. Wir brauchen eine Meldestelle für diese Produkte. Das heißt nicht, dass sämtliche Finanzinnovationen verboten werden sollen. Denn viele von ihnen erfüllen wichtige Funktionen. Zudem wird überlegt, eine Art Zulassungsstelle für Finanzprodukte zu etablieren, um den Endkunden zu schützen und einen Teil der Dynamik aus dem System zu nehmen, die zur Übertreibung an den Märkten beigetragen hat.

Generell sollten Banken wieder zu der Funktion zurückkehren, die ihre Rettung durch den Staat rechtfertigt: Sie sind das Schmiermittel der realen Wirtschaft. Das heißt, dass sie auf der einen Seite Spareinlagen einnehmen, um auf der anderen Seite Kredite für Investitionen vergeben zu können. Nicht wegen dieser Funktion müssen sie nun gerettet werden, sondern aufgrund ihrer Spekulationen. „Das ist eine ethische Schieflage“, sagt Soziologieprofessor Neckel. In Steueroasen ausgelagerte bank­eigene Hedgefonds (oder „Zweckgesellschaften“), die mit ihren aufgetürmten Risiken nun die Existenz ganzer Banken in Gefahr bringen, dürfen künftig nicht mehr abseits der Bilanz versteckt werden.

Es braucht ehrliche Banken, die ein ehrliches Geschäft machen. Dazu wird es klarer Regeln bedürfen: einer strengen Aufsicht, mehr Eigenkapital für die Banken und mehr finanzielle Anreize für Manager, auf langfristige Geschäftsentwicklungen statt kurzfristiger Rendite zu schauen.
Eine Trennung von Investmentbanken, die kein Kundengeschäft haben, und Geschäftsbanken, die Spareinlagen annehmen, ist hingegen wohl kaum die Lösung des Problems. „Die Trennung funktioniert in der Praxis nicht. Die Verflechtungen im Hintergrund lassen sich nicht auflösen. Wenn Investmentbanken kippen, reißen sie die Kommerzbanken mit“, sagt Rudolf Scholten.

Es mag sein, dass Ökonomen ein Erdbeben wie dieses nicht vorhersehen konnten, dennoch gab es viele Anzeichen einer Blasenentwicklung am amerikanischen Immobilienmarkt. Die amerikanische Notenbank Fed wird heftig kritisiert, die Blase sogar gefüllt zu haben. „Es gab zu lang zu billiges Geld“, sagt Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Walter. Hat die Fed das Problem nicht gesehen – oder nicht sehen wollen? Im Gegensatz zur Europäischen Zentralbank ist die Fed nicht nur der Preisstabilität verpflichtet, sondern soll auch die allgemeine Wirtschaftslage im Blick behalten. Und für die war der Immobilienboom freilich förderlich – er schuf Arbeitsplätze und trieb die Konjunktur an. „Die Politik hat kein Interesse daran, eine Blase zu verhindern – schon gar nicht vor der nächsten Wahl“, sagt Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung.

Frühwarnsystem. Deswegen brauchen wir nicht nur unabhängige Notenbanken, sondern auch unabhängige Frühwarnsysteme, die alle Risiken im Blick haben. Das können sie freilich nur, wenn sie gesamteuropäisch und letztendlich international organisiert sind.
Die neuen Spielregeln müssen von allen Ländern mitgetragen werden. Wer die Welt retten will, darf Steuer- und Regulierungs­oasen nicht zulassen.
Dominique Strauss-Kahn, Chef des Internationalen Währungsfonds, warb am vergangenen Freitag in Wien intensiv für eine internationale Anstrengung: „Es kann nur gelingen, wenn alle Länder mitziehen – und der Versuchung der Schlupflöcher widerstehen.“ Noch ist er eine Art oberster Finanzfeuerwehrmann, der in der Krise Brandherde löscht. Doch er träumt bereits von einer neuen Rolle: Dann wäre der IWF die ­Weltfinanzaufsicht und er der oberste Schiedsrichter auf dem globalen Finanzspielfeld.

1. Gegen die Gier
Erfolgsprämien für Manager soll es nur geben, wenn ihre Geschäfte auch langfristig Gewinn bringen.

Rund um den Globus haben sich die ­Politiker auf die Managergehälter eingeschossen. Die „Abkassierermentalität“ werde sich am Ende selbst richten, sagt etwa der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück. Unumstritten haben die Entlohnungsmodelle zur Entstehung der Finanzkrise beigetragen, weil sie diejenigen Manager belohnen, die hohe Risiken eingehen, um kurzfristige Renditeziele zu erreichen. Ob das Unternehmen hinterher von diesen Risiken eingeholt wird oder nicht, spielte für die Manager bisher keine Rolle. Politiker wollen das jetzt ändern – doch im Alleingang sind ihnen die Hände gebunden. Nur wenn es verbindliche Regeln innerhalb der EU gibt – und in letzter Konsequenz eine internationale Übereinkunft –, kann ein gnadenloses Abwerben der besten Köpfe verhindert werden.

Weitgehender Konsens besteht darin, dass die Entlohnungsmodelle künftig langfristig ausgelegt werden müssen. Um das zu erreichen, könnten Erfolgsprämien erst nach mehreren Jahren ausbezahlt und an das eingegangene Risiko gekoppelt werden. Stellt sich später heraus, dass die Entscheidungen des jeweiligen Managers für Verluste gesorgt haben, kann man einen gewissen Prozentsatz dieser Verluste vom Manager einfordern. Eine Expertengruppe des Bundes Sozialdemokratischer Akademiker (BSA) geht sogar so weit, die Beweislast in diesen Fällen umzukehren. Der Manager müsste dann belegen, dass die Verluste nicht von ihm verschuldet worden sind. „Das ist nicht ­unbillig, weil die Akteure die relevante Information besitzen“, erläutert Sonja Schneeweiss die BSA-Position.

2. Ehrliche Banken
Statt Luftbuchungen soll in den ­Bilanzen künftig stehen, was wirklich Sache ist.

Wenn sich Banken gegenseitig kein Geld mehr leihen – und in der ­Folge auch ihren Kunden nicht mehr –, liegt die Wirtschaft in Kürze lahm. Die Notenbanken mussten einspringen, um das Schlimmste zu verhindern. Dass sich die Banken gegenseitig nicht über den Weg trauen, hängt damit zusammen, dass sie nicht alle Risiken verraten haben:
Über so genannte „Zweckgesellschaften“ oder Hedgefonds, die ihren Sitz in ­Steueroasen legten, haben sie einen großen Teil ihres Risikos versteckt. Künftig sollten auch ­diese Geschäfte zwingend in den ­Bilanzen ausgewiesen werden. Dass dem Schattenbankenmarkt Einhalt geboten wird, ist sehr wahrscheinlich: Sowohl die EU als auch die USA haben bereits erklärt, diese Vehikel künftig regulieren zu wollen. Doch selbst das, was in der Bilanz stand, war nicht verlässlich: Denn so mancher „traumhafte“ Gewinn hatte tatsächlich wenig mit der Realität zu tun. Das muss sich ändern.

Seit die Konzerne nach den international gültigen IFRS-Regeln ihre Bücher führen, passen sie die Bilanzwerte laufend an die Marktpreise an. Im Boom hat das Vorteile: Steigen beispielsweise die Immobilienpreise, und ein Unternehmen ist in diesem Markt investiert, schreibt es automatisch Gewinne: Die Bilanz bläst sich also von alleine auf. Bei sinkenden Preisen – wie sie häufig mit dieser Krise einhergehen – entpuppt sich die Methode jedoch als Bumerang: Das Unternehmen muss abschreiben. Dieses im Fachjargon „mark to market“ genannte Prinzip verstärkt das Auf und Ab der Unternehmensergebnisse. Wie diese Bilanzierungsvorschriften krisensicher gemacht werden können, wird heftig diskutiert. Früher galt das eiserne Gesetz des vorsichtigen Kaufmanns: Er schrieb den Wert in die Bücher, der bei der Anschaffung bezahlt wurde. Steigen die Preise, entsteht automatisch ein Kapitalpuffer. Etwas weniger radikal ist der Vorschlag, dass Preissteigerungen zwar auch in Zukunft noch berücksichtigt werden dürfen, ein Teil dieses Aufwertungsgewinns jedoch verpflichtend beiseitegelegt werden muss – auch so entstünde ein Puffer für Krisenzeiten. Eine solche Regelung hat gute Chancen auf eine baldige Umsetzung: Spanien hat ein ähnliches System bereits installiert, auch in der EU wird diskutiert, die Bilanzregeln dahingehend zu ändern.

3. Entmachtung der Tester
Ratingagenturen brauchen ein neues Geschäftsmodell.

Triple A“ ist inzwischen fast ein Schimpfwort geworden. Mit dieser Bestnote haben die großen US-amerikanischen Ratingagenturen so häufig faule Papiere bewertet, dass ihre Glaubwürdigkeit bei der Beurteilung von verbrieften Krediten mehr als nur angekratzt ist. Jedoch ist es keineswegs verwunderlich, dass die Einschätzungen viel zu positiv waren. Schließlich wurden die Agenturen von denjenigen Unternehmen bezahlt, welche die fraglichen Produkte auf den Markt brachten. Jeder Verbraucher wäre skeptisch geworden, wenn etwa ein Waschmittelvergleich von den Herstellern finanziert würde – die Käufer von Wertpapieren haben sich auf die Ratingagenturen jedoch voll verlassen.

Die EU-Kommission hat Ende April ­beschlossen, die Agenturen zu regulieren: Jetzt dürfen in den Mitgliedsstaaten nur noch Ratings von zertifizierten Agenturen verwendet werden. Wer das Placet der Kommission haben möchte, muss einer Reihe von Anforderungen entsprechen. Beispielsweise dürfen die Tester nicht mehr wie bisher üblich bei der Gestaltung der Finanzprodukte mitarbeiten. Doch den offenliegenden Interessenkonflikt, dass die Tests von den Herstellern finanziert werden, hat Brüssel nicht angefasst. „Diese Regulierung schadet zwar nicht, aber das eigentliche Problem – die schlechte Qualität der Ratings – löst es nicht“, sagt Nicolas Veron, Ökonom der Brüsseler Ideenschmiede Bruegel. Es brauche neue und bessere Methoden. „Am innovativsten haben sich stets neue Spieler am Markt gezeigt“, so Veron. Deswegen sollte die Kommission durchsetzen, dass das Informationsmonopol der großen Agenturen gebrochen wird. Wenn die Unternehmen – ähnlich wie bei Ad-hoc-Meldungen an den Aktienmärkten – dazu verpflichtet würden, allen die gleiche Information zu geben, so hätten neue Agenturen eine Chance. Doch dass die Kommission das Thema bald erneut aufgreift, ist eher unrealistisch.

4. Kreditkontrolle
Wir brauchen Überblick über ­verschachtelte Risiken.

Eigentlich war es eine geniale Idee: Mithilfe neuer Finanzinstrumente konnten Banken Risiko loswerden. Doch diese Innovationen führten letztlich dazu, dass sich die Banken heute nicht mehr über den Weg trauen. Kredite wurden so oft gebündelt, tranchiert und weiterverkauft, bis niemand mehr einen Überblick hatte, wo welche Risiken schlummern. Schließlich sind diese Geschäfte weder meldepflichtig noch reguliert. Eine Dokumentationsstelle könnte das in Zukunft ändern. Sowohl in der EU als auch in den USA wurden bereits erste Schritte zur Errichtung von so genannten Clearingstellen gesetzt. „Eine Meldepflicht für bisher unregulierte ­Produkte würde dem systematischen Transparenzdefizit entgegenwirken“, sagt Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung.

Würde man diese Clearingstelle zu einer Art Börse erweitern, könnte sie die Abrechnung dieser Geschäfte übernehmen und von den Geschäftspartnern Sicherheiten einfordern – ähnlich wie dies an den Aktienmärkten auch passiert. Große Börsenhäuser haben bereits Interesse gezeigt, eine derartige Clearingstelle einrichten zu wollen. Experten gehen davon aus, dass der Markt die erhöhte Transparenz honorieren wird – und die neuen Angebote annehmen wird.

5. Risiko runter
Banken müssen mehr haften, statt zu zocken.

Für Kreditnehmer in den USA gab es ein klares Vorher-Nachher. Vor der Krise war es ein Leichtes, Geld von der Bank zu bekommen. Seither ist es ein schwieriges Unterfangen. Die lockere Kreditvergabe in den USA hat der Krise den Weg geebnet. Finanzinstrumente, die den Banken erlaubten, ohne Risiko zu agieren, ­haben sie leichtsinnig werden lassen: Wenn eine Bank einem Häuslbauer einen Kredit gewährte, so wusste sie, dass sie das eingegangene Ausfallsrisiko sofort weiterverkaufen konnte. Deswegen hatte sie wenig Interesse daran, herauszufinden, ob diese Person das Geld tatsächlich wieder zurückzahlen hätte können. Künftig soll der Verkäufer von verbrieften Forderungen einen Teil des Risikos in den Büchern behalten müssen. In Brüssel hat man sich dabei bereits auf einen Selbstbehalt von fünf Prozent geeinigt, hat sich aber eine Hintertür für eine Erhöhung dieses Anteils offengelassen. „Wir brauchen einen wesentlich ­höheren Prozentsatz, damit ein Verantwortungsgefühl entsteht“, fordert Ewald Nowotny, Gouverneur der ­Oesterreichischen Nationalbank (OeNB). In Europa waren die Banken weitaus vorsichtiger. Um gleiche Bedingungen zu schaffen, fordern einige Experten global gültige Richtlinien für die Kreditvergabe. So könnte geregelt werden, dass Immobilien nur bis zu einem bestimmten Grenzwert als Sicherung dienen können. Obwohl in Europa die Kredite längst nicht so locker saßen, berichten auch hier Unternehmen und Konsumenten von strengeren Kreditbedingungen seit Krisenausbruch. Das Auf und Ab bei der Kreditvergabe verstärkt die Krise noch zusätzlich – denn wenn Unternehmen und Privatleute kein Kapital mehr für ihre Investitionen bekommen, schrumpft die Wirtschaftsleistung erst recht. Dass Banken derzeit genau darauf schauen müssen, ob sie einen Kredit gewähren, hängt damit zusammen, dass sie selbst knapp bei Kasse sind – gleichzeitig aber noch wesentlich mehr Eigenkapital nachweisen müssen als in der Boomphase. Je besser die Bonität ihrer Kunden bewertet wird, desto weniger Kapital müssen sie hinterlegen. Da in der Krise das Ausfallsrisiko steigt, dreht sich der Effekt um: Die Banken müssen dann Kapital nachschießen. Obendrein wollen Investoren in der Krise wesentlich mehr Eigenkapital sehen, um das Vertrauen zurückzugewinnen. Um diesen Jo-Jo-Effekt der Kreditvergabe zu unterbinden, muss die Risikogewichtung gelockert werden. Bei kaum einer Forderung sind sich internationale Experten so einig wie bei der nach mehr Eigenkapital für alle Akteure am Finanzmarkt. Bei einer größeren Kapitaldecke müssten die Banken die Kreditvergabe in der Krise nicht so stark einschränken, weil noch ein Puffer vorhanden ist. Folgt man der Argumentation von ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, dann würde es mit mehr Eigenkapital womöglich gar nicht erst zu einer Krise kommen, weil jeder sicher sein kann, dass der andere das geliehene Geld zurückzahlen kann. Außerdem macht es die Akteure vorsichtiger: „Wer kein Eigenkapital zu verlieren hat, haftet nicht, und wer nicht haftet, zockt“.

6. Eine Rezeptpflicht für Finanzprodukte
Was nicht zugelassen ist, ist verboten.

Für bestimmte Kopfschmerztabletten braucht man ein Rezept. Mit hochriskanten Finanztransaktionen hingegen kann jedermann im Handumdrehen seine finanzielle Gesundheit aufs Spiel setzen. Viele Konsumenten, die Fremdwährungskredite aufgenommen haben, konnten das Risiko nicht richtig einschätzen, auch wenn die Bank ihre Aufklärungspflicht nicht verletzt hatte. Eine Zulassungsstelle für Finanzprodukte würde den Endkunden schützen. Kontrollbank-Chef Rudolf Scholten spricht sich für diese Lösung aus: „Bisher gilt, dass alles erlaubt ist, was nicht verboten ist. Es ist jedoch legitim, dieses Prinzip umzudrehen. In der Pharmaindustrie ist es schon lange üblich.“

So funktioniert die europäische Zulassungsstelle für Arzneimittel sehr gut. Nach diesem Vorbild könnte man die neue Stelle gestalten. Bestimmte Produkte könnten so für den Endverbraucher ganz gesperrt werden und professionellen Institutionen vorbehalten bleiben. Auf diese Weise kann man Verbraucher schützen, ohne generelle Verbote auszusprechen. Außerdem könnte man somit zwischen sinnvollen Instrumenten, die der Wirtschaft dienen, und solchen, die Sprengkraft haben, unterscheiden.

7. Allmächtige Aufsicht
Europa braucht gemein­same Wachhunde für den ­Finanzmarkt.

Wer früher Geschäfte mit Italien machen wollte, tat sich leichter, wenn er ein Konto bei einer italienischen Bank hatte. Heute sind solche Überlegungen irrelevant. Nicht nur weil wir eine gemeinsame Währung haben. Sondern auch weil wir ­gemeinsame Banken haben. Die Bank Austria ist als Tochter der italienischen UniCredit nur ein Beispiel von mehr als 30 Banken, die grenzüberschreitend operieren. Ihnen gegenüber steht eine Bankaufsicht, die noch immer national aufgeteilt ist. Die seit Ausbruch der Krise verstärkte Zusammenarbeit der Aufsichten ist zwar sinnvoll, aber langfristig nicht genug. „Unser Ziel ist ein gemeinsames europäisches System der Finanzaufseher, analog zum europäischen System der Zentralbanken und damit in Kooperation mit der EZB“, sagt Österreichs Notenbankchef Ewald Nowotny. Das würde bedeuten, dass eine neue Institution entsteht, die dem organisatorischen Modell der Europäischen Zentralbank nachempfunden ist. Somit gäbe es ein gemeinsames Gremium, aber dennoch würden die föderalen Strukturen erhalten bleiben. Die nationalen Aufsichten könnten weiterhin die rein nationalen Banken prüfen, für transnationale ­Konzerne wäre dann die EU zuständig.

Organisatorisch wäre dem Vorschlag Nowotnys zufolge die neue Finanzaufsicht der Zentralbank zugeordnet. Andere Experten sind hier skeptisch: Da sich eine Zentralbank primär mit Preisstabilität befasst, brauche man ohnehin für Aufsichtskompetenzen ein anders ausgebildetes Team, sagt Andrew Crockett, früherer Vorsitzender der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. „Ich sehe die Unabhängigkeit der Notenbank bedroht, wenn sich die Politik durch die Hintertür der Aufsicht wieder einmischen kann“, so Crockett.

Beaufsichtigt werden sollten von der neuen Institution nicht nur Banken, sondern alle Finanzmarktteilnehmer, die ein Bankgeschäft betreiben. Je größer die Institution, desto strenger sollte sie kontrolliert werden. Denn wer „too big to fail“ ist, bedroht im Ernstfall die gesamte Wirtschaft. Die Oesterreichische Nationalbank hat mit der Unterscheidung in Große und Kleine schon begonnen. „Wir kontrollieren die systemrelevanten Banken in normalen ­Zeiten mindestens einmal im Jahr, derzeit haben wir täglichen Kontakt“, so Gouverneur Nowotny. IV-Ökonom Christian Helmenstein spricht sich ebenfalls für eine europäische Aufsicht aus: „Wir brauchen nicht mehr, sondern vor allem eine intelligentere Regulierung. Künftig soll kein Marktteilnehmer und kein Produkt unreguliert bleiben.“

Egal, wie die Organisation der europäischen Finanzmarktaufsicht im Detail aussieht – ein solches Projekt verlangt den Mitgliedsländern viel ab: Sie müssten nicht nur das Aufsichtsrecht harmonisieren, sondern auch sämtliche zugrunde liegenden Regelungen – wie beispielsweise das Insolvenzrecht. In letzter Konsequenz bräuchte man dann auch eine europäische Einlagensicherung und einen gemeinsamen Rettungsfonds für strauchelnde Banken. Damit hat dieses Projekt in etwa die Ausmaße der Währungsunion. Die Umsetzung dürfte ­zwischen zehn und zwanzig Jahre in ­Anspruch nehmen. „Derzeit halte ich dieses Projekt nicht für umsetzbar – aber es ist höchst anstrebenswert“, so Nowotny.

8. Frühe Weckrufe
Es braucht unabhängige Experten, die weltweite Zusammenhänge im Auge behalten.

Autoversicherungen schicken ihren Kunden Hagelwarnungen auf das Handy, wenn ein Unwetter droht. Die Finanzwelt kennt ein solches System bisher nicht. „Es gibt keine Institution, die alle Bereiche der Finanzwirtschaft im Auge behält“, sagt Andrew Crockett, früherer Vorstand der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Die Europäische Zentralbank hat diese Lektion bereits gelernt und ein Gremium für „systemische Risiken“ eingerichtet. Doch auch auf internationaler Ebene sollte ein solches Frühwarnsystem eingerichtet werden. Im Gegensatz zu einer Aufsicht beschäftigt sich dieses nicht mit der Überwachung einzelner Banken, sondern beobachtet das Zusammenspiel von Risiken aus verschiedenen Wirtschaftsbereichen. IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn schlug am vergangenen Freitag in Wien vor, ein solches neues System in seinem Haus einzurichten, da der IWF bereits die notwendige Infrastruktur hätte. „Diese neuen Frühwarnungen müssen mutig sein und dürfen nicht davor zurückscheuen, die Dinge beim Namen zu nennen und anzuprangern“, sagte Strauss-Kahn. Als Beispiel für die Notwendigkeit führt er Österreich und Osteuropa an: Die Fremdwährungskredite würden nicht nur erhebliches Druckpotenzial auf die dortigen Bankbilanzen ausüben, sondern indirekt über die westeuropäischen Mutterkonzerne in den Westen durchschlagen.

9. Globale Gesetze
Die großen Länder müssen internationale Mindeststandards durchsetzen,
um Steuer- und Regulierungsoasen zu verhindern.

Die besten Spielregeln nützen nichts, wenn sich nicht alle daran halten. Eine Kernfrage wird deshalb sein, wie Mindeststandards der Regulierung weltweit verbindlich gemacht werden können. Gelingt das nicht, kommt es zu einem Laschheitswettbewerb: Wie bisher die Steueroasen würden einzelne Länder versuchen, einen Vorteil daraus zu schlagen, mit weniger Regulierung Finanzinstitutionen anzulocken. Wenn sich die großen Länder einigen, können sie durch ihr Gewicht die kleineren mitziehen. Ein ­Anfang dazu wurde beim G20-Gipfel in London im April bereits gemacht. Dass der Druck wirkt, haben die Bewegungen beim Bankgeheimnis bereits gezeigt. „Ich halte weltumfassende Mindeststandards durchaus für erreichbar“, sagt Nationalbank-Chef Ewald Nowotny. Mit Ländern, die das Abkommen nicht unterzeichnen wollen, sollten keine Transaktionen mehr durchgeführt werden.

Wie genau die neuen Standards aussehen können, damit beschäftigen sich bereits die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) – die Dachorganisation der Zentralbanken – und das von den G20 beauftragte Financial Stability Board. Liegen die neuen Regulierungsstandards einmal auf dem Tisch, kommt der Inter­nationale Währungsfonds ins Spiel. „Wir sehen unsere Rolle in der Überwachung der Umsetzung des international vereinbarten Rahmens durch unseren bestehenden Überwachungsprozess“, definierte IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn die neue Rolle seiner Institution am Freitag der vergangenen Woche in Wien.

10. Verantwortung der Vermögenden
Um die Demokratie zu schützen, brauchen wir umfassende Vermögensteuern.

Demonstranten skandieren weltweit: „Wir zahlen nicht für eure Krise.“ Soziologieprofessor Sighard Neckel verwundert das nicht im ­Geringsten. „Die Gesellschaft muss etwas finanzieren, wovon sie selbst keine Vorteile gehabt hat.“ Natürlich haben auch einige ­einfache Häuslbauer und viele andere durch den Aufschwung der Wirtschaft profitiert – doch die großen Gewinne hat eine ­schmale Schicht von Vermögensbesitzern eingestreift. ­Derzeit zahlen die Bürger dafür eine doppelte Rechnung – auf ­individueller Basis durch steigende Arbeitslosigkeit und Lohnkürzungen. Auf gesellschaftlicher Basis geht durch die explodierende Staatsverschuldung der politische Handlungsspielraum der nächsten Generation weitgehend verloren. „Dass wir die Problembewältigung in die Zukunft verschieben, wird sich rächen“, so Neckel.

Deswegen brauchen wir jetzt ein Opfer der Vermögenden. Denn erstens wird jeder Euro gebraucht, um die Folgen der Krise abzumildern. Zweitens ist ein politisch sichtbarer Schritt notwendig, um dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Beispielsweise über Vermögensteuern. Österreich ist im internationalen Vergleich eine wahre Vermögensteuer­oase – in wenigen Ländern sind die Sätze so niedrig wie hier (siehe Titelgeschichte profil Nr. 19). „Lenken wir nicht gegen, wird die Demokratie auf eine harte Probe gestellt“, sagt der Soziologe. Mit einem ähnlichen Hintergedanken fordern andere Experten eine ­Finanztransaktionssteuer. Diese soll nicht nur einen Teil der Kosten ­einbringen, sondern zudem der Spekulation Einhalt gebieten. Eine solche Steuer wäre ebenfalls nur global machbar – denn jedes Schlupfloch zur Steuervermeidung würde sofort genutzt werden. Doch auf internationaler Ebene zeichnet sich hier bisher kein Konsens ab. Experten befürchten zudem, dass eine international durchgeführte Besteuerung auf Transaktionen die Transparenz verringern würde, weil Akteure auf außerbörsliche Plattformen ausweichen könnten.