Leitartikel: Christian Rainer

Diktatur auf Zeit

Diktatur auf Zeit

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Mehrheitswahlrecht? Abseits jener Personengruppen, die dabei nur verlieren können, gibt es nicht viele Menschen, die diese Idee uncharmant finden. Die Partei mit den meisten Stimmen bekommt jedenfalls mehr als die Hälfte der Sitze im Parlament, egal ob sie nun 30 Prozent erreicht hat oder 51. „The winner takes it all“, wie profil-Cartoonist Rudi Klein den Sachverhalt in der vergangenen Woche an dieser Stelle zusammengefasst hat.

Die potenziellen Verlierer und damit die Gegner sind die Kleinparteien, die so niemals die Chance auf eine Regierungsbeteiligung bekämen. Tendenziell dagegen sind auch die Sozialdemokraten. Das liegt wohl einerseits daran, dass sich die SPÖ als Kanzlerpartei nicht einmal im Gedankenexperiment mit einer Veränderung des Status quo beschäftigen will. Das liegt zweitens daran, dass die SPÖ im Schnitt der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte mit Koalitionen gut gefahren ist – soll heißen, meist den Kanzler stellen durfte. Aber es liegt vielleicht auch daran, dass die österreichische Linke ein historisch gewachsenes Misstrauen vor rechten Machtansammlungen hat und daher im Zweifelsfall lieber auf Koalitionen setzt.

Für ein Mehrheitswahlrecht plädieren vor allem ÖVP-Minister. Und auch im profil gibt es keine einheitliche Linie. Herbert Lackner etwa argumentierte vergangene Woche für eine „Diskussion über ein neues Wahlrecht“ und damit für das Mehrheitswahlrecht. Seine Begründung: Das „dritte Lager“ habe sich als nicht koalitionsfähig erwiesen, was zwangsläufig zu einer ewigen Verbindung von sozialdemokratischem und christlich-sozialem Lager führe. Die „Diskussionsverweigerer“ hätten als Gegenargument nur zur Hand, dass die Befürworter des Mehrheitswahlrechts – vor allem Josef Pröll und Martin Bartenstein – bloß auf Basis von Frustration über den derzeitigen Stillstand der Koalition agierten.

Ich bin anderer Meinung als Lackner. Aus drei Gründen. Erstens fürchte ich, dass sich das „dritte Lager“ ­keineswegs als ungeeignet für eine Regierungsbeteiligung erwiesen hat. Jedenfalls lehnten es Wolfgang Schüssel
und Ursula Plassnik in den vergangenen Wochen mehrfach ab, die FPÖ als Koalitionspartner auszuschließen („auszugrenzen“, im Sprachgebrauch des Ex-Kanzlers). Ja, nicht einmal eine entsprechende ­Absage an die Person Heinz-­Christian Strache war zu bekommen. Darüber hinaus zweifeln mehr und mehr Menschen daran, dass Alfred Gusenbauer im Notfall resistent gegenüber den Freiheitlichen bliebe. (Umgekehrt darf eine Wahlrechtsänderung nicht dazu dienen, eine solche Konstellation zu verhindern.)

Zweitens: Tatsächlich meine ich, dass eine akute Frustration über die SPÖ-ÖVP-Zusammenarbeit nicht zur weitaus radikalsten Veränderung der Verfassung seit Neugründung der Republik führen darf. Aber genau das ist der Grund, warum jetzt über ein Mehrheitswahlrecht diskutiert wird – und zwar der einzige. Oder hat jemand gehört, dass sich Pröll und Bartenstein in komplexe Überlegungen hinsichtlich der Auswirkungen einer derartigen Reform auf die Gesetze und in der Folge auf die Befindlichkeit des Landes ergangen hätten?

Diese Frustration ist wiederum keine generelle, die mit grundsätzlichen Problemen großer Koalitionen zusammenhinge. Vielmehr ist die ÖVP – durchaus verständlich – verärgert, dass sie die jüngsten Nationalratswahlen unglücklich in einem kleinen, für die SPÖ günstigen Zeitfenster verloren hat.
Schließlich – drittens – denke ich, dass Österreich eine besondere Verantwortung gegenüber seiner besonderen Geschichte hat. Diese sollte zu Konsens statt zu Konfrontation zwingen. In diesen Monaten jährt sich zum 70. Mal der Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland. Ist es nicht so, dass Generationen von Österreichern gelernt haben, ein Grundstein der Zweiten Republik sei gewesen, dass die zuvor verfeindeten Lager 1945 befunden hätten, das Gemeinsame sei nun zu betonen, um Entwicklungen wie in der Zwischenkriegszeit auf alle Zeit zu verhindern, dass die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrten Politiker also auf Konsenspolitik setzen wollten?

Ein Mehrheitswahlrecht basiert auf dem Gegenteil von Konsens, auf Konfrontation um jeden Preis. Es führt zu einer – durchaus demokratisch legitimierten – Diktatur auf Zeit. Sicherlich ist Österreich längst stabil genug, um auch ein solches System ohne Gefährdung der Gesamtkonstruktion zu tragen, und die Einbettung in die Europäische Union bringt zusätzlichen Halt. Dennoch erscheint es eigenartig, dass ein Grundgedanke des Landes nun plötzlich beiseitegeschoben wird, ohne weiteres Nachdenken über reale und mentale Auswirkungen. Nur weil sich einige Repräsentanten zweier politischer Parteien nicht besonders mögen. Das ist als Argument doch eher wenig.