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„Distanz zu den USA“

„Distanz zu den USA“

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Der 11. September hat die USA verändert – der 11. März verändert Europa. Die Erdrutschniederlage der partido popular – in Wirklichkeit des scheidenden Ministerpräsidenten José María Aznar – signalisiert nur den Beginn dieser Veränderung.

Die Koalition der „Willigen“, die die USA im Irak unterstützt hat, wird zerbrechen. Immer mehr Regierungen werden, wie die siegreiche PSOE, „Distanz zu den USA“ propagieren. Gleichzeitig wird sich Europa wie die USA zum Überwachungsstaat entwickeln. Einreise und Zuwanderung werden ungleich schwieriger werden. Es wird noch schwerer werden, den Menschen die „Bahn“ anstelle des Autos oder des Flugzeugs einzureden.

„Mehr als zwei, drei Attentate hält Spanien nicht aus, dann zieht es seine Truppen ab“, hieß es in einer vor dem Madrider Anschlag verfassten arabischen Internet-Information. Tatsächlich hat das erste Attentat genügt, um die PSOE den Truppenabzug ankündigen zu lassen.

Diese Erfahrung lässt sich auf London oder Rom und wahrscheinlich selbst Warschau übertragen: Vergleichbare Attentate werden auch dort vergleichbare Reaktionen auslösen.

Das wissen die Terroristen.
Deshalb wird es wohl demnächst in einer dieser drei Hauptstädte krachen.

Dann aber könnte das gesamte militärische Engagement Europas im Irak zusammenbrechen und mit ihm die Hoffnung auf seine erfolgreiche Befriedung, denn EU-Soldaten genießen bei der Bevölkerung wesentlich mehr Vertrauen als GIs.

Noch bedeutender wäre eine solche Entwicklung für das Verhältnis der EU zu den USA: Selbst wenn John Kerry ins Weiße Haus einziehen sollte, werden sie sich von den Europäern bitter im Stich gelassen fühlen. Angesichts von abertausenden Amerikanern, die ihr Leben für Europas Befreiung von Hitler und Schutz vor Stalin aufs Spiel gesetzt haben, werden sie nicht verstehen, dass Europa jetzt wegen ein paar hundert Terror-Toten zum Rückzug bläst.

Tatsächlich kostet die mangelnde Kontrolle der Sturzhelm-Pflicht beim Mopedfahren vermutlich jedes Jahr mehr junge Spanier das Leben als das Madrider Attentat (und in Frankreich hat mangelnde medizinische Vorsorge vergangenen Sommer geschätzte zehntausend Menschen das Leben gekostet) –, aber ein Terroranschlag mit hunderten Toten auf einen Schlag wird psychisch anders wahrgenommen als noch so viele, auf einen längeren Zeitraum verteilte Tote, auch wenn deren Sterben ebenso überflüssig ist.
Terroranschläge funktionieren als Psychoterror.

Europa wird auf diesen Psychoterror nicht hysterisch offensiv, wie die USA, sondern depressiv defensiv reagieren. Das ahnen die Terroristen und werden es nutzen.

Eisenbahnen sind ihre idealen Ziele, denn anders als im Flugzeug müssen sie sich nicht einmal selbst mit in die Luft sprengen. Der in Deutschland von der CDU bereits vorgebrachte Vorschlag, auch Bahnhöfe mit Radarschleusen auszustatten, wurde von Innenminister Schily zu Recht mit einem Lächeln abgetan: als Ende des Bahnverkehrs. Das Flugzeug ist mit einem Schlag wieder das Terror-sicherste Massenverkehrsmittel geworden – mit ungeahnten Folgen für die europäische Verkehrspolitik.

Selbst wenn man imstande wäre, die Eisenbahnen zu sichern, wichen die Terroristen eben auf die U-Bahnen aus. Von dort auf Straßenbahnen oder Autobusse.

Und natürlich lassen sich auch in Kirchen, Museen, Kinos oder Theatern Sprengsätze mit Todesquoten über 100 deponieren.
Finden wir uns damit ab: Seit Terroristen ohne Rücksicht auf die individuelle Haltung ihrer Opfer handeln – die Mehrheit der Opfer von Madrid hat vermutlich gegen den Irak-Krieg demonstriert –, seit es ihnen nur mehr darum geht, möglichst viele „Spanier“, „Australier“, „Amerikaner“ umzubringen, ist konventioneller „Schutz“ vor Attentaten unmöglich geworden.

Die einzige halbwegs realistische Gegenwehr besteht im Ausbau der Nachrichtendienste: Da große Attentate einer Vorbereitung bedürfen, besteht eine gewisse Chance, sie im Keim zu verhindern. So hat die spanische Polizei etwa vor einem halben Jahr Pläne der ETA durchkreuzt, Eisenbahn-Attentate durchzuführen, die denen von Madrid womöglich recht ähnlich gesehen hätten. (Wie es überhaupt absurd ist, der al-Qa’ida nunmehr die „viel anständigere“ ETA gegenüberzustellen).

Wir werden also viel von dem akzeptieren müssen, was wir George W. Bush derzeit vorwerfen: mehr „vorbeugende“ Eingriffe von Sicherheitsbehörden. Natürlich werden Ausweise Fingerabdrücke tragen, natürlich wird Telefonüberwachung massiv zunehmen, natürlich werden Europas Nachrichtendienste ihre Infomationen elektronisch verknüpfen.

Die Bedingungen für Einwanderung und Einreise werden überall eine Verschärfung erfahren. Man wird Einreisende wie derzeit in den USA – erfolglos – nach dem Glaubensbekenntnis ihrer Großeltern fragen.

So wird ein großer Teil dessen, was durchaus wesentlich zu unserer Kultur gehört – nämlich Freizügigkeit und Liberalität –, eine massive Einschränkung erfahren. Linke und Liberale werden schreien, dass wir genau dieses Opfer nicht bringen dürfen – aber es wird ihnen nichts nutzen.

Seit Madrid herrscht in Europa Kriegsrecht.