„Am Ende mochte ich ihn“

Doron Rabinovici: „Am Ende mochte ich ihn“

Interview. Schriftsteller Doron Rabinovici über den verhassten Wiener Benjamin Murmelstein, der durch die Hölle ging

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Interview: Christa Zöchling

profil: Sie erforschten das Verhalten der jüdischen Funktionäre in Wien unter NS-Kuratel. Was hielten Sie anfangs von Benjamin Murmelstein, der von manchen nur „Murmelschwein“ genannt wird?
Rabinovici: Es gab Geraune, er habe mitleidlos die Befehle der Nazis ausgeführt. Hannah Arendt hatte ihn als „Verbindungsmann“ von Eichmann bezeichnet und gemeint, solche wie Murmelstein hätten mitgeholfen, den Untergang der Judenheit zu organisieren. Ich wollte wissen: Was genau haben sie getan, wie groß war ihr Spielraum?

profil: Durften Sie ins Archiv der Kultusgemeinde?
Rabinovici: Ich bekam sogar Zugang zu Murmelsteins Privatarchiv in Jerusalem. Das Ausmaß der Ohnmacht, unter dem diese Judenräte agieren mussten, die existentiellen Fragen – Soll man die Jungen oder eher die Alten schützen, darf man überhaupt so denken? –, das alles wurde mir erst durch das genaue Hinschauen klar.

profil: Warum war gerade Murmelstein so verhasst?
Rabinovici: Er repräsentierte etwas, womit die Juden meiner Generation, aber auch die Juden in Israel nichts zu tun haben wollten. Man wollte nichts davon wissen, dass Juden mit den ärgsten Schlächtern kooperieren und verhandeln mussten. Murmelstein setzte die Regeln der Nazis durch, um keinen Vorwand zu schaffen, jemanden in den Tod zu schicken. Als die Nazis dann auf Vernichtung aus waren, konnte er nur noch Zeit schinden, hoffen, dass der Krieg eine Wendung nehmen würde.

profil: Hätte Murmelstein sicher gewusst, dass die Transporte nach Auschwitz in die Vernichtung gingen, hätte er als Judenältester in Theresienstadt anders handeln müssen?
Rabinovici: Er konnte nicht anders handeln. Ich bin überzeugt, dass Murmelstein vom Prinzip her das alleinig Richtige getan hat. Murmelstein versuchte, Zeit zu schinden. Problematisch war sein Auftreten, sein Benehmen. Im Unterschied zu anderen jüdischen Funktionären stellte sich Murmelstein und sagte: „Ich habe die Leute in Theresienstadt gerettet.“ Vielleicht überschätzte er sich, aber er gab sich nicht auf. Er sprach von sich selbst als dem „Letzten der Ungerechten“. Dass Lanzmann jetzt mit diesem Murmelstein-Film herauskommt, ist genial.

profil: Als Sie Ihr Buch „Instanzen der Ohnmacht“* veröffentlichten, kannten Sie das Lanzmann-Material noch nicht. Hat sich Ihr Bild von Murmelstein danach verändert?
Rabinovici: Mein Bild aus Dokumenten und Gesprächen mit Zeitzeugen war das eines sehr intelligenten, scharfsinnigen, gebildeten Mannes, der sich keine Illusionen machte, der wusste, das Eichmann sein Todfeind war. Murmelstein hatte Eichmann durchschaut. Er hätte beim Eichmann-Prozess in Israel bezeugen können, wie brutal, verschlagen und zynisch dieser Mann war. Anfangs hatte ich Respekt vor Murmelstein. Sympathisch war er mir aber nicht. Die Filmaufnahmen machten mich mit ihm vertraut. Im Grunde hatte ich ihn mir genau so vorgestellt. Und am Ende mochte ich ihn.

profil: Warum war die Zwangslage der Judenräte so lange ein Tabu?
Rabinovici: Die Zeit war noch nicht reif dafür. Jemand wie Murmelstein passte nicht hinein. Seine Überzeugtheit von sich selbst, seine fossilartige Ausstrahlung, seine Intellektualität, die damals kalt schien, macht ihn uns heute faszinierend und relevant. Die Shoah ist widersinnig und antirational. Wie kann man das erklären? Wie verstehen? Der Judenrat, wie der Historiker, schaut sich die einzelnen Mitspieler an, ihre Motive und Interessen. Sie müssen sich in sie hineindenken. Das verbindet Murmelstein mit den Historikern. Wer sich mit den jüdischen Funktionären unter nationalsozialistischer Herrschaft befasst, begibt sich in das Epizentrum des Verbrechens.

* Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Suhrkamp 2000.