Die Teufel von Ciudad Juarez

Mexiko. Wie Ciudad Juarez zum gefährlichsten Ort der Welt wurde

Drucken

Schriftgröße

Neun Uhr morgens, noch kein Frühstück und schon die erste Leiche.
Pick-up-Trucks mit verdunkelten Scheiben schleppen Staubfahnen durch eine Halbwüste, die an Haarausfall denken lässt – struppige Kreosotbüsche, stachelige Yuccas, Mesquitenbäume; dazwischen Glasscherben, Fetzen von Kleidung, zerrissene Plastiksäcke.

In den Autos sitzen Ermittler der Staatsanwaltschaft. Sie haben einen Anruf bekommen, anonym natürlich: Rancho los Olmos, dort liege einer. Jetzt nehmen sie denselben Weg, den wohl auch die Mörder genommen haben. Aus der Stadt hinaus Richtung Westen, am Highway 2 bis Kilometer 29, dort links weg, an ein paar armseligen Häusern vorbei in ein Gewirr von Sandpisten, die ins Nirgendwo zu führen scheinen und dann doch bei einem verlassenen Hof enden.

Vielleicht war das Opfer noch am Leben, als es hierhergebracht wurde. Vermutlich lag es gefesselt und mit verbundenen Augen im Kofferraum. Wahrscheinlich war es gefoltert worden: Fingernägel herausgerissen, Zigaretten auf der Haut ausgedrückt, die Augen mit Säure verätzt.
Sicher wusste es, was ihm bevorstand.

Das mobile Labor der Gerichtsmedizin ist schon da, die Bundespolizisten mit ihren kugelsicheren Westen und Sturmgewehren treffen gerade ein.
Der Staub setzt sich. Arbeiter packen Schaufeln, Krampen und Rechen aus. Sie brauchen nicht tief zu graben.

In Ciudad Juarez, einer Stadt ungefähr so groß wie Wien, wurden im vergangenen Jahr 3111 Menschen ermordet, heuer waren es bereits mehr als 1400: Das sind rund 200 Todesopfer pro Monat, über 50 pro Woche, sieben bis acht pro Tag.

Nirgendwo sonst auf der Welt werden auf so kleinem Raum so viele Gewalttaten begangen wie hier direkt an der Grenze Mexikos zu den USA – nicht in Mogadischu, nicht in Kabul, nicht in Bagdad.

Vor nunmehr vier Jahren hat Mexikos konservativer Präsident Felipe Calderón den „Krieg gegen den Drogenschmuggel“ aus-
gerufen. Seither hat dieser „Guerra contra el narcotráfico“ nach offizieller Zählung rund 40.000 Menschen das Leben gekostet.

8800 davon starben alleine in Juarez. Und das macht die Stadt sogar für mexikanische Verhältnisse zu einem Ort besonderen Schreckens.
Manchmal liegen in Juarez abgeschnittene Köpfe auf der Straße. Manchmal Leichen ohne Köpfe. Eltern werden vor ihren Kindern ermordet. Kinder vor ihren Eltern. Oder alle miteinander. Ende Juli metzelten Bewaffnete im Gefängnis der Stadt 17 Häftlinge in ihren Zellen nieder, die Justizwache sah tatenlos zu. Im vergangenen Oktober ließen 15 Teenager ihr Leben, als Maskierte das Feuer auf die Gäste einer Geburtstagsparty eröffneten.
Juarez ist ein Schlachthaus. Wer eine Erklärung dafür sucht, kann sich an die offizielle Linie der Regierung halten, die eine Fehde zweier Drogenkartelle um die plaza für das Blutvergießen verantwortlich macht. Das klingt einleuchtend, hat aber einen entscheidenden Fehler: Es ist viel zu simpel.

„Hier gibt es viele Teufel und sehr wenig Weihwasser“, hat der Bürgermeister der Stadt vor ein paar Monaten gesagt, und das trifft es schon eher.

Die Teufel von Ciudad Juarez sind nicht nur außer Rand und Band geratene narcos. Das Töten hat auch tiefere Ursachen. Sie liegen in der Geschichte dieser Wüstenstadt, in einer Reihe historischer Unglücksfälle und in einem kapitalistischen Raubbau mit fatalen Folgen. Schließlich, besonders beunruhigend, darin, dass der Staat und die Kartelle in Mexiko manchmal ein und dasselbe sind – und hier nicht nur ein Krieg gegen den Drogenhandel tobt, sondern gleichzeitig einer um Marktanteile an diesem Milliardengeschäft.

All das hat dazu geführt, dass Ciudad Juarez zum lebensgroßen Modell einer Gesellschaft geworden ist, die jede Sicherheit verloren hat und keine Ordnung mehr kennt: zu einem Albtraum, der nach dem Aufwachen erst so richtig beginnt.

„Kennen Sie ‚Star Wars‘?“
, fragt Gustavo de la Rosa Hickerson. Er ist Rechtsanwalt, Universitätsprofessor an der juristischen Fakultät, war mehrere Jahre lang Direktor des Gefängnisses von Ciudad Juarez und leitet nun die hiesige „Comisión de Derechos Humanos“, eine Art Volksanwaltschaft. In der Hand hält Hickerson einen Löffel, an dem etwas Frühstücksjoghurt klebt. Er wird ihn später brauchen, um etwas über den Zyklus der Gewalt in seiner Heimatstadt zu erzählen.

Aber zuerst möchte er einmal über etwas anderes reden – den Wüstenplaneten Tatooine, der in der „Star Wars“-Saga immer wieder eine Rolle spielt und von Schmugglern, Betrügern und anderen Desperados bevölkert wird: „Dort kommt alles durch, dort gibt es alles zu kaufen, was du dir vorstellen kannst, und das Einzige, was gilt, ist das Gesetz des Stärkeren.“ Hickerson pausiert kurz, hinter seinem mächtigen weißen Vollbart arbeiten die Kiefer.

„Tatooine, das ist Ciudad Juarez“, sagt er dann. Juarez liegt auf über 1300 Meter Seehöhe in der Chihuahua-Wüste. Die Sommer hier sind brennheiß, die Winter können schneidend kalt sein. Die Stadt selbst ist weder besonders hässlich noch auf irgendeine Art schön. Ihr Zentrum wirkt nicht einmal auf den Fotos des örtlichen Tourismusbüros, als hätte es etwas Nennenswertes zu bieten. Umgeben ist es von Wohnvierteln, an denen nur die schweren Gitter vor allen Türen und Fenstern auffallen. Burrito-Buden, Autowerkstätten und Bars, viele davon mit heruntergelassenen Rollläden, säumen die Durchgangsstraßen. Im Westen ragt ein Bergrücken aus der kargen Landschaft, an dem Favelas hinaufwachsen. Nach Osten und Süden hin wuchern Industriehallen und Arbeitersiedlungen in die Wüste hinaus. Dahinter beginnt die Zone der Schrottplätze.

So oder ähnlich sehen viele Städte in Mexiko aus. Was Juarez anders macht, ist sein Nordrand. Er wird durch eine Betonwanne begrenzt, die auf beiden Seiten mit hohen, von Stacheldraht gekrönten Zäunen befestigt ist. Sie kanalisiert einen Fluss mit großem Namen, der im Sommer nur ein kleines Rinnsal ist: den Rio Bravo.

Von Juarez Richtung Südosten bildet er über 2000 Kilometer die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten von Amerika. Sie trennt nicht nur zwei Länder, sondern auch zwei Welten.

Hickerson leckt den Löffel sauber, lehnt sich zurück und beginnt zu erzählen: Vom ersten Drogenkartell der Stadt, das in den zwanziger Jahren entstand und von einer Frau geführt wurde. Ignacia „La Nacha“ Gonzales hatte die Position des Paten eingenommen, nachdem ihr Mann von chinesischen Opiumhändlern umgebracht worden war.

Von der Zeit der Prohibition in den USA, als die amerikanischen Whiskey-Brenner ihre Destillen über die Grenze nach Mexiko verlagerten, viele davon nach Juarez. Al Capone war immer wieder in der Stadt. In der Kentucky-Bar sah man ihn Limonade trinken, während er mithilfe der Leute von Juarez den Alkoholschmuggel nach Norden organisierte.

Von den amerikanischen Soldaten der Basis Fort Bliss auf der anderen Seite der Grenze, die sich nach Dienstschluss in Juarez mit Stoff eindeckten.
„La Nacha“ kontrollierte den Marihuanahandel in Juarez und Umgebung ein halbes Jahrhundert lang bis zu ihrem Tod in den Siebzigern. Ihr Vermögen investierte sie klug in Immobilien und andere unverfängliche Geschäftszweige.

„Die Menschen in der Stadt sind es seit über hundert Jahren gewöhnt, legale und illegale Geschäfte zu verbinden“, sagt Hickerson, der keinen Schritt ohne Polizeischutz tun kann, den Löffel immer noch in der Hand.

Ein Gerenne zwischen den Autos, die auf elf Spuren vor der US-Grenzkontrolle stauen: Zwei Uniformierte sprinten entlang der Kolonne nach hinten, ein weiterer klettert mit gezückter Waffe über die Leitschiene der Abfahrt zur Lkw-Zollabfertigung.

Kaum jemand sieht hin. Es ist bloß wieder ein fehlgeschlagener Versuch, illegal in die USA zu gelangen. Durchschnittlich 3000 Dollar verlangen Schlepper für den illegalen Grenzübertritt, ein gutes Jahresgehalt in Mexiko: Zehntausende Wirtschaftsmigranten aus ganz Mittel- und Südamerika vertrauen sich diesen coyotes an, Tausende werden geschnappt, zurückgeschickt und bleiben wie menschliches Treibgut in Juarez hängen.

An Grenzübergängen wie jenem in Juarez liefern die US-Behörden auch mexikanische Staatsbürger ab, die im Norden straffällig geworden sind. Sie kommen mit jenen Fähigkeiten und Kontakten aus dem Gefängnis, die ihnen für eine Karriere im Drogenhandel zuvor vielleicht gefehlt haben.
Die einen wie die anderen brauchen dasselbe, wenn sie in den staubigen Straßen von Juarez stehen: Geld, und zwar dringend.

Wo Juarez endet, beginnt El Paso. Die Stadt in der äußersten westlichen Ecke von Texas liegt so nahe, dass ihr Rathaus schon einmal von den verirrten Projektilen einer Schießerei jenseits der Grenze getroffen wurde.
Dennoch lebt El Paso gut mit ihrer ungleichen Schwester – und von ihr. Auf der US-Seite der Grenze gibt es keine nennenswerte Wirtschaft: Dafür gibt es den Warenverkehr mit Juarez, wo internationale Konzerne ihre Waren für den US-Markt günstig in den so genannten maquiladoras produzieren lassen.

Aufgrund der prekären Sicherheitslage im Norden Mexikos haben sich in El Paso außerdem viele US-Sicherheitsbehörden angesiedelt, die Geld und Arbeitsplätze in die Stadt bringen. Und dann sind da noch all jene Einwohner von Juarez, die ihr Vermögen in Sicherheit bringen wollen, ob es nun legal erworben ist oder nicht.

In El Paso werden pro Jahr durchschnittlich 19 Morde begangen. Das macht die Stadt zu einer der friedlichsten in den USA.

In Amerika werden pro Jahr Drogen im Wert von 65 Milliarden Dollar konsumiert. Aus Amerika werden nach Angaben des US-Think-Tanks Brookings pro Tag 2000 Waffen nach Mexiko geschmuggelt.

Gustavo Hickerson nimmt den Löffel zwischen zwei Finger, hält ihn waagerecht und beginnt, damit einen Halbkreis nach unten zu beschreiben. „Die achtziger Jahre“, sagt er. „Damals hat das Pendel der Gewalt auszuschlagen begonnen.“

„La Nacha“ war eines ­natürlichen Todes gestorben, erste Revierkämpfe ­brachen aus und parallel dazu der Guerillakrieg der „Liga Comunista 23 de Septiembre“. Die Regierung setzte die „Weiße Brigade“ gegen die Aufständischen ein, eine Todesschwadron des Militärs. Ihr Kommandant ließ nicht nur Tausende Menschen foltern oder ermorden, er baute nebenbei auch ein Suchtgiftkartell auf.

Andere hochrangige Offiziere aus Armee und Polizei folgten seinem Beispiel. Das Geschäft der mexikanischen Drogenbarone beschränkte sich damals allerdings noch auf Marihuana. Der weitaus lukrativere Handel mit Kokain für die USA lief direkt von Südamerika aus über Miami.

Es war eine Zeit, in der Juarez aufzublühen schien. Die mexikanische Regierung förderte die Gründung von maquiladoras, um die Arbeitslosigkeit im Norden des Landes zu bekämpfen. Die Stadt wuchs binnen weniger Jahre von 300.000 auf 600.000 Einwohner, dann auf eine Million. Allerdings wie im Fieber, völlig ohne Plan. Schulen, Krankenhäuser, soziale Infrastruktur? Von allem zu wenig.

Mitte der achtziger Jahre machten die USA die Kokain-Schmuggelroute über Florida dicht. Die lange, unwegsame Grenze zu den US-Bundesstaaten Texas, New Mexico, Arizona und Kalifornien war offen. Damit begann der wirkliche Aufstieg der mexikanischen Kartelle.

Luis Chaparro lebt und arbeitet in El Paso, seit ihn vor ein paar Monaten Polizisten am Nachhauseweg in Juarez aufgehalten haben: Sie zerrten ihn aus dem Auto, fesselten ihm die Hände auf den Rücken, verbanden ihm die Augen und warfen ihn auf die Ladefläche eines Lieferwagens.

„Es ist der Journalist, ich habe ihn“, gab einer der Uniformierten über Funk durch. Chaparro spürte den Lauf einer Waffe an der Schläfe. „Morgen werden sie dich finden, tot wie eine Kuh“, flüsterte jemand. „Du weißt ja, warum.“

Chaparro sagt, er habe bloß eines gewusst: „Ich hatte ein paar interessante, vielleicht zu interessante Informationen veröffentlicht. Das hat irgendjemanden verärgert. Aber wen und warum? Keine Idee.“ „Los, knall ihn ab“, sagte eine Stimme. Chaparro, keine 25 Jahre alt und erst seit Kurzem Polizeireporter, bettelte um sein Leben. Er versprach Geld, er bot sein Auto als Geschenk an. Irgendwann ließen sie ihn einfach liegen und verschwanden. Am nächsten Morgen ging er weg.

Ob es echte Polizisten waren oder Gangster in Polizeiuniformen, die ihn damals überfallen haben? Im Norden von Mexiko ist das häufig ein und dasselbe. Niemand bestreitet ernsthaft, dass die Behörden oft mit den Drogenkartellen zusammenarbeiten oder gar Teil der Drogenkartelle sind.
„Von hundert Leuten, die an der Polizeiakademie ausgebildet werden, kämpfen anschließend 40 gegen die übrigen 60, weil die 60 von den narcos bezahlt und trainiert werden“, erzählt ein Mexikaner, der so zum Auftragskiller wurde, in der Filmdokumentation „El sicario: Room 164“.
Der Journalist und Autor Charles Bowden, der den sicario interviewt hat, schätzt, dass in den vergangenen zehn Jahren rund 100.000 Angehörige mexikanischer Polizei- und Armeeeinheiten zu den Kartellen übergelaufen sind.

Die machen sogar auf Plakaten Werbung für sich. „Soldat oder Ex-Soldat: Die Operationseinheit ,Los Zetas‘ will dich. Wir bieten gute Bezahlung, Essen und Zuschüsse für deine Familie“, hieß es auf einer narcomanta, die in Nordmexiko aufgetaucht ist. „Los Zetas“ sind Ende der neunziger Jahre aus einer Spezialeinheit des mexikanischen Militärs hervorgegangen.

Der Frühstückslöffel von Gustavo Hickerson schwingt ein Stück nach oben, wir befinden uns am Beginn der neunziger Jahre. Die mexikanischen Kartelle wuchsen, wurden zu Großunternehmen mit Verzweigungen in die legale Wirtschaft und ausdifferenzierter Organisationsstruktur. In dieser Zeit entstand auch das, was später „Juarez-Kartell“ heißen sollte. Sein Boss, Armando Charillo Fuentes, trug den Ehrennamen „El Señor de los Cielos“ – „Herr des Himmels“, weil er für den Drogenschmuggel eine eigene Flugzeugflotte unterhielt. Mitte der neunziger Jahre soll Charillo 250 Millionen Dollar Umsatz gemacht haben. Pro Woche.

Bald ging es nicht mehr bloß um Marihuana und Kokain.
Neue, synthetische Drogen wie Chrystal Meth brachten neue Marktchancen und ein zuvor unbekanntes Ausmaß an Gewalt. „Das Juarez-Kartell wurde zur wahren Macht im Land“, sagt Hickerson. „Es kontrollierte Behörden und Parteien, bezahlte Polizisten und Wähler.“ Der Weg zu dieser Macht und ihr Erhalt gingen mit Revierkämpfen einher, in die der Staat jedoch nicht eingriff: Sollten sich die Drogenbarone doch bei ihren internen Streitigkeiten gegenseitig ausschalten. „Auch das gehört zu den Wurzeln unserer Probleme“, seufzt Hickerson. „Die Gesellschaft hat zugelassen, dass die Behörden damit aufhörten, ihre Arbeit zu tun.“

Und noch etwas passierte in den neunziger Jahren: 1994 trat das nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta in Kraft. Es erlaubt Unternehmen, in Mexiko produzierte Waren unter bestimmten Bedingungen zollfrei in die Vereinigten Staaten einzuführen. In Juarez löste diese Neuerung einen Boom aus. Konzerne wie Siemens, Toshiba und Bosch entdeckten die Stadt, die Zahl der maquiladoras wuchs auf fast 400, Zehntausende Jobs für billige, ungelernte Arbeiter entstanden – wieder, ohne dass die Entwicklung der städtischen Infrastruktur damit Schritt gehalten hätte.

Seither bietet der Arbeitsmarkt in Juarez im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Du verdienst wenig Geld in der Fabrik. Oder vergleichsweise viel im Drogenhandel.

Aber am Ende hat beides auf verquere Weise auch wieder miteinander zu tun. Jeden Tag passieren mehr als 2200 Lkws bei El Paso die Grenze Richtung Norden, der größte Teil davon mit Waren, die in den maquiladoras von Juarez hergestellt wurden. Im vergangenen Jänner entdeckte eine Hausfrau in den USA in ihrem neuen Staubsauger mehrere Kilogramm Drogen.

Auf dem Schreibtisch von Luz Sosa liegt, schwarz von gestocktem Blut, ein Stück menschliche Schädeldecke. Sie hat es an einem Tatort aufgelesen, nachdem die Polizei weg war. Genau wie die anderen Fundstücke daneben: Patronenhülsen und verformte Projektile, die Kartusche einer Rauchgranate, eine Totenkopfbüste mit Sombrero. Es ist ein Museum des Todes, das sie bei der Arbeit stets vor Augen hat.

Sosa ist Polizeireporterin bei „El Diaro“, der angesehensten Tageszeitung von Juarez. Jetzt kommen sie und ihr Fotograf Lucio Soria gerade zurück von der Rancho los Olmos, wo der erste Tote des Tages gefunden wurde.
Über rund 4000 Mordopfer hat Sosa in den vergangenen Jahren geschrieben, aber fast noch nie über einen verhafteten Täter. Nicht nur, weil Journalisten in Mexiko inzwischen keine Hintergrundberichte mehr riskieren können, ohne selbst ins Visier zu geraten – sondern auch, weil die meisten Kapitalverbrechen überhaupt nicht mehr polizeilich untersucht werden.

Insgesamt haben die mexikanischen Behörden seit 2008 im Zusammenhang mit organisierter Drogenkriminalität mehr als 120.000 Verdächtige verhaftet. Nur gegen rund 1300 davon wurde Anklage erhoben. Die Zahl der Verurteilungen liegt noch niedriger: bei 750, also knapp mehr als einem halben Prozent.

Schräg hinter Luz Sosa steht ein leerer Schreibtisch, der mit Blumen geschmückt ist. Er gehörte ihrem Kollegen Armando Rodríguez, der 2008 erschossen wurde. Auch sein Tod wurde nie aufgeklärt.

„Ehrlich gesagt: Ich fürchte mich mehr vor der Regierung als vor den Kartellen“, sagt Sosa. „Das Schlimme an unserer Situa­tion ist, dass wir überhaupt niemandem trauen können.“

Der Löffel schwingt weiter, Hickerson erzählt von der Zeit um die Jahrtausendwende. Armando Charillo, der Pate von Juarez, war bei einer Gesichtsoperation gestorben. Mit ihm gerieten auch ein paar zuvor unumstößliche Kartell-Vorschriften in Vergessenheit: zum Beispiel das Verbot, in Juarez selbst mit Kokain zu handeln.

Im Jahr 2000 wurde Mexiko von einem Machtwechsel erschüttert: Die linke Staatspartei PRI (Partei der Institutionellen Revolution) verlor die Präsidentschaftswahl. Damit endete nicht nur ihre über 70 Jahre währende Alleinherrschaft, sondern auch ihre ebenso lange Kumpanei mit den Drogenbaronen.

Dann kam 9/11, ein historischer Wendepunkt mit unerwarteten Auswirkungen auf Juarez. Die USA machten die Grenzen dicht, Drogen- und Menschenschmuggel kamen fast zum Erliegen. In der Stadt stauten sich billiger Stoff und gescheiterte Auswanderer. Noch lag die Zahl der Morde in Juarez bei 200 bis 300 pro Jahr.

Noch fehlten einige Faktoren zur endgültigen Eskalation. Einer davon kam dazu, als 2004 eine Fö­deration mehrerer Drogenkartelle auseinanderfiel und in der Folge neue Revierkämpfe ausbrachen. Ein weiterer folgte 2007 mit einer fehlgeschlagenen Justizreform. Der Versuch, die mexikanische Prozessordnung westlich-demokratischen Standards anzugleichen, führte zunächst an den Rand des totalen Zusammenbruchs der Rechtsprechung: Immer weniger Straftaten wurden verfolgt.

Er trägt keine Rangabzeichen an der Uniform, bloß die Aufschrift „Policia Federal“, eine schwarze Sturmhaube verdeckt den größten Teil seines Gesichts. Hinter ihm flappen gelbe und rote Absperrbänder im Wind. Sie riegeln die Kreuzung vor einem kleinen Supermarkt ab.

„Da drinnen liegen zwei Tote“, sagt der Bundespolizist. „Einem hat es die Schädeldecke weggeblasen. Die Familie ist im Hinterzimmer. Wir möchten die Kinder rausbringen, ohne dass sie die ganze Sauerei sehen.“

Nachbarn stehen plaudernd an der Ecke. Eine Frau lacht, das kleine Mädchen neben ihr spielt mit einem gelben Luftballon. Ein Auto fährt um die Ecke, ein Schulbub hängt aus dem Seitenfenster, Entsetzen im Gesicht. Die Toten im Supermarkt sind einer Bluttat zum Opfer gefallen, die in Juarez als Dutzendverbrechen gilt. Sie wollten oder konnten die quota nicht zahlen, die ihnen irgendjemand abverlangte: Das war ihr Todesurteil, vollstreckt wurde es am helllichten Tag, vor den Augen von Kunden und Nachbarn.

Neunzig Prozent der Straftaten in Juarez haben mittel- oder unmittelbar mit Drogen zu tun. Sie werden oft aber auch nur deshalb begangen, weil es leicht ist, ungestraft davonzukommen.

Dazu gehören viele der rund 1000 Frauenmorde seit Mitte der neunziger Jahre. Zwischen 1993 und 2005 waren es vor allem Fabrikarbeiterinnen, die vergewaltigt und verstümmelt gefunden wurden, die Rede ist von fast 500. Zuletzt starben allerdings fast genauso viele pro Jahr – auch weil bei den Kartellen, die früher reine Männerbünde waren, inzwischen Frauen mitmischen und so in die Auseinandersetzungen hineingezogen werden. „Die Gewalt ist überall“, schreibt Autor Charles Bowden in einem seiner Bücher über Juarez. „Sie hat keine sichtbaren und einfachen Gründe. Sie ist wie Staub in der Luft, ein Teil des Lebens selbst.“

Hickerson hält seinen Löffel fast waagrecht: 2008, das Jahr, in dem alles außer Kontrolle geriet. Erst erklärte Präsident Calderón seinen „Krieg gegen die Drogen“. Er ließ das Militär aufmarschieren, allerdings nur gegen einige wenige der insgesamt 17 Kartelle, die es zu diesem Zeitpunkt in Mexiko gab – unter anderem gegen jenes von Juarez.

„Eine fürchterliche Strategie“
, sagt Hickerson. Sie führte dazu, dass die Ordnung am Drogenmarkt durcheinandergeriet. Wo ein Kartell Schwäche zeigte, drängte ein anderes auf die plaza. In Juarez marschierten 8000 Soldaten ein. Und es tauchten plötzlich Killer und Dealer aus dem Bundesstaat Sinaloa auf – viele glauben, dass die Militärs gemeinsame Sache mit ihnen machten, indem sie etwa Polizisten beiseiteräumten, die mit den falschen narcos zusammenarbeiteten.

„Nicht nur dass die Armee sämtliche Bürgerrechte verletzt hat, die man verletzen kann – die Regierung hat durch ihre Vorgangsweise gleichzeitig auch ihren Kontakt zu den Kartellen verloren“, stellt Hickerson trocken fest. Binnen kürzester Zeit verdoppelte sich die Zahl der Morde in Juarez, es wurde jetzt auch aus Kriegswaffen wie der Kalaschnikow AK-47 geschossen.

Gleichzeitig schlug die Finanzkrise voll auf die maquiladoras durch: Mehr als 80.000 Jobs gingen in einer Stadt ohne ausreichendes Sozial- und Bildungssystem verloren – und damit die einzige Einkommensquelle für Zehntausende Familien.

Die Nahversorgerkette Del Rio verzeichnete 2008 bei 300 Filialen in Juarez mehr als 1000 bewaffnete Überfälle, der Preis für einen Auftragskiller sank auf 200 Dollar pro Woche. Das ist fast das Dreifache eines Industriearbeitergehalts, aber immer noch nicht viel. Der Löffel stoppt: Oktober 2010, die Gewalt erreichte ihren Höhepunkt: Damals starben in Juarez binnen eines Monats 359 Menschen – alle zwei Stunden einer.

Eigentlich könnte Arturo Valenzuela Zorilla längst weg sein. Seine Doppelstaatsbürgerschaft würde es ihm jederzeit erlauben, nach Kanada auszuwandern. Ein paar Mal hatte er den Pass schon in der Hand.

Valenzuela ist Notfallchirurg. Zeitweise war er einer von lediglich 15 Medizinern in der Stadt, die sich diesen Job noch antun wollten: Nicht nur wegen der schlechten Bezahlung – in Juarez ist es schon vorgekommen, dass Killer ihren angeschossenen Opfern bis in den Operationssaal folgten, um sie endgültig zu erledigen. Eine Zeit lang hatten sich Banden auch darauf spezialisiert, Mediziner zu entführen.

Er ist trotzdem geblieben und hat ­weitergearbeitet, Verletzte zusammengeflickt und Wunden versorgt, die sonst nur Feldchirurgen im Krieg zu sehen bekommen. Nebenher war er an der Gründung einer Ärzteinitiative beteiligt und half, Protestmärsche gegen die Herrschaft der Gewalt zu organisieren. Inzwischen ist ­Valenzuela Mitglied eines Komitees
der Stadtverwaltung, das Wege sucht, um die Sicherheitssituation in Juarez zu verbessern.

Und er sieht nur einen Weg aus der Krise: eine weitgehende Legalisierung von Drogen. In Juarez ist ein Kilo Kokain rund 12.000 Dollar wert, drüben in El Paso fast das Zehnfache. Damit machen Mexikos Kartelle nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 13 und 30 Milliarden Dollar pro Jahr. Rund um den Suchtgiftmarkt haben sich andere illegale Geschäftszweige entwickelt: Der Menschenschmuggel über den Rio Grande soll ihnen etwa um die drei Milliarden Dollar pro Jahr bringen. „Marihuana“, sagt der Arzt, „sollte komplett freigegeben werden, um daraus Steuereinnahmen zu generieren. Kokain könnte von Ärzten abgegeben, Heroin in Spitälern verabreicht werden.“

Nicht nur Leute wie Valenzuela, auch die Global Commission on Drug Policy macht sich inzwischen ähnliche Gedanken. „Der globale Krieg gegen die Drogen ist gescheitert“, hielt sie in ihrem Anfang Juni erschienenen Bericht fest und forderte die Regierungen der Welt auf, „Experimente zur Entkriminalisierung“ zu unternehmen. Unterschrieben haben das Papier unter anderem der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, der frühere US-­Außenminister George Schultz und drei mexikanische Ex-Präsidenten.

Hickerson legt den Löffel beiseite.
Im Frühjahr wurde die Armee aus Juarez abgezogen, seither habe sich die Situation etwas entspannt. „Das Pendel der Gewalt kehrt um“, sagt er. „Aber Gesellschaft ist nicht Physik, es kann jederzeit auch wieder ausschlagen, wenn wir nicht das Richtige tun.“ Dann redet er von Sozialprogrammen, von funktionierenden Behörden und von Vertrauen in den Staat.

Sobald er das Haus verlässt, folgen ihm auf Schritt und Tritt schwer bewaffnete Polizisten durch eine Stadt, die nach vier Jahren Krieg gegen die Drogen so aussieht: 230.000 ihrer Bewohner sind geflüchtet, 16.000 Häuser stehen leer, mehr als 10.000 Geschäfte haben geschlossen.
30.000 ihrer offiziell 1,3 Millionen Bürger arbeiten nach glaubwürdigen Schätzungen im Drogenhandel, allein im Straßenverkauf an den rund 20.000 Umschlagplätzen in Juarez wird mehr Geld gemacht, als alle Arbeiter in den maquiladoras der Stadt zusammen verdienen.

Gleichzeitig beginnt die Industriezone nach der Rezession wieder zu boomen. In den vergangenen zwei Jahren sind in der Stadt 30.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Der regionale Wirtschaftsverband von El Paso und Juarez wirbt unter Hinweis auf die „geschäftsfreundlichen Bedingungen“ um Direktinvestitionen.

Anfang August verhafteten die Behörden einen Killer des Juarez-Kartells. Dem Mann werden 1500 Morde zur Last gelegt. Er ist ein ehemaliger Polizist. Präsident Calderón bezeichnete die Festnahme als „bislang größten Sieg im Kampf gegen die Gewalt“ in der Stadt. Ähnliche Erfolgsmeldungen gab es bereits des Öfteren, das Töten geht dennoch weiter. Währenddessen wertet die Staatsanwaltschaft von Juarez den Umstand, dass im Mai 151, im Juni 156 und im Juli 216 Morde begangen wurden, als Zeichen der Entspannung.

Der Tote, den die Ermittler auf der Rancho los Olmos ausgegraben haben, wurde bislang nicht identifiziert, ein Motiv für seine Ermordung ebenso wenig gefunden wie ein Tatverdächtiger. Seine Leiche ist inzwischen begraben. Und sein Fall in den Akten, zusammen mit Tausenden anderen.

Mitarbeit: A. Muz, Mexico City; A. Chacon, Ciudad Juarez