Dünkel-Ziffern

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Nichts schien mehr aus der Mode gekommen zu sein als der Begriff der Gleichheit. Auch die gute alte Brüderlichkeit – sprich Solidarität – hatte in Zeiten wie diesen nicht gerade Hochkonjunktur. Aber Gleichheit war wirklich vollkommen out. Sie wurde gern negativ der Freiheit – der dritten Tugend der bürgerlichen Emanzipation – gegenüber-gestellt. Und bei der Wahl Gleichheit oder Freiheit war es klar, wofür man sich zu entscheiden hatte. Die Empörung über die rasant wachsende Ungleichheit bekam zunehmend den Geruch des ranzigen Ressentiments.

Dann aber kam Finnland. Lange Zeit genoss der skandinavische Staat einen denkbar schlechten Ruf. „Finnlandisierung“ bedeutete in der Periode des Kalten Krieges, sich mit der Sowjetdiktatur zu arrangieren und in halbkolonialer Abhängigkeit von Moskau zu erstarren. Inzwischen aber ist Finnland zum strahlenden Vorbild mutiert: Binnen weniger Jahre hat sich das einst überaus arme Land im Norden Europas zu einem dynamischen, ausnehmend unkorrupten Industriestaat entwickelt, der auf das höchste Budgetplus der EU stolz sein kann. Nun belegt Finnland in der jüngsten PISA-Studie auch noch den ersten Platz. Die finnischen Schüler sind einfach Spitze, in allen Bereichen.

Warum das einerseits so ist und andererseits Österreich und Deutschland im PISA-Mittelfeld grundeln, darüber sind sich die Bildungsexperten einig: Die Finnen haben ein egalitäres Schulsystem, nicht ständisch in Volksschule, Hauptschule und Gymnasium gegliedert wie in unseren Breiten. In Finnland besuchen alle Schüler bis zum 10. Schuljahr eine Gemeinschaftsschule. Dort werden sowohl die Schwächeren individuell gefördert, damit sie nicht zurückbleiben, als auch die Begabteren auf dem Weg zu Spitzenleistungen betreut – natürlich gratis. Die Kinder verbringen den ganzen Tag in der Schule und essen gemeinsam zu Mittag. Dahinter steht eine große Idee: Bildung ist unser wichtigstes Gut, wir können es uns nicht leisten, nicht alle vorhandenen Ressourcen auszuschöpfen.

Das „Humankapital“ wird hingegen bei uns und in Deutschland verschwendet – durch frühe Selektion: Bereits im Alter von 10 Jahren werden die Weichen gestellt. Das bedeutet ohne Zweifel eine soziale Selektion. Alle Studien belegen: Kinder wohlhabender Eltern haben – obwohl im städtischen Bereich immer mehr in die Mittelschulen gehen – um ein Vielfaches höhere Chancen, ein Gymnasium zu besuchen und die Hochschulreife zu erlangen, als jene aus dem Arbeitermilieu oder bäuerlichen Schichten. Migranten-Sprösslingen scheint fast jeder Aufstieg versperrt. Der Schulerfolg hängt weitgehend von der Herkunft ab. Das Erziehungssystem verfestigt noch die Hierarchien und Differenzen und lässt ahnen, dass wir – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – noch immer in einer Art Klassengesellschaft leben.

Aus diesem Grund wird die Idee der „Gesamtschule“ vielfach als anstößig empfunden, als Angriff auf die „natürliche Ordnung“ mit ihren „natürlichen Unterschieden“. – „Heutzutage geht ja schon jeder Prolet ins Gymnasium. Da soll man sich nicht wundern“: Solche und ähnliche Sprüche waren lange gang und gäbe und dürften auch heute noch geklopft werden. In eine ähnliche Richtung zielt die Argumentation von Unterrichtsministerin Gehrer, wonach man vom finnischen Modell nicht so sehr lernen könne, weil dort viel weniger Ausländerkinder die Schulbank drücken.

Das ist freilich Unsinn: Fast alle erfolgreichen Bildungsnationen bilden ihre Jugend in Gesamtschulen heran. Im PISA-Spitzenfeld liegen auch Staaten, die höhere oder vergleichbar hohe Ausländeranteile aufweisen – wie etwa Kanada, Australien, Neuseeland und die Niederlande. Wie sich Migranten in den Schulen bewähren, hängt in erster Linie davon ab, ob man sie integrieren will oder nicht.

Auf Integration ist das deutsch-österreichische Bildungswesen aber nicht ausgerichtet, sondern im Gegenteil eher auf Exklusion. Nicht die Anstrengung, die Gesamtgesellschaft vorwärts zu bringen, steht im Vordergrund, sondern das Bemühen, die Besitzstände der oberen Schichten zu verteidigen. Es ist letztlich das System einer Standesgesellschaft, in der jeder auf seinem vorgegebenen Platz steht – ein starres und mobilitätsfeindliches System, das in seiner Grundstruktur von sozialem Dünkel geprägt ist. Nicht zuletzt das macht die Schüler und Lehrer so mieselsüchtig.

Sozialer Dünkel ist nicht nur dumm. Er ist in zunehmendem Maße auch kontraproduktiv. Das beweist PISA ganz deutlich. Chancengleichheit erscheint nun nicht mehr nur als moralischer Imperativ, sondern geradezu als ein Gebot der Vernunft. Mehr Gleichheit wird zur Notwendigkeit, will eine Nation in der modernen Welt reüssieren.

Die Finnen machen es vor. Von ihnen müssen nicht nur Deutschland und Österreich lernen, jene Länder, in denen die Bildungssysteme sich als besonders rückständig erweisen. Auch das übrige Europa kann sich ein Beispiel nehmen an dem skandinavischen Egalitarismus, der diese Region so stark und dynamisch macht.
Erleben wir eine Rückkehr der Gleichheits-Idee?

Ein Stück bürgerlicher Revolution hat Europa jedenfalls noch vor sich.