eatdrink: „Dieser so genannte Führer“

Reinhard Gerer spricht über seine Degradierung

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Über Reinhard Gerer ist schon ziemlich viel in den Medien verbreitet worden, aber Suchmeldungen waren bisher kaum darunter. Jetzt aber, hieß es vergangene Woche, sei er „abgetaucht“; er nehme keine Telefonate entgegen; er habe sogar die Gala anlässlich der neuen Ausgabe des Restaurantführers Gault Millau „geschwänzt“. Um den Starkoch entspinne sich ein „Drama“, dessen dramaturgischer Höhepunkt Gerer auf dem „Tester-Schafott“ zeige. „Der große Gerer“, wie eines seiner Kochbücher heißt – plötzlich ganz klein?

Wir sitzen in der Nische, die Reinhard Gerer, der langjährige Chef de Cuisine des „Korso“ im Wiener Hotel Bristol, vor einiger Zeit neben die Küchentür bauen hat lassen; als eine Mischung aus Chefs Table für begabte Connaisseure und Séparée für Gäste, die aus amourösen oder ökonomischen Gründen besonders an Diskretion interessiert sind. Sein Mittagsmenü besteht seit Tagen aus Tee und Feh, er spricht leiser als sonst. „Das war schon ziemlich massiv“, sagt der 54-Jährige über die vergangenen Tage. Stimmt, er habe Veranstaltungen gemieden, er wollte dieses mitleidige „Na, wie geht’s dir denn jetzt“ einfach nicht hören. Vorvergangene Woche war Gerer krank zu Hause, als er irgendwann auf sein stumm geschaltetes Handy blickte: „Da waren plötzlich sehr viele Anrufe drauf.“ Er begann den Braten zu riechen und rief seinen Freund und Co-Autor Christian Grünwald, Chefredakteur des Magazins „A la Carte“, an. Ihm vertraut er. Die beiden haben zusammen Bücher geschrieben. Im „A la Carte“-Führer zählt der Koch –mit der Einschränkung, die Küche nach Gerer’schen Regeln bedeute „nicht immer absolute Zuverlässigkeit“ – immer noch zu den besten Österreichs. Von Grünwald erfuhr Gerer, dass ihm in der Ausgabe 2008 sein einziger Michelin-Stern genommen wurde. Kommentarlos, wie es beim französischen Guide üblich ist. Ein paar Stunden später landete Österreichs bekanntester Starkoch schließlich auf dem Bewertungsniveau eines halbwegs ehrgeizigen Provinzwirts. Gault Millau präsentierte die neuesten Ergebnisse: Dem „Korso“ wurde eine der beiden noch verbliebenen Hauben gestrichen.

Abstieg. Seine erste Reaktion? Erinnerungen an den rasanten Aufstieg in den achtziger Jahren, als er nach wenigen Monaten als Küchenchef bereits die erste Haube erhielt. „Wie ist es möglich“, fragte er sich, „dass ich mehr als zwanzig Jahre später auf demselben Niveau bin? Habe ich nichts dazugelernt?“ Er sagt eine Weile nichts, und dann sichtlich gekränkt: „Wir waren, was die Bewertungen betrifft, auf dem Himalaja. Und jetzt eine Haube, das ist schon ziemlich lächerlich.“

Gerers kontinuierlicher Abstieg in der Gunst des Gault Millau ist in der Tat beinahe einzigartig. Bloß Karl Eschlböck aus Mondsee, dem Pionier der feinen Küche in Österreich, war es bisher ähnlich ergangen. Noch im Jahr 2002 hatte das Restaurant „Korso“ vier Hauben. Sie waren Gerer wenige Jahre zuvor nach einer Geschichte wechselhafter Beziehungen zwischen dem Starkoch und dem Guide endlich verliehen worden. 2003 begann das große Mäkeln über Leistungschwankungen und Zweiklassenküche: vierte Haube weg. Wer im „Korso“ wirklich gut essen wolle, steht in der Ausgabe von damals, müsse dem Meister bekannt sein und möge ihn beim Feinkostladen Urbanek auf dem Naschmarkt aufsuchen, um dort, wo Gerer mit Freunden „und ein paar Gläsern“ anzutreffen sei, das Menü zu erörtern. Andernfalls drohe „völlige Absenz jeglicher Inspiration oder gar Spontaneität“. Schlusswort: „Wir meinen, so geht’s nicht.“ Es folgten zwei Jahre Gnadenfrist: „Jetzt geht Gerer in die Offensive“ (2005); „Das oft beschworene Desaster fand auch heuer wieder nicht statt“ (2006). Aber deutlich wurde bereits unterschieden zwischen mittelmäßiger Hochküche auf Basis edler Zutaten und Gerers Kernkompetenz: raffiniert veredelten Klassikern, die oft spontan für prominente oder befreundete Stammgäste kreiert werden und nicht immer den Weg auf die Karte finden. 2007 war die dritte Haube weg: „Bitte der Bequemlichkeit nicht ganz das Feld überlassen.“

Reinhard Gerer sagt, er habe noch nicht einmal gelesen, was heuer über seine Küche geschrieben wurde, aus guten Gründen. Da ist von tratschenden Obern die Rede, die auf Wasser, Wein und Brot vergessen, von allgemeiner Lustlosigkeit, von Amuse-Gueules zum Schmunzeln und mikroskopisch winzigen Beilagen: „Jedes Mal, wenn mir jemand nur ansatzweise davon erzählt, reißt es mich.“ Ich frage, ob ich ihm ein paar Zitate vorlesen darf. Gerer nickt nur. „So langweilig, lieblos und in jeder Hinsicht mittelmäßig haben wir schon lange nicht mehr gegessen.“ Gerer sagt, er höre das zum ersten Mal: „Dieser so genannte Führer führt sich ja ad absurdum, wenn er so einen Blödsinn schreibt.“ Im „Korso“ werde nur das Allerbeste vom Besten eingekauft: „So wie das in der Kritik dargestellt wird, kann ich solche Sachen ja gar nicht verbraten.“

Püreequerelen. Noch ein Zitat: „Labbriger Kalbskopf auf dem denkbar fadesten Erdäpfelpüree“. Es reicht. „Na toll. Labbriger Kalbskopf? Der französische Gourmetkritiker Gilles Pudlowski hat dieses Gericht über den grünen Klee gelobt. Dieses Erdäpfelkrenpüree kommt aus meiner Schmiede und wird mittlerweile in ganz Österreich nachgekocht. Die einfachsten Dinge sind oft die besten. Und man kann sie verstehen oder auch nicht.“

Jetzt ist jedenfalls Zusammenhalt angesagt. Seine Zukunft im Bristol, sagt er, sei unbestritten. Die Generaldirektion habe jede Hilfe angeboten. Am „Korso neu“ wird gearbeitet; Gerer will in etwa zwei Monaten damit starten, „weil wenn meine Küche nicht verstanden wird, muss ich wohl etwas ändern“. Die Devise: zurück zum Geschmack; sogar ein geschlechtsspezifischer Zugang mit einem „Frauenmenü“ schwebt ihm vor. Prominente Essensversteher und Kollegen rufen an und sprechen, sofern Gerer abhebt, Trostworte. Weggefährten echauffieren sich über den Gault Millau. Es sei vielmehr „ein Desaster, was sich dieser Führer erlaubt“, sagt sein einstiger Sous-Chef Andreas Wojta vom Minoritenstüberl und bittet ausdrücklich, auch so zitiert zu werden. „Was hier stattfindet, kann ich nur mit einer privaten Hetze vergleichen.“

Gerer selbst kann sich kaum vorstellen, dass persönliche Motive hinter der Degradierung stecken; „und doch scheint es irgendwie so“. Das wäre ein schwerer Vorwurf an den Guide. Herausgeber Karl Hohenlohe sagt daher klipp und klar: „Keineswegs.“ Die Sache tue ihm „außerordentlich leid“. Und: „Ich halte Gerer für einen fantastischen Koch, aber wir müssen unseren Testern vertrauen.“ Sechsmal sind sie heuer anonym im „Korso“ gewesen: „Die Ergebnisse waren übereinstimmend, wir konnten es anfangs kaum glauben.“ Mehr als eine Haube war eben nicht drin.

Gerers Selbsteinschätzung ist komplett konträr. Er findet, sein Team um Sous-Chef Josef Hohensinn sei „das beste, das ich je hatte. Vom Bauchgefühl her, habe ich gedacht, wir werden sogar wieder zulegen.“ Er nimmt noch etwas Tee und Feh und geht in die Küche. Kochen. Neu durchstarten, „weil es von dieser Talsohle eh nur aufwärts gehen kann“. Er sei nämlich weit häufiger am Herd anzutreffen, als ihm nachgesagt wird. „Aber vielleicht sollte ich wirklich wieder öfter zu den Gästen hinausgehen.“

von Klaus Kamolz