Eatdrink: Klaus Kamolz

eatdrink von Klaus KamolzDänische Verflechtungen

Dänische Verflechtungen

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IRené Redzepi sagt es selbst: Er würde lieber mit einem Stanitzel Flechten ins Kino gehen als mit Chips oder Popcorn. Er ist auf die Waldgewächse gestoßen, als er einmal einem Rentier zusah, das mit der Zunge ein Stück Flechte aufleckte, und dachte sich dann wohl, was gut für Rudolph ist, mag auch gut für uns sein. Eine gute Stunde schon beschäftigen mich die Köche des „Noma“ in Kopenhagen, in einem alten Lagerhaus in einer Gegend am Wasser, die selbst nicht genau weiß, ob sie Industriezone oder Bobo-Stadtentwicklungsgebiet sein oder einfach nur in Ruhe gelassen werden will. Zehn kleine Gänge – und immer noch kein Besteck; Tischtücher gibt es keine, das Essen bringen die Köche, die dabei nicht viel erhabener auftreten, als würden sie in einer Kantine arbeiten.

Alles, was bisher kam, hätte ich in den Kinosaal mitnehmen können: die knusprige und unglaublich nach Herbstwald schmeckende Flechte natürlich, die schon in den Zweigen in einer Vase auf dem Tisch hing, als ich mich setzte (und für die erste Verblüffung sorgte, als ein Koch mir zum Auftakt die Tischdekoration vor die Nase schob); den Keks aus schwarzem Ribiselpulver, Speck und Tannenwipfeln; den Blumentopf, in dessen Erde zwei Radieschen steckten, nur dass diese Erde ein Granulat aus Malz und Nüssen ist. Man könnte all das auch als Effekthascherei abtun, würde es nicht in absoluter Perfektion neue Geschmacksperspektiven erschließen, nämlich die des Nordens.

René Redzepi ist ja nicht nur deshalb die neue Lichtgestalt der Spitzengastronomie, weil er so gut kocht, sondern weil er das nicht kocht, was wir aus allen Ecken der Welt längst kennen. Stattdessen spielt er mit den Ressourcen des Nordens, mal evolutionär, mal revolutionär. Immer wieder erklären die Köche bei Tisch, dass ein gewisses Gericht eine traditionelle dänische Weihnachtsspeise oder ein klassisches dänisches Frühstück zitiere. Dann kommen so fantastische Dinge wie ein mit marinierter Gurke gefüllter flaumiger Teigball, in dem ein geräuchertes Fischchen steckt, ein kleines Kappadokien aus aufgestellten Lauchstangen und wie Lauchstangen gerollten Äpfeln, die mit einem aromatischen Algengelee abgeschmeckt sind, ein Getreidepotpourri mit gerösteten Bucheckern und dänischen Muscheln, die getrocknet und so hauchdünn geschnitten sind, dass man durch sie problemlos die „Jyllands-Posten“ lesen könnte – jedes Blatt eine maritime Geschmacksoffenbarung.

Ich habe auch noch nie ein derart faszinierendes Gericht, das fast nur aus Erdäpfeln bestand, gegessen – junge Knollen, Chips und ein Püree unter einer vinylsinglegroßen Scheibe Milchhaut; wie ist Redzepi bloß darauf gekommen, das nichts besser dazu passt als ein paar simple Wasserkressestiele? Zweimal nur kommen aus der überraschend kleinen Anrichteküche Produkte, die unter die Kategorie Luxus fallen: ein dänischer Langostino mit Austernemulsion auf einem heißen Stein und eine teerschwarze Sauce aus erdigen gotländischen Trüffeln, dazu bloß eine langsam gegarte Scheibe Sellerie. Dieses Stück Knollengemüse, das in Aussehen und Konsistenz einem Fischfilet ähnelt, ist für die „Noma“-Küche programmatisch; wahrscheinlich war es mit Absicht überlagert worden, so wie vor einiger Zeit ohne Absicht die Karotten, die Redzepi dann so lange bearbeitete, bis sie wie noch keine Karotte zuvor nach Karotte schmeckten, sich am Gaumen aber wie ein Stück edles Fleisch anfühlten. Und genau deshalb braucht er das Fleisch erst gar nicht. Nein, halt, da war noch als letzter Hauptgang diese Rentierzunge mit Apfelspänen und Koriander. Und so schließt sich auch der Kreis zur Flechte wieder.

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