Eatdrink: Klaus Kamolz

eatdrink von Klaus Kamolz Quellenangst

Quellenangst

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Wer hat die Tauben zuerst vergiftet? Der amerikanische Satiriker Tom Lehrer Anfang der fünfziger Jahre in New York? Oder der Wiener Kabarettist Georg Kreisler ein paar Jahre später in seinem berühmt gewordenen Lied? Die Geschichte um die Entstehung von „Tauben vergiften im Park“ wird seit Jahrzehnten diskutiert; sie ist fast schon so etwas wie ein Epos des Plagiarismus, und Kreisler steigt ­dabei nicht besonders gut aus. Lehrer bedankte sich später auch schelmisch bei seinem Kollegen dafür, dass er sein Lied in Europa bekannt gemacht habe.

Walter Eselböck, der Vierhaubenkoch aus dem burgenländischen Schützen, erwähnt diese Geschichte nebenbei; er lächelt etwas gequält in diesen Tagen, sieht noch öfter stumm in die Ferne als sonst, aber es ist nicht die gewohnte nachdenkliche Pose eines intellektuellen Kochs. Er denkt darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass jemand sein Restaurant „Taubenkobel“ vergiften will. Seit Tagen wird in der kulinarischen Szene sein Fall diskutiert. Hat sich der Starkoch, der sich zur internationalen „kulinarischen Avantgarde“, wie er selbst sagt, zählt, eines plumpen Plagiats schuldig gemacht?

Die Geschichte nimmt ihren Ausgang in Stockholm. Dort war kürzlich Severin Corti, Gastrokritiker des „Standard“, im Restaurant „Frantzén-Lindeberg“ zu Gast. Im „Frantzén-Lindeberg“ (zwei Michelin-Sterne) gibt es keine Speisekarte, dafür zu Beginn einen Brief in ockerfarbenem Kuvert, versiegelt mit silbernem Wachs. Der Brief erklärt, dass das Menü des Tages ein Resultat der Gespräche mit Bauern, Fischern, Produzenten und Winzern sei. Dann kommt eine Schüssel mit Brotteig an den Tisch; der Teig soll vor dem Gast noch ein wenig aufgehen, bevor er gebacken wird. Dann gibt es eine Komposition aus verschiedenen Butterzubereitungen und ein Gericht aus Mark in einem polierten Markknochen mit einer Bodenplatte aus Metall.

Kurze Zeit später dinierte der „Standard“-Kritiker bei Eselböck, der neuerdings auch keine Speisekarte mehr reichen lässt – und bekam als Menüauftakt eine Kopie der schwedischen Amuse-Gueules serviert, „bis in minutiöse Details – erstaunlicherweise ohne Quellenangabe“. Der Brief: eine freie Übersetzung des Stockholmer Textes in einem Kuvert mit silbernem Wachssiegel. Das Brot: als Teig kurze Zeit auf dem Tisch geparkt, bevor es gebacken wurde. Das Gericht im Markknochen mit Metallplatte. Die Butter …

In einer ersten Stellungnahme erging sich der Koch in langen Ausführungen über gegenseitige Befruchtungen und Inspirationen in der internationalen Spitzengastronomie, freute sich darüber, dass Ideen aus Schützen am Gebirge auf anderen Speisekarten in der ganzen Welt landen, und gestand schließlich doch ein, dass er die kulinarische Philosophie der Schweden als gut, richtig und perfekt empfinde, weshalb er sie „genau so“ übernommen habe. Das Brimborium mit dem Brief und dem Brotteig aber verschwand noch am Tag der „Standard“-Kritik aus der pannonischen Speiseliturgie. Dennoch: Eselböcks Restaurant wird in Internet-Foren jetzt „Taubengoogle“ genannt oder „Gasthaus Guttenberg“; Restaurantkritiker riefen ihre positiven Berichte über Eselböcks neue Küche kurz vor Andruck zurück, um sie im Licht der schwedisch-pannonischen Parallelen zu aktualisieren.

Um die Sache ins rechte Licht zu rücken: Es geht um ­einige Details einer langen Menüfolge, aber für einen Koch mit dem Selbstverständnis und dem Selbstbewusstsein eines Walter Eselböck ist es dennoch das Schlimmste, das passieren konnte. Er weiß das. Er fragt sich, wie lange diese Sache nun wohl an ihm kleben bleiben werde und ob er sie je wieder loswerden könne. Neigt sich die Waage, auf deren Schalen einerseits tonnenschwere Verdienste um eine moderne und zum Teil avantgardistische Regionalküche und andererseits ein paar Gramm Siegelwachs, Brotteig und Knochen liegen, gegen die Naturgesetze, wie Eselböck sie gerne hätte? Freunde spenden Zuspruch, aber manche erst, nachdem sie ihn gefragt haben, was ihm denn da eingefallen sei. Das habe ihn schon nachdenklich gemacht, sagt er. Und er kann mittlerweile auch nachvollziehen, was an der Geschichte eine schiefe Optik aufweist. Damals in Stockholm, bei diesem folgenschweren Essen, hatte er seine Neuorientierung als Koch im Kopf: „Aber ich habe sie nicht auf den Punkt gebracht, und dann habe ich gesehen, wie die das machen.“ Den Rest erzählt Walter Eselböck wie jemand, der kurzfristig das Bewusstsein verloren hat und sich nicht mehr genau an die Minuten davor erinnern kann: „Ich nehme zwei Details auf meine Kappe. Mit dem depperten Kuvert und dem Wachs werde ich wohl leben müssen. Ich hätte den Brief zusammenrollen sollen. Und das Brot schon gebacken an den Tisch bringen sollen. Das war meine relative Dummheit.“

Jetzt muss sich Walter Eselböck, der noch vor Kurzem geglaubt hatte, als Koch nach einem Vierteljahrhundert dort angekommen zu sein, wo er hinwollte, wie er sagt, wohl noch einmal neu erfinden. Damit andere wieder ihn ko­pieren.

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