Ein Jahr Wende: Abschied vom Konsens

Eine Bilanz des Schüssel- Pokers

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Festakte sind nicht vorgesehen. Zum einjährigen Jubiläum des Antritts der schwarz-blauen Bundesregierung ist nur ein simpler Fototermin am Arlberg geplant: Am 3. Februar wollen sich Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer mit möglichst vielen Kabinettsmitgliedern anlässlich der Ski-WM in St. Anton für ein Familienfoto ablichten lassen. Hintergedanke: Nach dem erhofften Medaillenregen für Österreichs Ski-Lieblinge soll ein wenig an patriotischen Hochgefühlen auch für die Bundesregierung abfallen.

Ein Jahr nach der politischen Wende in Österreich will Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vor allem Normalität demonstrieren. Am Mittwoch dieser Woche wird er in einer Rede im Parlament zufrieden Bilanz ziehen. Geplante Schwerpunkte: Die Koalition habe die Budgetsanierung eingeleitet und werde nun auch strukturelle Reformen in der Verwaltung angehen. Das jüngste Lob von der EU-Kommission für Grassers Weg zum Nulldefizit kommt der Regierung dabei sehr gelegen.

Stichwort Österreich und EU: In der Rede soll betont werden, dass es auf Vorschlag Österreichs nunmehr eine neue Regelung für Verstöße gegen Grundprinzipien der EU gebe. Damit seien Sanktionen wie jene der EU-14 gegen Österreich in Zukunft nicht mehr möglich.

Schließlich wird Schüssel auf die Einigung bei der Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern und auf den Restitutionsfonds für "arisiertes" Eigentum verweisen. Damit sei ein jahrzehntelanges Versäumnis wettgemacht worden. Zu einer Entschuldigung für die Mitschuld Österreichs - wie vom Jüdischen Weltkongress gefordert - ist Schüssel nicht bereit. Schließlich hatte er kürzlich in der "Jerusalem Post" Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus dargestellt.

Wende gut, alles gut?
Für die ÖVP scheint sich der umstrittene Schwenk zur Koalition mit der FPÖ gelohnt zu haben. Selbst jene ÖVP-Politiker, die vor einem Jahr für eine Fortsetzung der großen Koalition plädiert haben, räumen heute ein, dass Schüssel das Pokerspiel gewonnen hat: Die ÖVP ist vom dritten Platz in der Wählergunst zur Kanzlerpartei aufgestiegen und liegt heute in Meinungsumfragen gleichauf mit der SPÖ oder schon vor ihr.

"Es hat sich für uns ausgezahlt. Schüssels Entscheidung war richtig", betont Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer. Und selbst Wiens ÖVP-Obmann Bernhard Görg, der vor einem Jahr im Parteivorstand als Einziger gegen die Ehe mit der FPÖ gestimmt hatte, urteilt heute milde: "Die FPÖ hat sich wesentlich konstruktiver verhalten, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich war damals felsenfest davon überzeugt, dass mit der FPÖ eine Sanierungspartnerschaft nicht möglich ist."

Bruchlinien
Doch Görgs prinzipielle Skepsis gegenüber den Blauen ist ihm geblieben: "So wie die FPÖ in Wien jetzt wieder das Ausländerthema hochspielt, so geht das nicht."

Die schwarz-blaue Partnerschaft weist viele Bruchstellen auf. Die FPÖ hat den Übergang von einer radikalen Oppositionspartei zu einer verantwortungsbewussten Regierungskraft noch nicht geschafft. Dazu kommt, dass die Freiheitlichen im Vorjahr bei Landtagswahlen in der Steiermark und im Burgenland empfindliche Rückschläge einstecken mussten. Die Blauen zahlen die Rechnung für unpopuläre Sparmaßnahmen gleich doppelt: Viele zur FPÖ übergelaufene bürgerliche Wähler sind zur ÖVP zurückgekehrt. Und jene Protestwähler, die vor allem die scharfe Oppositionspolitik der FPÖ goutierten, sind inzwischen bitter enttäuscht. Daher sackte die FPÖ in Umfragen von 27 Prozent auf unter 20 Prozent ab.

Obendrein leidet der blaue Koalitionspartner an parteiinternen Flügelkämpfen und an einer dünnen Personaldecke: Gleich drei FPÖ-Minister mussten bisher ausgetauscht werden.

Jörg Haider stellt auch nach der Hofübergabe an Susanne Riess-Passer das größte Risiko für die Bundesregierung dar. Er droht auch als "einfaches Parteimitglied" gern mit der Aufkündigung der Koalition.

Isolation bleibt
Bundeskanzler Schüssel musste beträchtliche Energie dafür aufbringen, Haider bei der Stange zu halten. Drohungen aus dem Bärental nahm er genauso schweigend hin wie bedenkliche Anregungen wie etwa die strafrechtliche Verfolgung von Oppositionellen, was Justizminister Dieter Böhmdorfer als "verfolgenswerte Idee" einstufte.

Die Angriffe von FPÖ-Politikern gegen Polizei und Justiz im Rahmen der "Spitzelaffäre", die flächendeckenden Klagen ge-gen kritische Journalisten, die Attacken gegen unliebsame ORF-Journalisten: All dies trug zu einer Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit im ersten Wendejahr bei. "Österreich neu regieren" - eine der Losungen der neuen Koalition musste bei vielen besorgten Bürgern wie eine gefährliche Drohung wirken.

Trotzdem ist heute offene Kritik an der Koalition im bürgerlichen Lager rar. Nur Herbert Krejci, ehemaliger Generalsekretär der Industriellenvereinigung, bleibt bei seiner Skepsis: "Was mich besonders stört, ist die ausdrückliche Verschlechterung des politischen Klimas. Und wirtschaftspolitische Entscheidungen fallen heute in Zirkeln, die keine Regierungsverantwortung tragen", betont Krejci, ohne den blauen Industriellen und dritten Nationalratspräsidenten Thomas Prinzhorn direkt beim Namen nennen zu wollen.

"In Europa sind wir nach wie vor isoliert", klagt Krejci und ortet auch inhaltliche Schwachstellen: "In der Budgetpolitik sehe ich keine wirkliche Konzeption, nur ein Zusammenkratzen von Geldern und die höchste Abgabenquote der Zweiten Republik."

Standort in Gefahr
Der Hotelier und Großgrundbesitzer Karl von Schwarzenberg will erst gar nicht von einer "Wende" sprechen. "Schüssels Pokerspiel ist aufgegangen: Die ÖVP nimmt bei den Wahlen zu, die FPÖ sinkt ab. Haider ist heute schon fast ein marginales Problem."

Bei den angekündigten Reformen sieht Schwarzenberg dagegen großen Nachholbedarf. "Hier kommt der Schein vor dem Inhalt. Ein Nulldefizit hauptsächlich einnahmenseitig zu erreichen, ist halt zu wenig. Und bei den Privatisierungen sah ich es auch nicht als vordringlich an, dass als Erste die Lipizzaner drankommen. Dieser Vorgang ist symptomatisch."

Lobenswert findet Schwarzenberg die Einigung bei der Entschädigung von Zwangsarbeitern und beim Restitutionsfonds von "arisiertem" Vermögen. "Das war überfällig."

Die wirtschaftspolitische Bilanz fällt zwiespältig aus: Unternehmer klagen über die höhere Abgabenquote. Die versprochene Senkung der Lohnnebenkosten wurde wegen der Budgetsanierung und auch wegen der Beiträge für die Zwangsarbeiter-Entschädigung verschoben. Der Wirtschaftsstandort Österreich leidet weiterhin an zu niedrigen Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Die Wiener Börse steckt in einem Dauertief.

Der Chef des Instituts für Höhere Studien, Bernhard Felderer, lobt dennoch die Regierung. "Die Reduktion des Budgetdefizits ist in Ordnung, auch wenn die Steuerquote vorübergehend etwas angehoben wurde." Auch mit dem geplanten Verkauf staatlicher Industriebeteiligungen sei der Kurs richtig: "Ich bin für eine vollständige Privatisierung, aber nicht radikal und sofort."

Sorgen bereitet Felderer der Mangel an Personal in der Informationstechnologie. "Wir brauchen dringend Fachkräfte, auch wenn hier die FPÖ und die Gewerkschaften bremsen."

Schon jetzt sind neue Investitionsentschei-dungen in der Fahrzeug- und Elektronik-Industrie gefährdet. Doch die Volkspartei hat aus Rücksicht auf die restriktive Zuwanderungspolitik des Koalitionspartners Forderungen von Unternehmern nach Arbeitsbewilligungen für ausländische Spezialisten ignoriert.

Speed kills. Die Polarisierung in der Gesellschaft seit der Angelobung der schwarz-blauen Regierung ist unbestritten. Ein tiefer Riss geht quer durch alle Alters- und Berufsschichten, indifferent blieb kaum jemand. Im kulturellen Bereich wollen viele mit der Regierung noch immer nichts zu tun haben.

Im konsensgewohnten Österreich gerieten tragende Säulen der Zweiten Republik wie die Sozialpartnerschaft plötzlich ins Wanken. Dazu kam das ungewohnte Tempo bei der Umsetzung von Regierungsvorhaben. Freilich barg die Losung der Regierung "Speed kills" Tücken. Im Herbst wurde die Einführung von Studiengebühren geradezu überfallsartig beschlossen. Bildungsministerin Elisabeth Gehrer hatte diese noch kurz zuvor ausgeschlossen.

Ausnahmsweise übte Schüssel zum Jahreswechsel Selbstkritik: Man hätte bei manchen Themen wie den Studiengebühren doch eine breitere Diskussion zulassen sollen, meinte der Kanzler.

Oppositionsleid. SPÖ-Politiker und Grüne, aber auch Kirchenvertreter warnten, dass die Sparpolitik Bezieher von Arbeitslosenhilfe, allein erziehende Frauen oder Unfallrentner hart treffe. Angesichts des Sparpakets musste die geplante Auszahlung des Kindergeldes bis zu drei Jahren auf breites Unverständnis stoßen. Frauenverbände, schon von der Ernennung eines männlichen Frauenministers unangenehm berührt, werfen der Regierung vor, Frauen aus dem Berufsleben und zurück zum Herd drängen zu wollen.

Schüssel blieb gelassen und nahm auch in Kauf, dass Kernwähler wie Beamte und Lehrer vergrault wurden. Der Abbau von elftausend Beamten, immerhin ein Zehntel der Bundesbediensteten, "bringt uns natürlich neue Gegner ein", weiß Wirtschaftsminister Martin Bartenstein. "Aber wir müssen weg vom Verwaltungsstaat zum leistungsorientierten Staat."

Die Verwaltungsreform wurde zum prioritären Ziel in diesem Jahr erhoben. "Wir müssen vom Jahr der Worte zum Jahr der Taten kommen", forderte Wirtschaftskammerpräsident Christof Leitl, dem der Abbau von bürokratischen Hürden für Unternehmer noch viel zu langsam geht.

Der Unternehmer und Ex-SPÖ-Vizekanzler Hannes Androsch sieht in der Wende keinerlei Vorteile: "Das Nulldefizit soll durch Steuererhöhungen, Einmaleffekte und kreative Buchhaltung zustande kommen. In wichtigen Bereichen wie Forschung, Innovation oder Verkehr sehe ich ein Tohuwabohu statt Reformen. Die Politik wurde in den Gerichtssaal getragen. Und unser Ansehen im Ausland ist um nichts besser geworden. Es tut mir leid: Wir sind vom Regen in die Traufe gekommen."

Mit der neuen Rolle als Opposition tut sich die an Finanz- und Personalproblemen leidende Partei viel schwerer als die Grünen, die zu aktuellen Themen schneller agieren und unter dem populären Parteichef Alexander Van der Bellen auch die Sanktionsfallen zielsicherer vermieden.

Die hastig und unbedacht verhängten Sanktionen der 14 EU-Partner spalteten die Österreicher in zwei unversöhnliche Lager: Die eine Seite gab den EU-Partnern die Schuld - einer sozialdemokratischen Verschwörung, gepaart mit historischen Aggressionen aus Frankreich. Die andere Seite machte allein Jörg Haider und seinen Populismus für die internationale Ächtung verantwortlich. Die Sanktionen stellten sich als der letzte Kitt heraus, der die Mehrheit der Österreicher zusammenhielt.

Die Freude über die Aufhebung der Sanktionen war dann so groß, dass es gar nicht auffiel, dass die Kritik und die Empfehlungen im Bericht des Weisenrates nicht ernst genommen wurden.

Allein in der EU
Österreich gilt in der EU weiterhin als isoliert. Verbündete für nationale Anliegen zu finden fällt derzeit schwer. So steht Österreich gerade beim Transitproblem ziemlich allein da. Eine Verlängerung des 2003 auslaufenden Transitvertrags gilt als ziemlich unwahrscheinlich.

Auch hier rächt sich ein altes Versäumnis: Noch während der großen Koalition wurde den Österreichern der EU-Beitritt durch das offizielle Versprechen schmackhaft gemacht, dass sich nichts ändern werde: von der Neutralität über die Währung bis zu den anonymen Sparbüchern. Verschwiegen wurde dabei, dass Österreich auch einer Wertegemeinschaft beigetreten ist.

Und die Regierung ist drauf und dran, ein neues Ziel der Union, die Überwindung der Teilung des Kontinents durch die Aufnahme der ersten Reformstaaten, zu verpassen. In seltsamer Eintracht warnen FPÖ und ÖGB vor einer raschen Aufnahme. Dass die Chancen die Nachteile überwiegen, wie gerade eine neue schwedische Studie für Österreich nachgewiesen hat, wird nicht geglaubt.

"Wir Österreicher sind in den Zug nach Brüssel eingestiegen", analysiert EU-Kommissar Franz Fischler bitter. "Aber mental sind wir noch immer nicht angekommen."

Otmar Lahodynsky, Mitarbeit: Ursula Müller
"profil" Nr. 05/2001 vom 29.1.2001