Alfred Gusenbauers letzte Tage im Amt

Ein Mann räumt auf: Bundeskanzler Alfred Gusenbauers letzte Tage im Amt

Reportage: Ein Mann räumt auf

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Die Bücher sind schon weg. Die Reservewäsche und die Anzüge holt der Chauffeur aus dem kleinen Kabinett, das dem Kanzler als Garderobe zur Verfügung steht. Hier hat Alfred Gusenbauer immer geduscht, wenn er nach dem morgendlichen Joggen durch das noch menschenleere Wien – um 6.30 Uhr lief er von der Wohnung am Spittelberg los – ins Amt gekommen war. „Immer“ dauerte in seinem Fall nicht lange, und der scheidende Bundeskanzler verhehlt in keiner seiner Abschiedsreden die Enttäuschung über das frühe und jähe Ende seiner Ära. „Es hätte mich nicht gestört, wenn wir die Legislaturperiode fertig gemacht hätten“, sagte er am Dienstag vergangener Woche im Nationalrat. „Ich für meinen Teil habe mich hier zu Hause gefühlt“, vertraute er den Mitarbeitern des Bundeskanzleramts an, als er sich bei Limonade und Brötchen am Mittwoch von ihnen verabschiedete.

Aber ergriffen hat ihn in diesen Tagen keiner gesehen. Es gab nicht diese gebrochene Stimme, mit der Jörg Haider im April 2000 den Stab übergab: „Susanne, geh du voran.“ Es gab nicht die feuchten Augen, mit denen selbst der eisige Wolfgang Schüssel am ÖVP-Parteitag vor eineinhalb Jahren der Macht Adieu gesagt hatte. „Ich habe mich bemüht“, sagte Alfred Gusenbauer am Dienstag in seiner letzten Rede von der Regierungsbank des Nationalrats-Sitzungssaals. Dann klappte er mit einem kleinen Lächeln seine Mappe zu, stieg hinunter ins Plenum, um sich per Handschlag von den Klubobmännern zu verabschieden, und stapfte dann trockenen Auges unter dem Applaus aller Fraktionen durch die Glastür des Sitzungssaals – so als wollte er den Kameras, die ihn in schweren Momenten selten verschont hatten, diesen kleinen Triumph nicht auch noch gönnen. Er habe monatelang Zeit gehabt, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten, versteht Gusenbauer Fragen nach der ausgebliebenen Rührung nicht. Sein Abschied sei doch in Wahrheit schon im Juli erfolgt; dass die Tage der Übergabe kommen würden, sei schließlich absehbar gewesen. Und dass er in seinen zwei Amtsjahren „ungefähr dreieinhalb Kilo“ abgenommen habe, dürfe auf keinen Fall erlittenen Kränkungen angerechnet werden. Er sei jetzt einfach ein sehr konsequenter Jogger.

So endet nüchtern, was romantisch begonnen hatte: Ein Arbeiterkind wird mit 18 Funktionär, organisiert mit 20 große Friedensdemonstrationen, zieht mit 30 ins Parlament ein und ist mit 40 Vorsitzender der traditionsreichen Sozialdemokratie Österreichs. Kurz vor seinem 46. Geburtstag wird das Wunderkind aus dem Gemeindebau als Bundeskanzler der Republik angelobt. 680 Tage später ist das politische Leben des Alfred Gusenbauer vorerst zu Ende. Die kaum von Sentimentalitäten überlagerte Erleichterung, die er darüber zu empfinden scheint, lässt die Verletzungen erahnen, die es ihm zugefügt haben mag. Eine schmerzt ihn trotz vorgeblicher Gleichgültigkeit allerdings so sehr, dass der Zorn gleich mehrmals am Tag aus ihm herausbricht: Eine Falschmeldung der Tageszeitung „Österreich“ über angebliche Schulprobleme seiner Tochter Selina habe alle Grenzen gesprengt, meint Gusenbauer: „Wenn einmal die Kinder hineingezogen werden, hört es sich auf.“ Pressesprecher Stefan Hirsch hat seither den strikten Auftrag, jeden Kontakt mit dem Blatt zu meiden.

Es bestehe schon die Gefahr, „dass man unsensibel wird, wenn ständig die Pfeile auf einen niederprasseln“, beschied Gusenbauer Mittwochabend einer jungen Debattenrednerin bei einer Schülerdiskussion im Wiener Museumsquartier. Aber ohne emotionalen Schutzschild gehe es in solchen Funktionen einfach nicht. Das Büro am Ballhausplatz ist fast schon besenrein. Seine privaten Besitztümer sind längst im Karton. Der Schreibtisch ist weitgehend leer. Die Gemälde an der Wand bleiben hier, sie gehören, bis auf eines, der Republik. Nur das Bild des Malers Peter Sengl, das ihm seine Lebensgefährtin Eva Steiner geschenkt hatte, als er vor knapp zwei Jahren hier eingezogen war, lässt Alfred Gusenbauer bis zuletzt hängen. Es ist jenes mit dem Spruch des spanischen Dichters Antonio Machado: „Wanderer, es gibt keinen Weg. Die Wege entstehen im Gehen.“ Entstehen sie auch im Abgehen, Herr Bundeskanzler? „Ja, ja“, sagt Gusenbauer, „das gilt immer.“

Nächste Woche bezieht er mit einer Sekretärin Quartier in der SPÖ-Bildungsakademie Renner-Institut, im vorstädtischen Altmannsdorf. Und im Jänner macht Gusenbauer ausgiebig Urlaub. Dass er ab Februar an einer renommierten Universität in New York unterrichten soll, lässt er als schmeichelhaftes Gerücht neckisch im Raum stehen, ohne es bestätigen zu wollen: „Sie wissen ja, dass ich akademisch immer sehr interessiert war.“

Vom gegenwärtigen EU-Ratspräsidenten Nicolas Sarkozy hat er sich Anfang vergangener Woche telefonisch verabschiedet. Mit dem quirligen Konservativen ist der frankophile Kanzler gut ausgekommen. Der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker hatte ihn schon im Juli, als er seinen Rückzug ankündigte, angerufen: „Gusi, das kannst du doch nicht machen!“ Die europäischen Sozialdemokraten traf Gusenbauer noch einmal am Wochenende in Madrid. Montag ist er wieder in Wien. Dienstag, Punkt 10.30 Uhr übergibt der Bundeskanzler seinem Nachfolger Werner Faymann in einer kleinen Zeremonie das Amt. Und danach? Gusenbauer stutzt: „Das hab ich mir noch gar nicht überlegt. Wahrscheinlich geh ich ins Wirtshaus.“ Am Abend werden ihm dann enge Freunde ein würdiges Abendessen bereiten, da soll dann der Sack bei gutem Rotwein zugemacht werden.

Jetzt wäre die Zeit für bleibende Worte. Franz Vranitzky hatte, befragt, was er nach seinem Abgang tun werde, geantwortet, er wolle jetzt einmal seinen Weinkeller sortieren. „Meiner ist sortiert“, sagt Gusenbauer, „wie sich jeder vorstellen kann.“ Seine Schlussfolgerungen nach 30 Jahren in der Politik und 23 Monaten an der Regierungsspitze gerinnen zu einer Art persönlicher Kalendersprüche. „Manchmal sind Niederlagen das Einzige, was zu Lernschritten führt“, sagt er etwa, und man weiß nicht, ob er die ÖVP oder sich selbst meint. Der letzte Orden geht an einen Freund. Am Mittwoch hängt der Kanzler dem Musiker Rudi Wilfer das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst um den Hals, einem der letzten Haudegen der Wiener Szene, der schon mit Uzzi Förster, Fatty George und dem frühen Joe Zawinul gejazzt hatte.

Wilfer bedankt sich mit einem Medley am Flügel. Nur bei einem Lied singt er mit: „Des Glück is a Vogerl, / gar liab und recht scheu. / Und wannst net dazuschaust: / Weggflogn is glei.“ Alfred Gusenbauer sitzt in der erste Reihe und ­lächelt.