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Ein „neuer Antisemitismus“?

Ein „neuer Antisemitismus“?

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Der „Europäische Jüdische Kongress“ hat auf seiner jüngsten Tagung in Jerusalem einen „neuen Antisemitismus“ diagnostiziert. „Die Juden sind wieder Freiwild in Europa. Besonders die kleinen Gemeinden sind hoch sensibilisiert und überlegen, ob Juden Europa verlassen sollten“, stellte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, den aktuellen Bezug zu Österreich her, „meine Kinder haben Österreich verlassen, weil sie den täglichen Stress, Juden zu sein, nicht mehr aushalten.“

In den neuen Antisemiten sieht Muzicant eine „brisante Mischung“ aus alten Nazis, Globalisierungsgegnern, Skinheads und linken Intellektuellen. Letztere benutzten den israelisch-palästinensischen Konflikt, um ihre antisemitischen Ressentiments auszuleben, indem sie einen „doppelten (moralischen) Standard“ geschaffen haben.

Ich hege wenig Zweifel an dieser Analyse (auch wenn ich die „Kinder“-Geschichte so nicht ganz glaube). Nur sehe ich nirgends einen „neuen Antisemitismus“, sondern immer nur den alten, wenn auch in gelegentlich neuem Gewand.

Es war immer eine Illusion zu hoffen, dass wenigstens der aggressive Antisemitismus sich mit Auschwitz in Rauch aufgelöst hätte. Im Gegenteil: Die Übergröße des Verbrechens erleichtert es, die Auseinandersetzung mit dem eigenen, kleinen Versagen zu unterlassen. Für Russen oder Polen lässt die Perspektive der Gaskammern und Krematorien die eigenen Pogrome zu punktuellen Entgleisungen schrumpfen; Franzosen, Engländer oder Schweizer sehen schon gar keinen Anlass, sich mit ihrem traditionellen Antisemitismus zu befassen, wenn sie ihn an seiner Explosion in Hitler-Deutschland messen.

Vor allem aber ist es ein Irrtum zu glauben, dass Auschwitz den Antisemitismus unter Deutschen und Österreichern vermindert haben muss. Im Gegenteil: Gerade weil die Schuld und Mitschuld so vieler Mitglieder der Kriegsgeneration eine so belastende gewesen ist – selbst die, die bloß weggeschaut haben, haben noch reichlich Grund, sich zu genieren –, mussten und müssen sie jeden Strohhalm einer wenigstens minimalen Rechtfertigung ergreifen: dass die Juden ja wirklich die Wirtschaft dominiert hätten; dass sie einander ja wirklich egoistisch protegierten, dass sie ihr orthodoxer Glaube ja wirklich isoliere.

„Natürlich hätte man sie nicht vergasen dürfen. Das hat der Hitler wirklich falsch gemacht – man hätte das anders lösen müssen“, so ist die offene, unverstellte Zusammenfassung dieser Argumentation, deren stille Fortsetzung nach wie vor lautet: „Es hätte doch gereicht, sie nach Madagaskar zu schicken.“

Ihre noch breitere Wirkung entfaltet sie unterbewusst. Der deutsche oder österreichische Großvater, Vater, Onkel, der seinen fragenden Kindern die „Besonderheiten“ der Juden aufzählt, führte in Wirklichkeit ein Selbstgespräch: „Völlig grundlos mordet niemand.“ Es gibt keinen neuen, es gibt nach wie vor immer nur den alten Antisemitismus.

Es gibt das unveränderte religiöse Bedürfnis, den eigenen Glauben über den Glauben der anderen zu stellen. Noch weniger als die Mitglieder fremder Religionen können die Mitglieder verwandter Religionen miteinander umgehen: Moslems, Christen und Juden haben einander (fast) zwei Jahrtausende wechselseitig als Verräter des wahren Glaubens betrachtet. Das historische Handikap der Juden besteht darin, die mit Abstand kleinste und schwächste dieser drei Gruppen zu sein. Es gibt das unveränderte gruppendynamische Bedürfnis, den Zusammenhalt der Mehrheit zu stärken, indem sie sich gegenüber einer Minderheit von „anderen“ abgrenzt. Die jüdische Minderheit eignet sich dazu in den USA so gut wie in Frankreich, in Belgien so gut wie in der Schweiz, denn sie ist immer zur Hand. (Wobei ein Volk mit besonderen Identitätsproblemen, wie die Österreicher, ein besonderes Bedürfnis nach Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls durch Abgrenzung von anderen hat.) Diese bis zur Isolation reichende Ausgrenzung erhält unverändert den besonderen religiösen oder mindestens sozialen Zusammenhalt jüdischer Gemeinden und schafft sich so ihre eigene Rechtfertigung.

Weil der Antisemitismus ein so altes, durchgehendes Phänomen ist, ist nicht neu, sondern selbstverständlich, dass er sich unter „Skinheads“ ebenso artikuliert wie unter „linken Intellektuellen“. (Als ob er unter rechten Intellektuellen nicht vertreten wäre.) Und warum sollten Globalisierungsgegner vor Antisemitismus gefeit sein, wenn ihn auch ausgeprägte Internationalisten (etwa in kommunistischen Regimen) vertreten haben.

Natürlich befassen sich alle jüdischen Gemeinden derzeit mit der Frage, welcher Zusammenhang zwischen Israels Palästinenser-Politik und dem angeblich „neuen Antisemitismus“ besteht.
Ich behaupte: gar keiner.

Israel betreibt in meinen Augen eine schlechte, kontraproduktive, in Teilen inhumane Politik gegenüber einem Volk, in dem üble, inhumane Organisationen eine leider entscheidende Rolle spielen.

Israelis sind nicht vor falscher, ja inhumaner Politik gefeit, weil sie Juden sind.

Das Wesen antisemitischer Kritik an Israelis – darin bin ich mit Muzicant einig – besteht darin, „an sie als Juden“ einen anderen, besonderen Maßstab anzulegen und dabei mit unschuldigem Augenaufschlag den hinterfotzig falschen zu wählen: „Die Juden verhalten sich gegenüber den Palästinensern nicht anders als die Deutschen gegenüber den Juden.“

Das Argument mag neu in seiner Art sein – der Antisemitismus, der daraus spricht, ist der alte.