Ende der Geschichte

Ein Schwerverbrecher als Popstar in Großbritannien

Essay. Ein Schwerverbrecher als Popstar in Großbritannien

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Tony Blair hatte es leicht. Als im Sommer seiner ersten Amtsperiode Princess Diana starb, nannte er sie einfach die Prinzessin des Volkes und surfte prompt auf der Welle des globalen Mitgefühls. Der amtierende Premierminister David Cameron dagegen muss sich zeit des Sommerlochs mit der spontanen Trauer einer markanten Minderheit um einen 37-jährigen Amokläufer herumschlagen, der vergangene Woche, umzingelt von Polizei und Einsatzkräften, am Ende einer wochenlangen Menschenjagd Selbstmord beging.

Am Rednerpult im Unterhaus fand Cameron klare Worte:
Es ist eindeutig, dass Raoul Moat ein kaltblütiger Mörder war. Punkt, end of story. Die kompromisslose Schlussfloskel musste Kennern der feinen Untertöne (also: nahezu allen Briten) unweigerlich als unglaubhafte Annäherung eines Patriziers an den volkstümlichen Zungenschlag aufstoßen. Jedenfalls war das Ende der Geschichte noch lange nicht das Ende der Geschichte, schließlich hatte Cameron noch Wesentliches nachzusetzen: Ich kann nicht verstehen, dass es irgendeine Welle öffentlichen Mitgefühls für diesen Mann geben kann.

Ein erstaunlicher Fehltritt seitens des deklarierten Erben Blairs, der seinem Vorbild in Sachen populistischer Instinkt merklich nachhinkt. Denn die öffentliche Glorifizierung eines Manns, der nach dem Verbüßen einer Haftstrafe wegen Körperverletzung (an seinen eigenen Kindern) zuerst den Lebensgefährten seiner Ex-Freundin ermordet, dann die Ex-Freundin selbst verwundet und schließlich einem unbewaffneten Verkehrspolizisten mitten ins Gesicht geschossen hatte, war ebenso verstörend wie völlig unüberraschend.

Der in den Alkoholismus abgedriftete Ex-Fußballheld Paul Gascoigne, der den Türsteher Moat einst als lieben Kerl und guten Freund kennen gelernt hatte, war noch während des finalen Showdown im ländlichen Rothbury mit einer Angelrute, wärmender Kleidung und Bier vorbeigekommen, um sich als Vermittler anzubieten.

Gascoignes Gnadenappell kam zwar bei der mit Helikoptern, einem von der Royal Air Force geborgten Düsenjäger, gepanzerten Einsatzwagen, Taser-Waffen, Nahkampfausrüstung und mattschwarzen Stahlhelmen angerückten Polizei nicht an. In den verelendeten Winkeln des Lands mit Westeuropas anteilsmäßig größter Gefängnispopulation sollten die Worte Gascoignes jedoch einen empfindlichen Nerv treffen.

Eine 21-jährige alleinerziehende Mutter aus Burnley setzte tags darauf jene Facebook-Site mit Titel R. I. P. Raoul Moat You Legend auf, die binnen kürzester Zeit rund 40.000 Fans versammeln und schließlich das Statement des Premierministers im Parlament inspirieren sollte. In einem Radiointerview äußerte die Initiatorin, Moats Gewaltorgie sei etwas harsch gewesen, doch es wäre ohnehin höchste Zeit, dass jemand der Polizei was zu tun gibt.

Diese Auslegung von Moats Schwur, bis zu seinem Tod so viele Polizisten wie möglich umzubringen, als eine Art trotziger Ruf nach Zuwendung der Obrigkeit war interessanterweise nicht allzu weit entfernt von der Analyse einer liberalen Kolumnistin wie Christina Patterson vom Independent, die sich von Moats letzten öffentlichen Worten Niemand kümmert sich um mich eingestandenermaßen zu Tränen rühren ließ: Raoul Moat sprach für viele Leute in diesem Land, die es schwer finden, auf die Art zu funktionieren, welche die Gesellschaft verlangt.

Es ist ein zutiefst britisches Rebellentum, das sich im Scheitern an den Vorgaben jenes (Brav-)Seins äußert, das für die dienenden Klassen vorgesehen ist.

Großbritannien ist kein kontinentaleuropäischer Sozial-, sondern ein hierarchisch nach philanthropischem Prinzip organisierter Wohlfahrtsstaat. Die Infantilisierung des Individuums äußert sich bei Anlässen dieser Art routinemäßig im Verweis auf die Social Services, welche die jeweilige Tragödie hätten kommen sehen sollen. Prompt findet sich auch im Fall des in seinem Streben nach unerreichbaren Männlichkeitsidealen mit Steroiden vollgepumpten Moat ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter, bei dem er vergeblich nach psychologischer Beratung verlangt haben soll.

Noch düsterer ist die von seiner Facebook-Fangemeinde propagierte Darstellung des sanften Riesen als Opfer seiner Ex-Freundin, die er, wie seine Kinder, körperlich schwer misshandelt hatte. Die Tatsache, dass sie Moat ihren neuen Freund, einen Karatelehrer, zur Abschreckung als Polizisten beschrieb, wurde ihr, der kleinen Hure, der Drecksgöre vom Online-Mob als unverzeihliche Provokation ausgelegt. Bedenklicherweise schwenkte selbst The Sun, das größte Boulevardblatt der Insel, unterschwellig auf den misogynen Konsens ein, indem es ein Foto der angeschossenen Ex-Freundin mit der Überschrift Oh Gott, warum habe ich gelogen? auf die Titelseite setzte. Die erschütterte Blondine, hieß es im zugehörigen Artikel, sei gequält von der Schuld, dass sie den Amoklauf des freigelassenen Sträflings entfachte.

All die Erklärungen der Popularität Moats als Mythos vom Opfer sind bloß die halbe Wahrheit als Täterfigur ist er mindestens ebenso attraktiv. Die britische Liebe zum glamourösen Verbrecher hat eine lange Tradition, spätestens seit Robin Hood, der übrigens erst in späteren Abwandlungen der Legende zum aristokratischen Umverteiler veredelt wurde. Im britischen Buchhandel spielt das Genre True Crime eine zentrale Rolle. Chroniken schauriger Morde und Memoiren heroischer Hooligans stehen da gleich neben Biografien berühmter Krimineller manche von ihnen Dämonen wie die Kindermörderpärchen Myra Hyndley und Ian Brady oder Fred und Rose West, andere de facto Popstars wie der vom Gangland-Faktotum und Oberknastbruder zum gefeierten Mediendarling gewandelte Mad Frankie Fraser.

Deren Volksheldenstatus hat schon so manchem tatsächlichen Popstar zu geborgter Credibility verholfen, siehe die Kollaboration der zerfallenden Sex Pistols mit dem Zugräuber Ronnie Biggs 1978 und Roger Daltreys Filmrolle als geläuterter Räuber John McVicar zwei Jahre darauf. Adam Ant verkleidete sich als der im 18. Jahrhundert wütende, im 19. Jahrhundert als gesetzloser Gentleman romantisierte Raubmörder Dick Turpin; die Kemp-Brüder von Spandau Ballet spielten 1990 die Hauptrollen in einem Film über jene legendären Kray-Zwillinge, denen auch der von englischen Gangsterfiguren besessene Morrissey mit The Last of the Famous International Playboys einen Song widmete. Die Krays operierten in den Sechzigern an der Schnittstelle von Londoner Unterwelt, dekadenter Aristokratie und Schaugeschäft. Der von Filmregisseur Ken Loach als Schauspieler entdeckte John Bindon verband seine Gangsterkarriere gar mit einer Parallelexistenz als Jetsetter in Gesellschaft der hedonistisch veranlagten Princess Margaret. Die Figur des Gangsters als Repräsentant eines vermeintlichen Ehrenkodex abseits der Korruptheit des Establishments passte perfekt in die schnittige Welt der britischen Sixties, wie der von Michael Caine verkörperte einsame Unterwelträcher in Get Carter den paranoiden Geist der Siebziger traf.

Raoul Moats Erscheinung indes spielte auf dessen US-Äquivalent derselben Ära an: Die während seiner Flucht zirkulierenden Bilder einer Überwachungskamera zeigten einen Mann, dessen Haupthaar nach dem Vorbild des selbstgerechten Outlaw Travis Bickle in Taxi Driver an den Seiten rasiert war.

Moat inszenierte seine Rolle als knallharter Krieger im eigenen Auftrag vor dem Hintergrund der beinah täglichen Berichte vom patriotischen Heldentod der aus seinem eigenen sozialen Umfeld rekrutierten Berufssoldaten in Afghanistan.

Nicht zuletzt findet die blinde Wut des Raoul Moat ihren Widerhall in einem Großbritannien, das in eine neue Ära sozialer Härte eintritt. Während Premier Cameron massive Steuererhöhungen bei radikalen Kürzungen der Staatsausgaben durchpeitscht, predigt er die weltfremde Fantasie einer auf Wohltätigkeit aufgebauten Big Society. Kein Wunder, dass Cameron den morbiden Kult um Raoul Moat nicht verstehen will.