Einblick in Akten zum Wendejahr 1989

Einblick in Akten zum Wendejahr 1989: Außenministerum gab gesperrte Berichte frei

Außenministerum gab gesperrte Berichte frei

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Von Otmar Lahodynsky

Um ein Haar wäre die symbolträchtige Aktion abgesagt worden. Als Österreichs Außenminister Alois Mock mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn am 27. Juni 1989 den Eisernen Vorhang bei St. Margarethen durchschnitt, war von diesem fast nichts mehr vorhanden. Im Rahmen eines geheimen Militärmanövers hatte Ungarn schon im März mit der Beseitigung der einstigen Todesgrenze begonnen. Im Juni, als nur noch wenige hundert Meter des Zauns standen, hatte der Fotograf des Außenministeriums, Bernhard Holzner, die Idee, „dieses historische Ereignis durch einen symbolischen Akt festzuhalten“. Die Bilder von der Bresche im Grenzzaun gingen um die Welt und wurden vor allem in der DDR aufmerksam betrachtet. Zehntausende DDR-Bürger fuhren im Sommer auf Urlaub nach Ungarn und versuchten, von dort über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland zu reisen. Doch vorerst wurden sie von ungarischen Grenzbeamten wieder zurückgeschickt. Erst im September, als die Lage in den Camps für die zehntausenden wartenden DDR-Flüchtlinge immer prekärer wurde, erlaubte ihnen die ungarische Regierung die Ausreise. Als dann am 9. November in Berlin die Mauer fiel, brach in der Folge das kommunistische System in allen Staaten des Warschauer Pakts zusammen.

Zum 20. Jahrestag des Wendejahrs bereitet das Wiener Außenministerium eine Reihe von Veranstaltungen unter dem Motto „Europa 1989–2009. Geteilt/Geeint. Aufbruch in ein neues Europa“ vor: Symposien, Ausstellungen, ein Europakongress Ende Mai in der Wiener Hofburg. Der Beauftragte im Außenministerium, Kunstsektionsleiter Emil Brix, will „die historische Dimension“ der Ereignisse in Erinnerung rufen. „Vor allem Jugendliche sind sich der Tragweite des Jahres 1989 zu wenig bewusst, auch in den Nachbarstaaten, wie unsere Umfragen zeigen“, warnt Brix (siehe: www.1989-2009.at).

Das Außenministerium machte für das Wendejahr erstmals eine Ausnahme von der 40-jährigen Archivsperre und gewährte profil Einsicht in die diplomatischen Berichte zum Ende der DDR. Es sind Zeugnisse dafür, dass damals niemand mit dem raschen Ende der Teilung Europas gerechnet hatte.

Geld für Durchreise. Die österreichische Botschaft in Budapest informierte ab Juli 1989 regelmäßig über die steigende Zahl von ostdeutschen Bürgern in ungarischen Ferienlagern. Eine „Fax-Depesche“ warnte, dass neben 200.000 ostdeutschen Touristen „auch Sowjetflüchtlinge über Ungarn in den Westen reisen könnten“. Denn Anfang 1989 war auch die Grenze zwischen Ungarn und der damaligen Sowjetunion für den kleinen Grenzverkehr geöffnet worden. Der Berichterstatter verstieg sich zu eigenartigen Vermutungen: „Die BRD würde wahrscheinlich einen Verbleib junger, reformwilliger Menschen in der DDR und die dadurch mögliche Formierung von Oppositionsgruppen im Lande lieber sehen, als einem ständig anschwellenden Flüchtlingsstrom ausgesetzt zu sein.“ Tatsächlich sollten gerade die Flüchtlingsströme das Ende der Diktatur Erich Honeckers beschleunigen.

Noch nicht ganz geklärt sind die Vorgänge rund um das „Paneuropäische Picknick“ am 19. August in der Nähe von St. Margarethen, Ort des symbolischen Durchschneidens des Eisernen Vorhangs. Die österreichischen Sicherheitsbehörden erlaubten den „vorübergehenden Grenzübergang für zirka zwei Stunden“. Auch die Ungarn wussten Bescheid. Schließlich war der ungarische Reformkommunist Imre Pozsgay neben dem damaligen EU-Abgeordneten Otto Habsburg Veranstalter. Als dann über 500 ostdeutsche Urlauber durch das geöffnete Holztor nach Österreich rannten, hatten auch die BRD-Behörden längst gehandelt. Noch am selben Abend holten deutsche Reisebusse die Flüchtlinge ab. Die Fäden im Außenamt zog dafür der damalige Generalsekretär und spätere Bundespräsident Thomas Klestil. Die Botschaft in Ostberlin kabelte im Sommer 1989 nach Wien, dass der Leiter der Rechtssektion im DDR-Außenamt gerügt habe, „dass es Wien zulasse, dass die BRD zusätzliches Personal an die Botschaft in Wien entsandt habe und die Abfertigung der DDR-Flüchtlinge schon in Wien vornehme“.

Sorgen machten sich Wiener Diplomaten in Budapest über die massenhafte Ausstellung von „Sichtvermerken“ für DDR-Bürger, man schaffe pro Tag höchstens 300 Pässe. Man fand eine pragmatische Lösung: Grenzbeamte stempelten die Pässe bei der Einreise ab und hielten somit auch die Verträge mit der DDR über den Reiseverkehr ein. Autofahrer aus der DDR bekamen zusätzlich 700 Schilling für die Kosten der Durchfahrt ausgehändigt. Nicht alle zeigten sich so großzügig. Nach einem Abkommen zwischen Wien und Ostberlin sei die Einhebung von Straßenverkehrsabgaben vorgesehen, machte sich ein Beamter des Verkehrsministeriums wichtig und schlug vor, die Abgaben für die Durchfahrt von zehntausenden Trabi- und Wartburg-Fahrern gleich in der BRD einzuheben.

Hilfspaket. An ein Einlenken des DDR-Staatschefs Erich Honecker wollte niemand glauben. Honecker sei sich sicher, „dass die Mauer auch in 50 und in 100 Jahren noch bestehen werde“, meldete die Botschaft in Ostberlin nach Wien. Österreichs Botschafter in Bonn, Friedrich Bauer, wurde vom damaligen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher empfangen, der sich für die Unterstützung bei der Ausreise der DDR-Bürger aus Ungarn bedankte. Österreich müsse bald der EG beitreten, erklärte Genscher zu dem im Juli überreichten Beitrittsgesuch in Brüssel und kündigte an, seine Regierung werde an der Wiedervereinigung Deutschlands im „gesamteuropäischen Rahmen“ festhalten. Österreichs Diplomaten hielten dies damals für undenkbar. Die Botschaft in Bonn erklärte, das „Nebeneinander der beiden Staaten“ werde „von praktisch allen akzeptiert“. „Maximales Ziel“ sei lediglich, „die zwischen diesen beiden Staaten bestehenden Kontakte auf allen Ebenen zu ver­dichten“.

Der Botschafter in Ostberlin, Franz Wunderbaldinger, sah Honeckers Regime noch im September 2009 ungefährdet. Mit „plötzlichen Aufwallungen und Kursänderungen“ sei nicht zu rechnen. „Weil er im Großen und Ganzen funktioniert, wird der Staat von der Bevölkerung auch akzeptiert“, berichtete er bei der Botschafterkonferenz in Wien. Als Einziger wagte Gesandter Thomas Nowotny zwei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer eine Prognose: „Die Wiedervereinigung steht in Zukunft sehr wohl auf der politischen Tagesordnung der beiden deutschen Staaten“, schrieb er prophetisch und analysierte zur DDR, dass „es immer schwieriger wird, den Staat mit diktatorischen Mitteln zusammenzuhalten“.

Der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky glaubte selbst nach dem Fall der Berliner Mauer an einen Weiterbestand der DDR. Als erster westeuropäischer Regierungschef besuchte er den neuen DDR-Premier Hans Modrow. Laut Akten habe Vranitzky in Ostberlin weitere wirtschaftliche Kooperation angeboten, die durch Österreichs angestrebte EG-Mitgliedschaft „noch vertieft“ werden könnte.

Im Gepäck hatte Vranitzky auch einen von Finanzminister Ferdinand Lacina ausgedachten Hilfsfonds für kleinere und mittlere Betriebe in der DDR, der bei der Privatisierung durch österreichische Firmen zum Einsatz kommen könne. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl soll sich laut Diplomaten damals über Vranitzkys Hilfspaket sehr geärgert haben. Damit würden bloß die alten DDR-Strukturen am Leben gehalten, habe Kohl kritisiert.

Heute herrscht in Wien Ärger über das deutsche Außenamt. Die fertig organisierte Gedenkveranstaltung „Zug der Freiheit“, die im Mai an die Ausreise von DDR-Flüchtlingen per Bahn erinnern sollte, wurde von Berlin kurzfristig abgesagt. Begründung des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier: Die Aktion könnte an die Bahntransporte von Juden in NS-Vernichtungslager erinnern.