Leitartikel: Georg Hoffmann-Ostenhof

Eine demokratische Revolution

Eine demokratische Revolution

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Lange Zeit galten uns die USA nicht nur als eines der Mutterländer der Demokratie, sondern auch als die Avantgarde der Politikverdrossenheit – ein Land, in dem die Leute politisch apathisch sind und nur eine Minderheit zu den Urnen schreiten will. Und wir Europäer schienen in letzter Zeit – zunehmend demokratiemüde – dem Beispiel von jenseits des Atlantiks nachzufolgen. Und dann das: Am 4. November erlebten die USA eine demokratische Revolution. Wie seit hundert Jahren nicht mehr strömten die US-Bürger zu den Wahllokalen und ebneten so Barack Obama den Weg ins Weiße Haus. Ist uns Amerika wieder voraus? Beginnt mit der jüngsten amerikanischen Wahl eine neue weltweite Renaissance der Demokratie? Blicken wir zurück: Seit 1945 sah die Welt einen veritablen Siegeszug der Demokratie. Zunächst wurde Europa von den meisten faschistischen Rechtsdiktaturen befreit. Dann erlangten die Kolonien ihre Unabhängigkeit. Die letzten rechten Autokratien Westeuropas fielen. Dann in den achtziger Jahren stürzte eine lateinamerikanische Militärjunta nach der anderen, und im Fernen Osten begann die Idee der Volksherrschaft Wurzeln zu schlagen. Schließlich ging 1989 der kommunistische Totalitarismus in Europa in einem großen Eklat unter.

Mit Beginn des neuen Jahrhunderts schien sich aber das Blatt zu wenden. Die Demokratie geriet in die Defensive. In den USA selbst wurden unter dem Vorwand, gegen den Terrorismus kämpfen zu müssen, sukzessive Menschenrechte und Bürgerfreiheiten eingeschränkt, in Europa machte sich ein ausgeprägter Ekel vor der Politik und ein tiefes Misstrauen gegen die Politiker breit. Man hält sie zunehmend für ein Gaunerpack. Die Wahlbeteiligung sinkt fast überall. In den Ländern der so genannten Dritten Welt wird man zynisch. Immer mehr hatte man – nicht ganz zu Unrecht – den Eindruck, der amerikanische Lobgesang auf „freedom and democracy“ sei nur der verlogene Schlachtruf für imperialistische Eroberungen. Was versteht Washington unter Demokratie, fragt man etwa in Nahost, wenn die bösesten Diktaturen der Region gehätschelt, wirklich freie Wahlen wie die der Palästinenser aber nicht anerkannt werden, weil den Herren in Washington die Ergebnisse nicht passen. Schließlich verwirrte noch die Tatsache, dass just unfreie Länder wie China, die Golfstaaten, Singapur oder autoritär werdende Halbdemokratien wie Russland wirtschaftlich besonders florieren.

In diesem Herbst erlebten wir nun aber den so überraschenden demokratischen Aufbruch in Amerika. Wie beeindruckend waren doch die Bilder von den langen Warteschlangen, von den Menschen, die geduldig warteten, um stolz von ihrem demokratischen Recht der Stimmenabgabe Gebrauch zu machen. Faszinierend auch die Begeisterung, mit der sich die US-Bürger schon während der Zeit der Primaries – vornehmlich für Obama und Hillary – engagierten.

Vier Millionen Amerikaner sollen aktiv an diesem lang andauernden Wahlkampf mitgewirkt haben. Rechnet man das auf Österreich um, dann hätten bei den vergangenen Nationalratswahlen an die hunderttausend Landsleute für Faymann, Molterer und die anderen Telefonanrufe und Hausbesuche bei Wählern gemacht, Briefe und E-Mails geschrieben und Veranstaltungen organisiert.

Vor allem die amerikanische Jugend, der man Jahr für Jahr ihre politische Abstinenz vorwarf, ist voll mobilisiert. Sieht man sich die Zahlen der Wahlbeteiligung an, dann wird klar: Die Jungen sind sogar um einiges engagierter und politisch motivierter als die berühmte Sechziger-Jahre-Generation, die mit John F. Kennedy Amerika liberaler gemacht hat, die Bürgerrechte für die Afroamerikaner erkämpfte, neue Formen des Zusammenlebens entdeckte und schließlich für die Beendigung des Vietnamkriegs sorgte.

Und siehe da: Die politische Katastrophe, in die Bush das Land manövriert hat, ist so tief, die wirtschaftliche Krise, vor der die amerikanische Wirtschaft steht, so bedrohlich, dass sich in dieser großen Bewegung für Obama auch Visio­nen und Utopien einer besseren Welt entfalten konnten.
Viele argumentieren, es sei ja kein Wunder, dass inmitten des Finanzkrachs und mit der Perspektive einer veritablen Depression der Demokrat gewinnt. Aber ist das wirklich so selbstverständlich? Die Leute hätten sich doch in der Situation der Not woandershin orientieren können. Treibt nicht meistens die Existenzangst Leute nach rechts, hin zu Ressentiment und Rassismus? Aber nein: Die Amerikaner gaben einem durch und durch liberalen Afroamerikaner ihre Stimmen. Und es waren nicht die mächtigen Lobbys, die dessen Wahlkampf finanzierten, sondern die vielen Millionen Anhänger, die für ihn je ein paar Dollar spendeten. Chapeau! Und was lehrt uns all das? Dass in ruhigen Zeiten die Demokratie kriseln mag, wenn es aber darauf ankommt, sie wieder wie der Phönix aus der Asche steigen kann. Dass die Klage über die Politikverdrossenheit sinnlos ist. Und die Frage der Pariser „Le Monde“: „Wo ist unser Obama?“ überall gestellt werden sollte. Auf jeden Fall muss es wieder einmal heißen: Von Amerika lernen!