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Einkaufsquelle: Der Wiener Victor Gruen veränderte mit der Shopping Wall die Welt

Der Wiener Victor Gruen veränderte die Welt

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Ein österreichischer Prozess: Ein kleiner Mann mit großer Frisur, großen Augenbrauen und noch größerem Charisma macht einen Wiener Gerichtssaal zur Kabarettbühne, scherzt, schwadroniert, rudert mit den Armen und erweckt den Anschein, als wäre es keine Farce, die da gegeben wird, keine maßlose Unverschämtheit: Im Jahr 1967 stand Victor Gruen in Wien vor Gericht. Die Architektenkammer hatte ihn ­angezeigt, weil er ohne österreichisches ­Diplom und somit zu Unrecht die Berufsbezeichnung „Architekt“ führe. Was die Kämmerer durchaus wissen konnten, ja mit Sicherheit wussten: Victor Gruen war der bedeutendste Architekt seiner Zeit. Dass er kein österreichisches Diplom besaß, lag ­daran, dass er von den Nationalsozialisten aus seiner Heimatstadt vertrieben wurde. 1938 gab es für Juden in Wien keine Diplome mehr.
Man fand eine österreichische Lösung: Gruen, der Architekt, wurde dazu verurteilt, sich ab sofort nur mehr als „Architect“ zu bezeichnen. Er nahm auch diesen Affront mit Humor: „Mal sehen, ob die Kellner im Landtmann ab jetzt Herr Architect zu mir sagen.“
Victor Gruen, eigentlich: Viktor David Grünbaum, geboren am 18. Juli 1903 in Wien, hat das 20. Jahrhundert geprägt. Er hat dem American Way of Life, wie wir ihn kennen, eine Form verliehen. Hat die Art verändert, wie in Städten gelebt wird, wie Städte aussehen. Hat der Konsumkultur eine Bühne gegeben und sie damit erst in ihre zeitgenössische Form gegossen: Victor Gruen hat die Shopping Mall erfunden. Das US-Magazin „The New Yorker“ nannte ihn den „einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts“. In seiner Heimat ist er so gut wie unbekannt. Immerhin: Eine Gasse am südlichen Stadtrand von Wien trägt seinen Namen.
Anlässlich seines 30. Todestags strahlt
der ORF am kommenden Sonntag die Dokumentation „Der Gruen Effekt“ von Anette Baldauf und Katharina Weingartner aus. Der Film zeigt eine schillernde Figur: einen glühenden Sozialisten, Broadway-Darsteller, Architekten, Autohasser, Schriftsteller, Visionär und Öko-Aktivisten. Die Welt war Victor Gruen eine Bühne, in mehrfacher Hinsicht. Als Sohn des Anwalts Adolf Grünbaum wuchs er in großbürgerlichen Wiener Verhältnissen auf und kam früh in Kontakt mit dem Theater. Neben seinem Architekturstudium engagierte er sich ab 1927 als Conférencier am „Politischen Kabarett“ der „Sozialistischen Veranstaltungsgruppe“, der auch der Dramatiker Jura Soyfer und der spätere Wiener Bürgermeister Felix Slavik angehörten. Daneben stattete Gruen, der nach dem frühen Tod seines Vaters für die Familie aufkommen musste, innerstädtische Geschäftslokale aus. Seine Leidenschaft für das Theater prägte auch seine Architektur, Einkaufen empfand er als ein Schauspiel im halböffentlichen Raum.
Dann kamen die Nazis. Gruens Flucht verlief filmreif: Ein Kompagnon besorgte sich eine SA-Uniform aus dem Kabarettfundus und begleitete Gruen und dessen Frau Lizzie zum Flughafen. Nach einer abenteuerlichen Odyssee kam das Paar im Sommer 1938 in New York an – „mit einem Architektenabschluss, acht Dollar und null Englisch“, wie Gruen später schrieb. Trotzdem fasste er schnell Fuß, auch dank einer gewissen Chuzpe: Gruen fuhr nach Princeton und bat einen gewissen Albert Einstein um ein Empfehlungsschreiben, das ihm 1939 zu ­einer elfwöchigen Broadway-Show mit der Refugee Artists Group verhalf. Zur gleichen Zeit begann er, Geschäftslokale an der Fifth Avenue auszustatten. Sein eigentliches Lebensprojekt entwickelte er vier Jahre später: Auf Einladung der Zeitschrift „Architectural Forum“ entwarf er gemeinsam mit seiner zweiten Frau Elsie Krummeck den Plan für ein neuartiges Einkaufszentrum am Stadtrand.

Suburbia
Die US-Städte erlebten zu jener Zeit einen radikalen Wandel, der sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiter verschärfte: Rund um die Zentren entstanden heillos zersiedelte Vor- und Schlafstädte ohne Anfang, Mitte und Ende, vor allem aber ohne sozialen Zusammenhalt. Das Einkaufszentrum in Suburbia sollte, quasi als Innenstadt am Stadtrand, diesen Mangel beheben. Zur gleichen Zeit avancierte der private Konsum unter dem Druck der Kalten-Kriegs-Paranoia zur staatsbürgerlichen Pflicht, als Gegenmodell zum kommunistischen Schreckgespenst. Shopping wurde zum Inbegriff der amerikanischen Lebensart und der Sozialist Gruen zu seinem ­Visionär. Seine Entwürfe für das Detroiter Northland Center (1954) und das South­dale Center bei Minneapolis (1956) dienen bis heute als Blaupause für Shopping Malls in aller Welt.
Bis Mitte der siebziger Jahre plante sein Unternehmen Gruen Associates in den USA rund 50 Shopping Center, Gruen wurde reich und berühmt. Zufrieden war er nicht: Sein Ideal einer sozialen Gemeinschaft unter dem Dach der Mall hielt dem Druck der Renditeerwartungen nicht stand, die von ihm vorgesehenen öffentlichen Einrichtungen (Bibliotheken, Kindergärten, Vortragssäle) wurden der Gewinnmaximierung geopfert, dem totalen Shopping. Allerdings nur am Stadtrand: Die Innenstädte verödeten zunehmend. Bei einer Rede in London anno 1978 sprach Gruen das Dilemma seines Lebens an: „Ich werde immer wieder der Vater der Shopping Mall genannt. Ich möchte die Gelegenheit nützen, diese Vaterschaft zurückzuweisen. Ich weigere mich, Alimente für diese Bastardprojekte zu zahlen. Sie haben unsere Städte zerstört.“
Seine Heimatstadt blieb von dieser Entwicklung – vorerst – verschont. Ende der sechziger Jahre war Gruen nach Wien zurückgekehrt und hatte eine Wohnung am Schwarzenbergplatz bezogen. Dort fanden intellektuelle Salonabende statt, an denen alte Genossen aus Gruens Kabarettzeit (etwa Felix Slavik oder Hertha Firnberg) teilnahmen, aber auch Jungpolitiker wie Heinz Fischer und die Speerspitze der späteren Grünbewegung, darunter Bernd Lötsch und Freda Meissner-Blau. Gruen engagierte sich auch in der Wiener Stadtentwicklung. Er zog die Lehren aus seinen amerikanischen Erfahrungen, lehnte das Angebot ab, die Shopping City Süd zu entwerfen, und plante stattdessen eine autofreie Innenstadt. ­Realisiert wurde, immerhin, die Fußgängerzone Kärntner Straße/Graben/Kohlmarkt, die Gruen durchaus idealistisch als kommunale Flaniermeile konzipierte. Mit anzusehen, wie auch diese Vision dem Kommerz zum Opfer fiel, blieb ihm erspart. Am 14. Februar 1980 starb Victor Gruen, Architekt, in Wien.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.