Elfriede Hammerl

Elfriede Hammerl Küsse & Sozialfälle

Küsse & Sozialfälle

Drucken

Schriftgröße

1. An einer oberösterreichischen Hauptschule haben die ­älteren Schülerinnen einander mit langanhaltenden Küssen auf den Mund begrüßt und verabschiedet. Nun hat der ­Direktor auf Beschluss des Schulforums diese Zärtlichkeiten in der Schule verboten. Sogleich ging ein Aufschrei durchs Land. Lächerlich, übertrieben, spießig, mittelalterlich! Schü­lerInnenverbände, PädagogInnen und Politiker hissten eilig das Fähnlein der Toleranz und gaben kritische Kommentare von sich: Verbote kontraproduktiv, verhindern soziales Lernen – seien wir doch froh, wenn in taffen Zeiten wie ­diesen Jugendliche so lieb miteinander … Na ja.

In der Tat klangen die Begründungen derer, die das ­Verbot befürwortet haben, reichlich verklemmt: Die Burschen könnten sich ein Beispiel nehmen und die Mädels ebenfalls küssen wollen. Und: Die Kleineren könnten ­verdorben werden. Der alte Hut, die Beschwörung der kindlichen Unschuld. Und dennoch. Küsse auf den Mund sind schon tatsächlich was einigermaßen Intimes. Haben die einander wirklich alle so lieb, oder geht’s um was anderes? Aus Elternkreisen verlautete, einige Mädchen hätten sich durch den Zwang zum Küssen belästigt gefühlt. Und eine Schülerin beklagte in einem TV-Interview sinngemäß, die Küsserinnen hätten sich für etwas Besseres gehalten.

Also nix pubertäre Erotik. Sondern vor allem ein Gruppenritual. Auch das ein alter Hut: die Verwechslung von Machtausübung mit Zuneigung und/oder Begehren. Soll heißen, zwar nicht unter dem Aspekt der sexuellen Gefährdung gehört das Küssen diskutiert, wohl aber unter dem Aspekt der ritualisierten Gewalt. Man kennt die Machtspielchen an Schulen und unter Jugendlichen: Nicht feig und nicht fad sein dürfen. Dazugehören oder Außenseiter sein. Unterwerfungsgesten verlangen oder Unterwerfungsgesten erbringen. Das sind Status- und Existenzfragen. Freiwilliges Küssen ist schön, keine Frage. Aber küssen zu müssen beziehungsweise Küsse erdulden zu müssen ­gegen die eigenen Bedürfnisse ist durchaus eine Form der subtilen Gewalterfahrung. Dass an Schulen – die Gunskirchner Hauptschule, an der das Kussverbot erlassen wurde, ist ja keineswegs die einzige, an der Mädchen demonstrativ knutschen – das Küssen als bewusste Grenzüberschreitung praktiziert wird, ist keine unrealistische Interpretation. Missachtet werden dabei nicht die Grenzen eines prüden ­guten Geschmacks, sondern jene zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. (Gleichzeitig dient die Küsserei freilich auch der sozialen Ausgrenzung, denn keinesfalls geküsst zu ­werden, wenn Küssen Dabeisein bedeutet, ist ebenfalls kränkend und diskriminierend.)
Natürlich kann man die Jugendlichen bei diesem Prozess des sozialen Lernens sich selber überlassen. Oder mit ihnen diskutieren. Beides wird vermutlich die herrschenden Machtverhältnisse nicht wesentlich ändern. Sodass sich die Frage stellt, ob es nicht ein bisserl feig ist, wenn sich Erziehungsverantwortliche bei den Tonangebenden durch fesche Lässigkeit einschleimen, statt die undankbare Rolle der Spielverderber zu übernehmen. Das Kussverbot verdirbt die bisherigen (Macht-)Spiele. Vielleicht gar nicht so schlecht. Jetzt können alle gemeinsam böse sein auf den Direktor.

2.Frau Ruth E. hat vor zwanzig Jahren einen wesentlich älteren, gut verdienenden Bankmanager geheiratet und an ­seiner Seite ein Luxusleben geführt. Nun sitzt der Bank­manager in Untersuchungshaft, seine Gelder sind weit­gehend eingefroren, und er wurde, allerdings noch nicht rechtskräftig, wegen Untreue und Bilanzfälschung verurteilt. Seine Ehefrau will das nicht einfach so hinnehmen und veranstaltet immer wieder Pressekonferenzen, in denen sie ­ihren Mann als politisches Opfer beklagt.

Das ist ihr gutes Recht. Ehefrauen dürfen von ihren Männern das Beste annehmen und deren Bestes durchsetzen wollen. Was allerdings nervt, ist die Beharrlichkeit, mit der sich Ruth E. als Sozialfall verkauft, und die Willfährigkeit, mit der die Medien sie als Sozialfall darstellen.
Auf bloß lächerliche 1400 Euro aus Rente ihres Mannes habe sie Zugriff, konnte man lesen. Womöglich müsse sie ihr Penthouse aufgeben. Sei seit zwanzig Jahren nur Ehefrau und daher für jegliches Erwerbsleben ungeeignet. Wäre aufgeschmissen ohne die Unterstützung guter Freunde, die zum Glück alle millionenschwer sind. Da soll die Normalverbraucherin die große Mitleidskrise kriegen?

Ja, stimmt schon, mit fünfzig und nach zwanzig Jahren Erwerbspause bekommt man schwer eine Anstellung, schon gar eine gut bezahlte, aber ehrlich, das ist das Risiko, wenn man sich in Abhängigkeit begibt. Und während andere ­arbeitslose Frauen (zum Beispiel zugewanderte Akademikerinnen oder geschiedene Mütter) jeden noch so miesen Job annehmen müssen, um über die Runden zu kommen, hat Frau E. immerhin Zugriff auf eine Rente. 1400 Euro ­monatlich, vierzehnmal im Jahr, das ist eine Pension, von der manche nach einem langen Arbeitsleben nur träumen können – so betrüblich es ist, wenn diese bescheidene ­Summe einen unerreichbaren Traum darstellt. Warum also Mitleidsappelle, Frau E. betreffend? Vielleicht deswegen, weil das Rollenmodell, das sie zu verkörpern scheint, immer noch höchste gesellschaftliche Akzeptanz genießt. Junge schöne Frau investiert das Kapital ihrer Vorzüge in aussichtsreiche Heirat – so was muss sich doch am Ende einfach lohnen!

[email protected]