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Fernsehen. "The Wire"-Schöpfer David Simon erklärt das TV-Wunder

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Ein Donnerstagabend im September, das Wetter tendiert Richtung November, man könnte also eigentlich mal wieder fernsehen. Vielleicht "Die Rosenheim-Cops“, ORF 2, 20.15 Uhr? Oder doch lieber "Alarm für Cobra 11“, RTL? "Ein Chef zum Verlieben“, ZDF? Nun ja, nein. Man könnte nämlich auch fernsehen: die neue Staffel von "Breaking Bad“ auf DVD. Oder die letzten Folgen "True Blood“ per Online-Stream. Oder vielleicht noch einmal "The Wire“, da müssten noch ein paar Episoden auf der Festplatte liegen.

Früher war Fernsehen so einfach: Die liebe Familie starrte leutselig auf den Guckkasten, Thomas Gottschalk zerquasselte die Samstagabende von Millionen, Bildungsbürger machten ihrer Empörung über derlei Volksverdummung Luft, und verantwortungsbewusste Eltern zogen ihre Kinder natürlich als TV-Asketen groß. Denn wer fernsah, sah bloß in die Röhre, wurde dumm, dick und irgendwann wahrscheinlich auch blind.

Aber Fernsehen ist nicht mehr, was es einmal war. Fernsehen ist besser und manchmal richtig gut, man findet sogar jede Menge Gründe, von einem Goldenen Zeitalter zu sprechen. Nur findet man sie kaum je in der Programmzeitschrift, sondern im DVD-Regal oder auf der Filesharing-Plattform des Vertrauens. Dort zeigt Fernsehen nämlich, was es auch sein kann: das neue Hollywood, vielleicht sogar der neue Gesellschaftsroman - komplex, eindringlich, mahnend, wirklichkeitsnah, intelligent, hoch komisch und hoch kulturell. Schön, aber: Wie lange kann das noch gut gehen?

Alles begann vor zwölf Jahren mit einem untersetzten, schnaufenden Familienvater in der Midlife-Crisis: Tony Soprano, Mafiaboss aus New Jersey und Held der TV-Serie "The Sopranos“. Tony hatte den Entscheidungsträgern beim US-Kabelkanal HBO (Home Box Office) einiges Kopfzerbrechen bereitet. Ein gutes Jahr lang hatten sie den Erfinder der Serie, den altgedienten TV-Autor David Chase, hingehalten und darüber gegrübelt, ob man dem Publikum nun wirklich einen depressiven Schwerverbrecher als Titelhelden zumuten könne, der auch gleich in einer der ersten Folgen einen äußerst sinnlosen und ziemlich brutalen Mord begeht. Man konnte. Die "Sopranos“ wurden im Verlauf von sechs Staffeln zum Publikumshit, 21-fachen Emmy-Gewinner und, vor allem, zu einem kulturellen Wendepunkt: David Simon erbrachte den Beweis dafür, dass das Publikum nicht nur schrille Gewalt und eine Menge schmutziger Dialoge verkraften kann, sondern auch unsympathische Helden, kompliziert verwobene Handlungsstränge, subtile Andeutungen und unbefriedigende Enden. Mit anderen Worten: Fernsehen muss auch im Unterhaltungsgenre kein gehirnloses Medium sein.

Dass es sich nicht um einen historischen Ausrutscher handelte, zeigten im Anschluss an "The Sopranos“ HBO-Serien wie "Six Feet Under“, "The Wire“, "Deadwood“, "Entourage“ oder "True Blood“. Die Konkurrenz zog mit Serien wie "Mad Men“ (AMC), "The West Wing“ (NBC) oder "Lost“ (ABC) nach. Ganz zu Recht erklärte der Londoner "Sunday Telegraph“ den Vorreiter HBO zum "wichtigsten popkulturellen Phänomen der jüngeren Geschichte“, und "Vanity Fair“ plauderte ein offenes Branchengeheimnis aus: "Wer in Hollywood heute ein komplexes, anspruchsvolles Drehbuch in der Schublade hat, versucht sein Glück nicht mehr am Box Office, sondern bei Home Box Office.“

Zur diesjährigen Emmy-Verleihung (die am Sonntag nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe stattfand) trat HBO mit 104 Nominierungen an - noch drei mehr als im Vorjahr, in dem HBO bereits zum zehnten Mal in Folge (und jeweils mit beträchtlichem Abstand) der meistnominierte Sender war. Michael Lombardo, der Programmdirektor von HBO, erklärte sein Erfolgsgeheimnis mit zwei simplen Vorgaben: "Arbeite mit den Besten.“ (In seinem Fall sind das derzeit unter anderem Martin Scorsese, Dustin Hoffman, Nick Nolte oder Kathryn Bigelow.) Und: "Schau immer zuerst auf das Drehbuch. Wir haben einen uneingeschränkten Respekt vor den Autoren und dem geschriebenen Wort.“ Das klingt ganz vernünftig, ist aber alles andere als branchenüblich. Im Regelfall dienen Originaldrehbücher für Fernsehserien höchstens als eine Art Inspirationsquelle, werden zigfach beeinsprucht, überarbeitet, in Zielgruppentests erprobt und wieder überarbeitet. Bei HBO gibt es keine Zielgruppentests. Lombardo: "Wir entwickeln nicht per Konsens oder Komitee.“

Chris Albrecht, der spätere CEO und damalige Programmentwicklungschef von HBO, gab schon 1997 die Devise aus: "Wir sind das, was man als TV-Mäzene bezeichnen könnte. Über Jahrhunderte hinweg wurden so die größten Kunstwerke geschaffen. Du gibst den Leuten Geld, und sie malen. Du quälst sie nicht mit Einzelheiten. Nicht, wenn du etwas Brillantes willst.“ HBO machte somit genau das, was sich Hollywood nach den (ökonomisch) katastrophalen Exzessen der siebziger Jahre (siehe "Apocalypse Now“) abgewöhnt hatte: die besten Leute ihr Bestes geben zu lassen. David Simon, der Erfinder, Autor und Produzent der HBO-Serie "The Wire“, erzählt von den "Bedingungen, unter denen ich arbeite“ (siehe Interview Seite 77), sie klingen wie der feuchte Traum eines jeden Fernsehmachers: "Ich hatte vor vier Jahren mal ein Gespräch mit Michael Lombardo. Er gratulierte mir zu ‚The Wire‘ und meinte, er habe keinen Zweifel, dass mein nächstes Projekt ein großer Hit sein werde. Es war als Kompliment gemeint. Ich sagte zu ihm: ‚Mike, ich verspreche dir, dass ich keinen Hit schreiben kann. Nicht, dass ich mich dagegen wehren würde. Aber es wird nicht passieren.‘ Er lachte und meinte: ‚Wir verlängern den Vertrag trotzdem.‘“

So etwas muss man sich erst einmal leisten können. Zumal gerade jene Serien, die momentan für ihre künstlerische Avanciertheit gefeiert werden, beim eigentlichen TV-Publikum nur mäßige Aufmerksamkeit erreichen. So kann rechtschaffenerweise auch dem ORF schwer vorgeworfen werden, dass er Pretiosen wie "Six Feet Under“, wenn überhaupt, im Spätabend versendet. "The Wire“ hatte bei seiner Erstausstrahlung in den USA im Durchschnitt nur 1,6 Millionen Zuseher, und selbst der derzeit erfolgreichste Vertreter der neuen ambitionierten Serienkultur, "Mad Men“, erreicht nur unwesentlich mehr - und damit nur einen Bruchteil der Seherschaft von Konfektionsware à la "CSI“. Als Pay-TV-Sender kann HBO über solche Zahlen, die im werbefinanzierten Fernsehen zweifellos für verlängerte Krisensitzungen sorgen würden, relativ gelassen hinwegsehen. HBO wird als Komplettpaket abonniert, hat es also nicht nötig, dass alle seine Kunden alles sehen. Wenn jemand HBO auch nur wegen drei von 15 Serien abonniert, lukriert der Sender trotzdem die gesamte Gebühr. Deshalb setzt der Sender auch nur in Teilen seines Programms - etwa mit seinen Sportübertragungen - auf das ganz große Massenpublikum, und deshalb bleiben Lücken für ein avancierteres Programm. Außerdem kann in einem so großen TV-Markt wie den USA auch in den Nischen viel Geld verdient werden. HBO machte im Vorjahr einen Umsatz von vier Milliarden und einen Gewinn von mehr als einer Milliarde US-Dollar.

Wie kommt es dann aber, dass Serien, die bei ihrer Erstausstrahlung nur ein überschaubares Publikum erreichen, eine derartige Strahlkraft entwickeln können, weltweit gefeiert und immer wieder als leuchtende Beispiele einer neuen Fernsehkultur zitiert werden? Die Gründe dafür scheinen nur auf den ersten Blick paradox: Das Goldene Zeitalter des Fernsehens ist zugleich auch das Zeitalter, in dem das Fernsehen sich selbst auflöst. Denn während die Ambition der Produzenten immer größer, immer umfassender wird, zerstreut sich die Aufmerksamkeit der Konsumenten immer weiter. Sie teilt sich auf zwischen TV-Ausstrahlung, On-Demand-Angebot, Online-Stream, Digitalrekorderaufzeichnung und DVD-Box. Fernsehen fesselt - in gewissen Bereichen - intensiver als je zuvor, aber eben auch auf eine extensivere Art, als man das bisher kannte. Der Programmzeitschriften-Stundenplan, das, was in der Branche "lineares Fernsehen“ heißt, erscheint zunehmend uninteressant - mit ihm aber auch die Gleichzeitigkeit des TV-Erlebens, die doch so entscheidend schien für dieses Medium. Fernsehereignisse sind nur dann Fernsehereignisse, wenn jeder sie sieht und am nächsten Tag in der Arbeit oder am Schulhof darüber spricht. Nun, da jeder irgendwann irgendwas sehen kann, muss diese gemeinschaftsstiftende Funktion des Fernsehens anderswoher kommen. Zum Beispiel aus der Bindung an eine ganz bestimmte Serie, von der jeder spricht, obwohl er sie vielleicht noch gar nicht gesehen hat. Die Serie an sich wird zum Event, nicht ihre Ausstrahlung.

Im Zuge dieser Entwicklung beginnt aber auch das Ökosystem, in dem die neue Serienkultur vor zwölf Jahren aufblühte, schon wieder auszudörren. Noch ist keineswegs ausgemacht, ob das Fernsehen nicht das Schicksal der Musikindustrie und der Zeitungsbranche erleiden und in der digitalen Welt sein Geschäftsmodell ganz neu erfinden wird müssen. Auch in Österreich ist schon jeder dritte neue Fernseher mit einem Online-Anschluss versehen, im Vorjahr wurden in Österreich 175.000 internetfähige TV-Geräte verkauft, heuer dürfte sich der Absatz noch weiter verdoppeln. Die Rundfunk und Telekom Regulierungsbehörde RTR rechnet damit, dass in fünf Jahren 80 Prozent aller stationären TV-Geräte internetfähig sein werden - und damit auch Zugang zu YouTube, iTunes-Videos oder Filesharing-Seiten bieten. Laut dem Internet-Monitor des Meinungsforschungsinstituts Spectra vom August 2011 sehen 18 Prozent der Österreicher im Internet "hauptsächlich“ Videos (wobei nicht abgefragt wurde, wie viel davon klassische TV-Inhalte betrifft). Die meistgenutzte Videoplattform ist laut einer GfK-Umfrage YouTube, mit deutlichem Vorsprung vor Facebook und der ORF-TVthek. Letztere verzeichnet derzeit pro Monat etwa 8,3 Millionen Videoabrufe von rund 500.000 Usern. Thomas Prantner, ORF-Direktor für Online und neue Medien, denkt bereits darüber nach, das komplette ORF-Programm auch online zu streamen. Er sieht keine Gefahr darin, dass sich Online- und gewöhnlicher Fernsehkonsum gegenseitig kannibalisieren könnten: "Wir müssen mit unseren Produkten zum Kunden kommen, der mobiler geworden ist und ein neues Mediennutzungsverhalten an den Tag legt. Neben einer stabilen Technik spielt dabei die Qualität des Contents die Hauptrolle. Wenn der Content den Leuten nicht gefällt, werden sie ihn auch über die tollsten, modernsten Medienplattformen nicht ansehen. Das heißt: Das klassische Fernsehen ist nicht tot, sondern wird im Gegenteil weiterhin dringend benötigt. Nur die Ausspielwege werden vielfältiger.“

Dass der Inhalt zählt, wussten freilich auch schon Musiklabels und Zeitungsverlage. Genutzt hat es ihnen kaum. Denn gute Inhalte kommen nicht kostenlos, Internet-Downloads aber schon. "The Wire“-Macher David Simon, der derzeit an der dritten Staffel seiner neuesten, ebenfalls umjubelten Serie "Treme“ arbeitet, ist diese Gefahr wohl bewusst: "Die Propheten der digitalen Kultur beten dir gern vor, dass alle Informationen, alle Inhalte frei und kostenlos sein müssen. Und wenn du ihnen widersprichst, bist du der Dinosaurier, der die neue Technologie nicht kapiert. Ich sage ihnen dann gern:, Ihr versteht nicht, was Fernsehen ist und was es kostet.‘ Es geht hier nicht um eine neue Art der Zustellung, es geht um den Inhalt der Lieferung. Wenn eine Branche diesen Unterschied nicht kapiert, sitzt sie in der Scheiße.“ Noch besteht kein unmittelbarer Anlass, am Inhalt der Lieferung zu zweifeln, insbesondere wenn er von David Simon stammt. Aber wie jeder Vorabendserienfan weiß, folgen auf die guten Zeiten meistens auch die schlechten Zeiten. Zumindest war das im alten Fernsehen so.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.