Endstation Sehnsucht

Arbeitsmarkt. Die Zeitarbeitsbranche boomt wie keine andere – auf Kosten ihrer Mitarbeiter

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Der Ausschreibungsteil für Wien umfasst 19.000 Arbeitsstunden pro Jahr, die Lose Süd und Ost rund 19.500, die Auftragsteile West und Mitte gemeinsam 12.500 Stunden. In Summe sucht das Finanzministerium unter Vizekanzler Josef Pröll für seine Dienststellen laut Ausschreibung vom Jänner 2010 also Personal für 51.000 Arbeitsstunden, um in den kommenden zwei Jahren diverse „Daten zu erfassen“. Die Anforderungen: Die künftigen Mitarbeiter sollten des Lesens und Schreibens mächtig, der Bedienung der Computerprogramme Word und Excel halbwegs fähig und zudem möglichst kostengünstig sein: „Die Entscheidung … wird nach dem Billigstbieterprinzip getroffen, somit erfolgt nur eine Preisbewertung.“ Unter der Ägide des obersten Säckelwarts wird eisern gespart – auf Kosten seiner temporären Mit­arbeiter.

Geiz ist eben geil.
Und Zeitarbeit unschlagbar billig. Da kann nicht einmal die Republik widerstehen. Der Bund befindet sich damit in großer Gesellschaft.

Das Geschäft mit der Zeitarbeit boomt. Derzeit stehen rund 80.000 Personen in den Diensten so genannter Arbeitskräfteüberlasser. In Österreich gibt es mittlerweile mehr Leiharbeiter als freie Dienstnehmer und neue Selbstständige zusammen. Und ihre Zahl wird weiter steigen. Was einst als Notlösung gedacht war, um Produktionsspitzen zu bewältigen, wandelte sich in den vergangenen Jahren zur etablierten Erwerbsform – für Industriehackler ebenso wie für Mediziner. Vielen bietet Zeitarbeit die einzige Möglichkeit auf einen Job; entsprechend viel lassen sie sich gefallen, von Umgehungen des Kollektivvertrags bis zu fristwidrigen Kündigungen.

Das sei bequem für die Unternehmen, aber verheerend für das Leasingpersonal, moniert die Produktionsgewerkschaft Proge: Es brauche endlich strengere Regeln, sonst werde „Leiharbeit die Sklaverei des 21. Jahrhunderts“. Die zuständigen Regierungsmitglieder, SPÖ-Sozialminister Rudolf Hundstorfer und ÖVP-Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner, orten jedoch keinen akuten Handlungsbedarf. Dabei wäre es durchaus im Interesse aller, Zeitarbeit aus ihrem Schmuddeleck zu zerren.

Besonders freilich im Sinne der Zeitarbeitnehmer selbst. Derzeit überschlagen sich die Jubelmeldungen: Branchenriese Trenkwalder will heuer um 3000 Leute aufstocken, Mitbewerber Manpower frohlockte vorvergangene Woche über ein Beschäftigungsplus von mehr als 80 Prozent im Vergleich zum Sommer 2009: 1600 Mitarbeiter mehr; der Umsatz konnte auf 57 Millionen Euro gesteigert werden. Das sind satte 22 Prozent über dem Vorkrisen­niveau.

Erfolgsgeschichte.
Die Erfolgsgeschichte der Zeitarbeit begann Ende der neunziger Jahre, als sich die Unternehmen Reservepersonal für Auftragsspitzen nicht mehr leisteten: Binnen zehn Jahren verdoppelte sich die Zahl der Überlasser auf nunmehr 1800, jene der Zeitarbeiter vervierfachte sich seit 1998 – von 20.000 auf 80.000. Sie waren die Ersten, die in der Wirtschaftskrise gehen mussten. Und eben die Ersten, die danach wieder eingestellt wurden: Allein heuer legte die Branche um 30.000 Personen zu, womit sie das Rekordniveau von 2008 überbot. Dass sie in den kommenden Jahren die 100.000er-Grenze durchbrechen wird, verkünden Experten von Gewerkschaft und Wirtschaftskammer in ungewohnter Einigkeit.

Längst stellen nicht mehr nur Hackler das Leasingpersonal. Zwar bilden die Arbeiter mit 85 Prozent die überwiegende Mehrheit, 15 Prozent der Zeitarbeitnehmer aber sind Angestellte. Einige Prozent besitzen gar akademische Würden: Fachärzte und Bankmanager oder auch Organisationsexperten, die per Leasingvertrag Projekte in Millionenhöhe leiten. Sie schätzen durchaus die Möglichkeiten, die ihnen Zeitarbeit bietet: Abwechslung, Ungebundenheit, flexible Urlaubsplanung. Die meisten Zeitarbeiter träumen aber von einem regulären Arbeitsverhältnis.

„Freilich, Leiharbeit ist besser als gar kein Job“
, sagt Gaby Bischinger. Seit drei Jahren steht die Wienerin auf der Payroll des kürzlich in die Insolvenz geschlitterten Personaldienstleisters Eurojobs. Seit drei Jahren hofft die 52-Jährige, von ihrem Beschäftigerbetrieb übernommen zu werden. Die ständige Furcht, wegen eines Flüchtigkeitsfehlers den Job zu verlieren, sei nervenaufreibend, nie Teil der offiziellen Belegschaft zu sein frustrierend: „Glauben Sie mir, keiner ist gern Leiharbeiter.“

Derzeit profitieren vom Personalleasing vor allem große Unternehmen. Für sie sind Zeitarbeiter zwar nicht automatisch billiger – die Arbeitsstunde muss dem jeweiligen Kollektivvertrag entsprechend entlohnt werden –, aber zumindest organisatorisch günstiger.

Besteht kein Bedarf mehr, wird das Leihpersonal, ähnlich den Usancen des Versandhandels, einfach spesenfrei retourniert: Weder muss sich der Entleiher mit Kündigungsfristen und einem kampfeslustigen Betriebsrat befassen, noch dem Arbeitsmarktservice (AMS) den Personalabbau melden. Auch Personalumtausch ist so problemlos möglich. Zur Mezzie wird Zeitarbeit in Betrieben mit hohen Prämien – Leasingpersonal wird daran nur in Ausnahmefällen beteiligt; auch Kosten für Weihnachtsfeiern oder Weiterbildung fallen nicht an. Sogar die Bilanz lässt sich mit Zeitarbeitskräften aufpolieren: Sie gelten nicht als Personal, sondern werden als Sachkosten abgerechnet. Das erhöht – zumindest auf dem Papier – die Pro-Kopf-Produktivität der offiziellen Mitarbeiter.

„Oft wird das Leasingpersonal nicht von der Personalabteilung, sondern vom Einkauf engagiert“, erklärt Thomas Grammelhofer, Zeitarbeitsexperte der Proge. Meist sticht deshalb das billigste Angebot. Dass dies sogar bei Ausschreibungen durch den Bund üblich sei, spiele den sozial wenig engagierten Überlassern in die Hände, ärgert sich ein Wirtschaftskammerfunktionär: „Das fördert geradezu unlautere Dumpingpreise und unschöne Geschäftspraktiken.“

Kostenminimierung.
Manche Verleiher würden mittlerweile einfach alles ausprobieren, sagt Herr P. Er spricht aus Erfahrung, hat er doch schon einige Prozesse gegen einstige Arbeitgeber hinter sich – und alle gewonnen: „Wer als Zeitarbeiter überleben will, muss seine Rechte kennen und dafür kämpfen.“

Einige Personaldienstleister beweisen ausgesprochen große Kreativität und Skrupellosigkeit bei der Kosten­minimierung. Manche führen Sozialversicherungsbeiträge nicht ab, andere stufen ihre Mitarbeiter systematisch in der falschen Gehaltsklasse ein oder zahlen ihnen schlicht nicht das volle Gehalt aus. Besonders beliebt für unlautere Sparversuche sind die Tage, in denen die Mitarbeiter nicht verleast sind: In den so genannten Stehzeiten melden manche Leasingunternehmen ihre Arbeitnehmer – oft ohne deren Wissen – von der Krankenversicherung ab, schicken sie auf Urlaub oder setzen sie auf die Straße. 80 Prozent der Kündigungen erfolgen laut Arbeiterkammer Oberösterreich zwar einvernehmlich, die meisten aber nur auf dem Papier. Die Zeitarbeiter würden dazu gedrängt, weil so unter anderem die Kündigungsfrist von zwei Wochen umgangen werden kann, erklärt Gewerkschaftsexperte Grammelhofer: „Stimmt der Zeitarbeiter zu, verspricht das Verleihunternehmen, sich zu melden, sobald es wieder Arbeit gibt. Geht er darauf nicht ein, muss er einen neuen Arbeitgeber suchen.“ Manche Zeitarbeiter müssten gar bei Arbeitsantritt eine Blankounterschrift auf einer Kündigung abliefern. Auch ein längerer Krankenstand führt laut Arbeitnehmervertretern schnell zum Jobverlust. Fast die Hälfte der derart Geschassten ahnt nichts von den daraus resultierenden Nachteilen: Im Schnitt verzichten sie auf 1,3 Monatsgehälter. Wie sich die wechselhafte Erwerbsbiografie dereinst auf die Pensionen auswirkt, wagt derzeit noch niemand abzuschätzen.

Gerhard Flenreiss
, Bundesobmann der Personaldienstleister in der Wirtschaftskammer, hält all dies für Humbug: Es gebe zwar einvernehmliche Kündigungen, aber bei Weitem nicht in diesem Ausmaß, und schon gar nicht gegen den Willen der Arbeitnehmer. Die Branche habe sich stark professionalisiert: Seit der Einführung des Kollektivvertrags 2002 und des Weiterbildungsfonds 2007 gebe es zwischen Zeitarbeiter und Stammpersonal kaum noch Unterschiede. Dass vereinzelt schwarze Schafe in seiner Branche existieren, weiß Flenreiss wohl, „aber sobald wir von einem erfahren, gehen wir streng dagegen vor“. Das gehe von Gesprächen bis zu einer Anzeige wegen unlauteren Wettbewerbs.

Ähnliches dürfte sich die Arbeiterkammer geschworen haben. Von den 4761 Fällen, welche die AK Oberösterreich im Vorjahr beackerte, betrafen zehn Prozent Leiharbeiter – obwohl sie nur 1,8 Prozent der Erwerbstätigen ausmachten. Entsprechend gute Chancen haben Oberösterreichs Überlasser, auch heuer wieder in das „Schwarzbuch Arbeitswelt“ aufgenommen zu werden. In dem Elaborat listet die Kammer penibel jene Betriebe auf, mit denen sie sich unfreiwillig am häufigsten befassen muss.

2008 schafften es zwei Personalverleiher in die Flop Ten dieser AK-Aufstellung, zwei Jahre zuvor stammte gar jedes dritte schwarze Arbeitgeber-Schaf aus der Herde der Personalverleiher.

Derart angestachelt, ließ unlängst Oberösterreichs AK-Präsident Johann Kalliauer, laut Eigendefinition „kein großer Freund der Zeitarbeit“, die Arbeitswelt von Leasingpersonal erforschen. Das Ergebnis fiel durchwegs trist aus.

Besonders ernüchternd: Zeitarbeit führt nur selten zur Regelbeschäftigung, meist ist sie die Endstation. Die Hälfte der Zeitarbeiter verharrt bereits seit vier Jahren in der Branche, jeder Sechste gar seit zehn Jahren. Größtenteils unfreiwillig: Zwei Drittel der Zeitarbeiter hoffen, von ihrem Beschäftigerbetrieb übernommen zu werden. Bei den unter 26-Jährigen sind es gar drei Viertel. Den Sprung in die Regelbeschäftigung schafft jedoch nur jeder Fünfte.

Mehr noch:
Jeder Zehnte wurde nur zum Zeitarbeiter, weil er von seinem Arbeitgeber gekündigt und sogleich als Leasingkraft zurückgeholt wurde. „Leiharbeit ist eher ein Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt als ein Einstieg“, ätzt Kalli-auer. „Und daran verdient sogar noch jemand.“ Er verlangt eine Übernahmepflicht nach einem Jahr.

Wollten die Unternehmen Regelbeschäftigungsverhältnisse, würden sie selbst Personal anstellen, hält Wirtschaftskämmerer Flenreiss dagegen: „Nur durch Zeitarbeit sind sie flexibel genug, um international konkurrenzfähig zu bleiben.“ Wirtschaftsminister Mitterlehner betont gegenüber profil, Personalleasing sei vor allem für die klein- und mittelständisch geprägte Unternehmensstruktur in Österreich wichtig und zudem ein ausgezeichneter Jobmotor. Auch Sozialminister Hundstorfer preist „den gesunden Mix“ aus Zeitarbeitern und Stammbelegschaft in Österreichs Unternehmen. Aus dem früher durchwegs unterkühlten Verhältnis von Personaldienstleistern und AMS wurde in den vergangenen Jahren eine wohltemperierte Partnerschaft: Unter den Top-Ten-Unternehmen, die Arbeitskräfte über das AMS rekrutieren, befinden sich mittlerweile sieben Überlasser.

Der Grund:
Viele Unternehmen nehmen nur noch Zeitarbeiter auf. In Wien soll es laut Gewerkschaft gar Betriebe geben, in denen 80 Prozent Leasingpersonal werken, und das monatelang. „Das hat nichts mehr mit Spitzenabdeckung zu tun“, kritisiert AK-Präsident Kalliauer. Ihm schwebt zum Schutz der Zeitarbeiter ein Gütesiegel für Überlasserbetriebe vor.
Die zuständigen Ministerien winkten bereits ab, die Sozialpartner – federführend die Wirtschaftskammer – tüfteln indes längst daran. Oberösterreich steckt gar schon in der Testphase.

Selbst wenn sich das Siegel bundesweit durchsetzen sollte, für Ausschreibungen des Bunds wäre es bekanntlich unerheblich: Das Finanzministerium gab den Zuschlag für die Datenerfassung an einen Personalverleiher, der pro Arbeitsstunde nicht einmal 15 Euro veranschlagte. Puffer für Krankenstände und Kündigungen bleibt da nicht: Allein die Mindestlohn- und Lohnnebenkosten betragen fast 13 Euro – für die schlechtestqualifizierten Arbeitskräfte.

Überlasser, die mit branchenüblichen 18 Euro seriöser kalkulierten, hatten das Nachsehen: Sie waren der Republik zu teuer.