Krawalle in Großbritannien

Großbritannien: Jugendliche im Rausch der Gewalt

Großbritannien. Jugendliche im Rausch der Gewalt

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Es ist nicht schwer, die Randalierer von Großbritannien zu beschreiben. „Hoodies“, „Chavs“ oder „Scallies“ nennt man sie in Großbritannien, unter anderem wegen der Kapuzenjacken oder Trainingsanzüge, die sie bevorzugt tragen. Diese Begriffe stehen für mehr als einen Kleidungsstil: Sie bezeichnen junge Männer aus unterprivilegierten Verhältnissen, denen eine Affinität zu kriminellem Verhalten unterstellt wird.

Schwieriger wird es schon, die Motive der Täter zu erklären. Das liegt auch daran, dass sie möglicherweise überhaupt keine haben, die sie rational benennen könnten. Im Gegenteil: Die Ausschreitungen, die am ersten Augustwochenende in London begannen und in den Tagen danach auf mehrere andere englische Städte übergriffen, wirkten wie ein Rausch der Gewalt.

Auslöser der Krawalle war der Tod des 29-jährigen Mark Duggan am Donnerstag, 4. August. Der vierfache Familienvater war wegen angeblicher Drogengeschäfte ins Visier der Polizei geraten. Am frühen Abend stoppte eine Streife das Taxi, in dem Duggan unterwegs war. Dann fielen unter vorerst nicht geklärten Umständen zwei Schüsse. Klar ist nur eines: Der Verdächtige trug zwar eine geladene, illegale Waffe, hat sie aber nicht abgefeuert.

Zwei Tage blieb es ruhig im Stadtteil Tottenham, dem Schauplatz des Zwischenfalls. Auch eine Protestkundgebung vor der örtlichen Polizeistation, an der sich am Samstag 120 Freunde und Verwandte des Toten beteiligten, verlief friedlich. Danach brannten jedoch plötzlich zwei in der Nähe geparkte Streifenwagen und ein Doppeldeckerbus. Hunderte Menschen strömten auf die Straßen, Scheiben gingen zu Bruch, es kam zu ersten Plünderungen.

Von Sonntag auf Montag griff die Randale auf andere Viertel der britischen Hauptstadt über. Geschäfte gingen in Flammen auf, die Polizei verhaftete mehr als 200 Verdächtige. Tags darauf wurde das erste Todesopfer gemeldet: Ein 26-Jähriger starb an den Folgen einer Schussverletzung. In der Nacht zum Mittwoch blieb London zwar ruhig. 16.000 Polizisten verhinderten weitere Gewalttaten. Dafür randalierten und plünderten Jugendliche in anderen Großstädten wie etwa Birmingham, Liverpool und Bristol. Dabei kamen drei weitere Menschen ums Leben – offenbar vorsätzlich mit einem Auto totgefahren.

Es wäre unsinnig, die Krawalle in Großbritannien in eine Reihe mit den Jugendprotesten in Griechenland und Spanien zu stellen. Dass sie alle im Kontext hoher Arbeitslosigkeit, mangelnder Perspektiven und einer prekären sozialen Situation stattfinden, ist aber evident.

In Großbritannien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 20 Prozent, eine Million 16- bis 24-Jährige haben keinen Job – doppelt so viele wie zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008. Inzwischen hat die Regierung im Zuge von Sparmaßnahmen eine Reihe von Unterstützungs- und Förderprogrammen für genau diese Bevölkerungsgruppe gestrichen. Zur allgemeinen Perspektivlosigkeit kommt eine spezielle Kultur der Gewalt unter Heranwachsenden, die vor allem durch Messerstechereien auffällig geworden ist.

Auf einen ethnischen, religiösen oder ideologischen Nenner lassen sich die Ereignisse jedoch nicht bringen: Es gibt Tatverdächtige mit Migrationshintergrund und ohne, die Läden von Einwanderern wurden genauso geplündert wie Filialen internationaler Ketten, weiße Briten mussten ihren Besitz ebenso verteidigen wie ihre farbigen Nachbarn.
Die britische Polizei macht für die Exzesse vorwiegend „kleine, mobile Gruppen“ verantwortlich, die sich über Mobiltelefon und soziale Netze koordiniert – und denen sich dann Gelegenheitstäter angeschlossen hätten. Was von diesen Tagen im Gedächtnis hängen bleiben wird, sind wohl nicht nur die Bilder von brennenden Häusern, sondern auch jene von Plünderern, die sich mit Flat-Screen-Fernsehern und Markenkleidung davonmachen.

„Hätten sie nur etwas Lebensnotwendiges geklaut, hätte man ihnen möglicherweise Sympathie entgegengebracht. Hätten sie bei Tiffany und Gucci Luxusgüter geraubt, hätte man ihnen einen politischen Hintergrund zugestanden und damit auch einen gewissen Respekt“, kommentierte der linksliberale „Guardian“ die Szenen: „Ihre Achillesferse ist es, dass sie Dinge genommen haben, die sie offensichtlich einfach haben wollten.“ Von einer „entfremdeten und sehr entrechteten Jugend“ spricht Chris Greer, Soziologe und Kriminologe an der City University London.

Ob die Randale der richtige Weg sei, Unzufriedenheit auszudrücken, fragte ein TV-Reporter vergangene Woche einen an den Ausschreitungen beteiligten Hoodie. „Ja“, sagte der, „Sie würden mir ja nicht zuhören, wenn wir nicht randalieren würden.“

Am Mittwoch erklärte der britische Premierminister David Cameron, ihm sei klar geworden, dass „in unserer Gesellschaft manche Dinge schrecklich falsch laufen“. Dann stellte er den Einsatz von Wasserwerfern in Aussicht.
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