Lernvorgänge: Das Wunder Kind

Entwicklungspsychologie: Dem Geheimnis kindlicher Lernvorgänge auf der Spur

Dem Geheimnis kindlicher Lernvorgänge auf der Spur

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"Warum ist der Himmel blau?“, „Warum ist Schnee weiß?“, „Warum ist das Wasser durchsichtig, wenn es aus der Leitung kommt, im Meer aber türkis?“ – Kinder löchern Erwachsene mit immer neuen Fragen, und die wissen darauf oft keine Antwort. Dieses Alles-genau-wissen-Wollen ist nur Kindern und Wissenschaftern eigen. Gemeinsamer Nenner der kleinen Weltentdecker und der nach Erkenntnisgewinn strebenden Berufsforscher: grenzenlose Neugierde.

Im ersten Lebensjahr verdreifacht sich das Volumen des kindlichen Gehirns. Bis zum dritten Lebensjahr bildet es doppelt so viele Nervenverbindungen, wie ein Erwachsener später besitzt. Bis zum sechsten Lebensjahr speichert es weit größere Wissens- und Erfahrungsmengen als je im späteren Leben. Doch auf welche Weise das kindliche Lernen tatsächlich funktioniert, ist noch nicht zur Gänze erforscht. Deshalb versuchen Wissenschafter verschiedenster Disziplinen nun, dem Geheimnis kindlicher Lernvorgänge auf die Spur zu kommen. Sie messen Atem- und Pulsfrequenz von Babys und verfolgen deren Augenbewegungen mit hochauflösenden Kameras. Mithilfe von High-Tech-Apparaturen beobachten sie Föten im Mutterleib, testen Reaktionen von Neugeborenen auf Gesichter, Stimmen und Geräusche oder versuchen, im Rahmen ausgeklügelter Testanordnungen herauszufinden, ab welcher Altersstufe Kinder auch zu anspruchsvolleren Kombinationen fähig sind.

Test aus Österreich. Eine dieser Studien schaffte eben erst eine Veröffentlichung im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ (Ausgabe vom 8. April). Kristine H. Onishi und Renee Baillargeon von der Universität Illinois testeten die Fähigkeit 15 Monate alter Kinder, irrtümliche Handlungen zu erkennen. Der von den beiden österreichischen Psychologen Josef Perner und Heinz Wimmer (Universität Salzburg) bereits 1983 entwickelte Testablauf hat es mittlerweile weltweit auf 170 Nachfolgestudien gebracht.

Onishi und Baillargeon hatten 59 Kleinkinder dabei beobachtet, wie sie auf irrtümliche Annahmen von Erwachsenen reagieren. Beim ersten Test versteckte ein Wissenschafter vor den Augen der Kinder eine Wassermelone in einer grünen Kiste. Dann „suchte“ eine erwachsene Akteurin, die das Verstecken nicht sehen konnte, in ebendieser Box nach der Melone, was die Kinder interessiert beobachteten. Auch wenn die Versuchsperson in der gelben, „falschen“ Kiste suchte, schauten die Kinder interessiert zu.

Abstrakte Ebenen. Im zweiten Versuch transferierten die Forscher die Wassermelone, für die Kinder wie für die Akteurin sichtbar, von der grünen in die gelbe Kiste. Handelte die Akteurin im Erstversuch trotz ihres Nichtwissens, so waren die Kinder jetzt fasziniert, wenn sie gegen ihr offenkundiges Wissen in die „falsche“ grüne Schachtel griff. Die Forscher folgerten daraus, dass schon Kleinkinder aufgrund visueller Erfahrungen irrtümliches Verhalten interpretieren können.

Das widerspricht den bisherigen Annahmen, wonach Kinder erst mit Entwicklung der Sprachkompetenz um das vierte Lebensjahr lernen, ein solches Verhalten zu deuten, schreiben Perner und sein Kollege Ted Ruffman von der Universität Otago in Neuseeland in ihrem ebenfalls in „Science“ erschienenen Kommentar zur Studie. Perner: „Wenn es diese Kompetenz schon im Alter von 15 Monaten gibt, dann beruht diese nicht auf kulturellen Einflüssen, sondern auf einem biologischen Erbe.“

Zwischen dem zweiten und siebenten Schwangerschaftsmonat entstehen im Gehirn des Fötus mehr als 100 Milliarden Nervenzellen. Das Körpergewicht eines Neugeborenen entspricht etwa fünf Prozent des Körpergewichts eines Erwachsenen, aber sein Gehirn wiegt 30 Prozent des Gewichts eines Erwachsenengehirns. Und während das Gehirn eines Erwachsenen nur 20 Prozent der gesamten dem Körper zugeführten Energie benötigt, verbraucht das Gehirn eines Neugeborenen den Großteil der verfügbaren Körperenergie.

Aufgrund seiner Gehirnentwicklung produziert schon das Ungeborene individuelle Verhaltensmuster. Temperamentvolle Babys, die während der Schwangerschaft kräftig treten, sind auch als Neugeborene aktiver. Schon im Mutterleib zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Im vierten und fünften Schwangerschaftsmonat machen männliche und weibliche Föten die gleiche Anzahl von Mundbewegungen, ein paar Wochen später sind die weiblichen darin deutlich eifriger. Zwar lassen sich daraus keine weit reichenden Schlüsse auf die spätere Sprachentwicklung ziehen, aber die Forscher nehmen es als Hinweis darauf, dass die weibliche Gehirnentwicklung in diesem Stadium weiter fortgeschritten ist.

Laut Norbert Herschkowitz, Neurobiologe an der Universitäts-Kinderklinik Bern, verarbeitet das fötale Gehirn schon im Mutterleib gemachte Sinneserfahrungen, in erster Linie Geräusche und Berührungen. „Das Baby kennt die Stimme seiner Eltern schon lange vor seiner Geburt“, erklärt Herschkowitz. „Auch an Musikstücke, die der Fötus im Mutterleib immer wieder hört, kann sich der Säugling bis zu vierzehn Tage nach seiner Geburt erinnern und lässt sich durch Bekanntes beruhigen.“

Das Ungeborene lernt auch, mit unangenehmen Sinneswahrnehmungen umzugehen. Mithilfe von Ultraschallaufnahmen ließ sich eine vom deutschen Psychologen Albert Peiper bereits 1925 aufgestellte These bestätigen, wonach der Fötus starke Geräusche wahrnimmt und darauf mitunter heftig reagiert. Auf den Ultraschallaufnahmen ist zu erkennen, wie Föten beim unerwarteten Geräusch einer Autohupe zusammenzucken und nervös reagieren. Nach mehrmaliger Wiederholung gewöhnen sie sich an das Geräusch – ein von Experten als „Habituation“ bezeichneter Lernvorgang, der schon ab der 23. Schwangerschaftswoche zu beobachten ist.

Botenstoff Noradrenalin. Ganz massiv setzt der Lernprozess aber erst nach der Geburt ein. Der oft erstaunlich wache Gesichtsausdruck von Neugeborenen wird durch Aktivitäten des Hirnstammes hervorgerufen. Geraten dort lokalisierte Neuronen – etwa durch laute Geräusche oder starke Lichtreflexe – in Erregung, dann werden große Mengen des Botenstoffes Noradrenalin ausgeschüttet, der das Kind hellwach und handlungsbereit macht. In einer von Herschkowitz zitierten wissenschaftlichen Studie konnte gezeigt werden, dass bereits Babys im Alter von drei Tagen in der Lage sind, die Stimme ihrer Mutter von anderen Stimmen zu unterscheiden.

Um das herauszufinden, wurden zunächst die Stimmen einzelner Mütter beim Vorlesen aus einem Kinderbuch auf Tonband aufgenommen. Vor Testbeginn bekamen die Säuglinge Schnuller, welche die Nuckelfrequenz maßen. Wenn das Baby schneller als üblich nuckelte, ertönte die Stimme seiner Mutter, saugte es langsamer, hörte es hingegen die Stimme einer anderen Frau. Die Kinder lernten binnen kurzer Zeit, schneller zu nuckeln, sodass sie die Stimme ihrer Mutter hören konnten. Dieses Herstellen einer Verbindung zwischen zwei Ereignissen bezeichnet Herschkowitz als „Grundform des Lernens“.

Neugeborene, die in den ersten Wochen noch etwas undeutlich sehen, konzentrieren sich in ihren optischen Wahrnehmungen auf kräftige Linien und klare Konturen. Tests haben ergeben, dass sie bereits kurz nach der Geburt die Konturen eines Dreiecks, Rechtecks, Kreises oder Kreuzes voneinander unterscheiden können. Markante Punkte im Gesicht der Eltern wie Augen und Haaransatz ermöglichen es den Babys, ihre unmittelbaren Bezugspersonen zu erkennen. Auf das Gesicht eines Menschen reagieren sie anders als auf sonstige Bilder. Mark H. Johnson vom Londoner MRC Cognitive Development Unit konnte anhand von Tests zeigen, dass Neugeborene ihren Kopf und ihre Augen „sehr viel häufiger“ der Zeichnung eines Gesichts zuwenden als dem leeren Umriss eines Kopfes und „signifikant häufiger“ als einer ungeordneten, diffusen Zeichnung.

Unter den vielen Reizen, denen Babys ausgesetzt sind, zählen Gesichter zu den wichtigsten und komplexesten. Sie geben Aufschluss über Identität, Intention und Gefühlszustand. Laut einer im vergangenen März in der amerikanischen Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ („PNAS“) veröffentlichten Studie eines britisch-amerikanischen Forscherteams können Babys auch Affengesichter problemlos voneinander unterscheiden. Allerdings geht diese Fähigkeit bereits im Alter von neun Monaten wieder verloren, sofern sie nicht speziell trainiert wird.

Einem ähnlichen Muster folgt das frühe Erlernen von Sprache – es ist genauso von bereits gemachten, intensiven Erfahrungen abhängig. Im Alter von sechs bis zehn Monaten wächst die Fähigkeit von Babys, zwischen Klängen ihrer Muttersprache zu unterscheiden. Zugleich lässt aber auch ihre Fertigkeit nach, Unterschiede zwischen Lauten einer fremden Sprache zu erkennen. Der britische Entwicklungspsychologe Graham Schafer von der Universität Reading testete aus, ob neun Monate alte Babys schon imstande sind, Wörter zu lernen, die nichts mit ihrer unmittelbaren Lebenswelt zu tun haben. Bisher galt in der Wissenschaft die These, Kinder wären dazu erst im zweiten Lebensjahr befähigt.

Im Fachmagazin „Child Development“ berichtete Schafer, dass kleine Kinder den Wortgebrauch flexibler verstehen dürften als bisher angenommen. Der Forscher zeigte 52 Babys 48 Bildkarten und sagte die zu den Bildinhalten passenden Bezeichnungen. Viermal pro Woche hatten die Babys eine derartige zehnminütige Bildbetrachtungssitzung. Drei Monate später wurde getestet, was sich die mittlerweile einjährigen Kinder aus dem Unterricht gemerkt hatten. Die trainierten Babys erkannten die meisten Objekte aufgrund der Bezeichnung wieder, die Kinder der ungeübten Kontrollgruppe hingegen nicht. Schafer folgerte daraus, dass die Kinder die betreffenden Wörter tatsächlich gelernt hatten, und kam zu dem Schluss, dass sich die Sprachentwicklung von Babys schon viel früher trainieren lässt als bisher angenommen.

Zeitfenster. Durch derartige Testergebnisse sehen sich viele Mütter veranlasst, ihre Kinder besonders früh zu „fördern“. Sie sprechen schon mit dem Ungeborenen, lesen ihm Gedichte vor und legen sich den CD-Player mit Mozart-Konzerten auf den Bauch. Doch die Forschung bleibt skeptisch. „Es gibt keinen wissenschaftlichen Hinweis darauf, dass eine Stimulation des Fötus, wie etwa mit Musik, einen beschleunigten Verlauf der vorgeburtlichen Gehirnentwicklung begünstigt“, sagt Neurowissenschafter Herschkowitz. „Aber alles, was der Mutter gut tut, tut auch dem Baby gut. Entspannt sie sich bei Mozart, wird es das Baby auch tun.“

Vor allem im angloamerikanischen Raum propagieren manche Wissenschafter die intensive Nutzung eines „Zeitfensters“, das von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr reiche. In dieser Entwicklungsphase saugen Kinder neue Erfahrungen und neue Kenntnisse schwammartig auf. Die bereits bei der Geburt vorhandenen Nervenzellen bilden ein dichtes Netz von Fortsätzen, so genannten Dendriten, und verbinden sich miteinander. Der durch genetische Programme gesteuerte Prozess führt dazu, dass in einzelnen Bereichen der Großhirnrinde ein riesiges Überangebot an Nervenzellverbindungen entsteht.

„Das kindliche Gehirn kann nicht wissen, welche Verbindungen es im späteren Leben brauchen wird“, erklärt Gerald Hüther, Neurobiologe an der Universität Göttingen, „also stellt es zuerst bis zum Alter von etwa drei Jahren einen Überfluss an Verschaltungen her. Es werden aber nur jene Nervenverbindungen stabilisiert und erhalten, die auch tatsächlich genutzt und gebraucht werden.“ Nicht genutzte Schaltkontakte werden wieder abgebaut. Diese Reduktion von scheinbar notwendigen Verbindungen stürzt viele Eltern in Panik – sie müssten in diesen ersten Lebensjahren ihrem Kind so viel wie möglich beibringen, da sich danach das Fenster zum scheinbar grenzenlosen Aneignen von Wissen unwiderruflich schließe.

Doch die Wissenschaft winkt ab: „Vom 3-Jahres-Mythos wird immer Gebrauch gemacht, wenn die Industrie wieder einmal Lernspielzeug verkaufen möchte oder möglichst viele unseriöse Erziehungsratgeber abgesetzt werden sollen“, sagt Pia Deimann, Entwicklungspsychologin und Leiterin des Forschungskindergartens an der Universität Wien. „Das Gehirn verändert sich ein Leben lang und passt sich Situationen an“, erklärt Neurowissenschafter Herschkowitz. Auch ohne spezielle Förderung werden die Synapsen (Nervenzellen-Verbindungen) allein durch Umweltreize aufgebaut und gestärkt.

Neurobiologe Hüther beobachtet eine regelrechte Hysterie, wenn es um die rechtzeitige Förderung des Nachwuchses geht. Er selbst lehnt verschulte Frühförderung ab und widmet sich in seinem Buch „Kinder gezielt fördern“ der Frage, wie man Kinder von Anfang an mit allen Sinnen spielerisch fördern kann. Die wichtigste Voraussetzung für das Lernen sind die kindliche Entdeckerfreude und Gestaltungslust. Die entscheidenden Lernprozesse finden im alltäglichen Leben statt, beim Spielen, Spazierengehen, Vorlesen und vor allem bei der Interaktion mit anderen. Die kindliche Gehirnentwicklung und damit das Lernen sind in hohem Maße von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz seiner Bezugspersonen abhängig. Bekommt das Kind emotionale Sicherheit vermittelt, wächst sein Vertrauen in seine Eltern. Neue, für das Lernen nötige Situationen werden dann nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung empfunden.

Kindliche Lustgefühle. Das Geheimnis der kindlichen Entdeckungslust findet sich im Gehirn, sagt Neurobiologe Hüther. Solange das Kind mit der Suche nach bestimmten Dingen oder Erkenntnissen beschäftigt ist, herrscht in seinem Gehirn Unruhe, Erregung und Spannung. Dieser Zustand wird durch ein Erfolgserlebnis plötzlich aufgelöst. Immer dann, wenn sich das aufgewühlte Durcheinander wieder ordnet und Erregung in Beruhigung übergeht, entsteht ein freudiges Gefühl der Zufriedenheit. Dann bekommt das Kind umso größere Lust, sich erneut Wissen zu erobern.

Bei diesem Vorgang werden in einer Gruppe von erregten Nervenzellen im Gehirn die Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin freigesetzt, die auf ähnliche Weise auf das Belohnungszentrum des Gehirns wirken wie etwa Heroin- oder Kokainkonsum. „Das lässt erahnen, wie groß das Lustgefühl beim Erforschen von Unbekanntem für Kinder sein kann“, sagt Hüther. Alle vom Kind aufgenommenen Sinneseindrücke werden als bestimmte Verschaltungsmuster von Gehirnzellen als „inneres Bild“ verankert, manches auch schon im Mutterleib. Jede neue Wahrnehmung, egal, ob Duft oder ungewohntes Geräusch, erzeugt im Gehirn ein entsprechendes Aktivierungsmuster, Hüther nennt es „Wahrnehmungsbild“. Das kindliche Gehirn versucht dann, ein bereits vorhandenes Muster zu aktivieren – ein Erinnerungsbild, das zur neuen Erfahrung passt. Stimmen das vorhandene Erinnerungsbild und das neue Wahrnehmungsbild überein, wird der neue Eindruck als bekannt abgetan und mit einer gewohnten Reaktion beantwortet.

Gibt es hingegen keine Gemeinsamkeiten zwischen dem neuen und dem schon abgespeicherten Bild, dann passiert gar nichts, denn es wird als Trugbild verworfen. Es wird also nur das wahrgenommen, was einigermaßen zu den Vorstellungen und Erwartungen des Kindes, also zu seinen bereits gemachten Erfahrungen, passt.

Gerade im ersten Lebensjahr erweitert sich der Horizont eines Kindes mit unglaublicher Geschwindigkeit. Babys lernen dabei auf drei verschiedene Arten. Durch Aktivität, indem sie eine Assoziation zwischen ihrem Handeln und der Konsequenz ihres Handelns herstellen – zum Beispiel wenn man eine Schnur an ihrem Bein befestigt, mit der sie ein Mobile bewegen können. Sie stellen eine Beziehung zwischen ihrem Strampeln und den Bewegungen des Mobiles her.

Wichtigste Form des Lernens ist aber die Beobachtung anderer Menschen. Kleinkindern bereitet es große Freude, alltägliche Verhaltensweisen wie etwa Telefonieren zu imitieren. Die dritte Form des Lernens ist das Spielen. Entdeckt das Kind, dass der fallen gelassene Schlüsselbund ein spannendes Geräusch macht, wird es diesen immer wieder auf den Boden werfen. Auch wenn diese Form des Entdeckens Eltern manchmal zur Verzweiflung treibt, ist sie doch essenziell für das Kind. Brigitte Rollett, Doyenne der österreichischen Entwicklungspsychologie, rät in solchen Situationen zur Gelassenheit: „Wenn es dem Kind Freude bereitet, soll man es gewähren lassen und sein Spiel nicht unterbrechen. Ändern die Eltern, während sich das Kind allein beschäftigt, permanent den Fokus seiner Aufmerksamkeit, schadet das dem Kind. Wie soll es sonst lernen, sich alleine zu beschäftigen?“

Eltern werden oft ungeduldig, wenn ihr Kind so ins Spielen versunken ist, dass es die Welt rund um sich vergisst. Wenn es von der Mutter zum Essen gerufen wird, überhört es das Kind einfach. Nicht selten wird das als „Ungezogenheit“ interpretiert. Tatsächlich ist an diesem Ausblenden der mütterlichen Stimme eine Art „innerer Manager“ beteiligt, der im vordersten Bereich des Gehirns sitzt und das Kind dabei unterstützt, die selbst gestellte Aufgabe erfolgreich abzuschließen. Neurowissenschafter und Kinderarzt Herschkowitz: „Diese innere Kommandozentrale hilft dem Kind dabei, Ablenkungen zu ignorieren und seine Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Aufgabe zu konzentrieren.“

Interaktion. Bis vor Kurzem galt die These, Kleinkinder unter zwei Jahren würden sich beim Spielen ausschließlich mit sich selbst beschäftigen, nicht aber mit anderen Kindern ihres Alters. Erziehungswissenschafterin Heidi Simoni vom Zürcher Marie-Meierhofer-Institut fand im Rahmen einer im vergangenen Sommer veröffentlichten Studie heraus, dass auch Kinder unter zwei Jahren bereits mit anderen Kindern interagieren. Zwar spielen sie eher neben- als miteinander, doch halten die Kinder Blickkontakt und imitieren einander. Simoni: „Eltern zeigen oft sehr wenig Sensibilität für diese Art des Spielens, weil ihrer Ansicht nach nicht viel passiert. Es gibt zwar noch keine Rollenspiele, aber diese Beschäftigung regt Kinder geistig viel mehr an als spezielle Förderprogramme oder Lernspielzeug.“ Besonders Spielgefährten, die ein klein wenig älter sind und manche Dinge schon besser beherrschen, sind außerordentlich attraktive Vorbilder. „Sie sind nicht so weit weg wie Erwachsene. Was sie können, scheint erreichbarer zu sein. Kinder orientieren sich daher gerne an solchen ‚Peers‘“, sagt auch Hüther.

Bis zum Schulalter lernen Kinder voll Neugier, Entdeckungsgeist und Begeisterung. Doch warum verschwindet die Lust am Entdecken und Lernen meist mit dem Eintritt in die Volksschule? „Kinder lernen am besten, wenn sie den Lernstoff selbst bestimmen und erarbeiten können“, meint Hüther. „In der Schule kommt das Lernen durch Erfahrung meist zu kurz.“ Das schulische Lernen wird zur reinen Kopfsache, während Kinder den Lernstoff eigentlich mit all ihren Sinnen begreifen müssten. Auch die von vielen Eltern angewendeten Fördermethoden haben mit spielerischem Lernen kaum etwas zu tun, sondern orientieren sich vielmehr am schulischen Auswendiglernen. Projektarbeiten, bei denen man sich mit einem selbst erarbeiteten Thema auseinander setzen muss, bringen deutlich mehr. Die Lust am eigenständigen Denken ist es, was Eltern ihren Kindern in erster Linie beibringen sollten, meint Hüther: „Der Rest kommt dann von alleine.“

Von Ulrike Moser