Ernährungsstreit: Cancellight Dinner

Ernährung: Cancellight Dinner

Eine Expertenkontroverse um Dinner Cancelling

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Dagmar Koller versucht es im Urlaub, ORF-Moderatorin Barbara Karlich praktiziert es „mindestens dreimal die Woche“, Eveline Eselböck vom Restaurant Taubenkobel schwört gar fünfmal wöchentlich darauf. Die Rede ist von Dinner Cancelling – dem Verzicht aufs Abendessen, „der sich in bestimmten Gruppen zu einem wahren Trend entwickelt hat“, wie die Wiener Motivforscherin Helene Karmasin beobachtet: „Es ist auch ein schönes Wort: Wie gut klingt Dinner Cancelling, wie hässlich dagegen Hungern.“ Doch Dinner Cancelling soll keineswegs bloß der Gewichtsreduktion dienen. Die Methode wird auch zur Krebsprävention und sogar als effiziente Möglichkeit zur Verlängerung des Lebens propagiert. Freilich sind all die behaupteten Effekte unter Fachleuten äußerst umstritten. Während Befürworter wie der Wiener Hormonspezialist Johannes Huber von wundersamen Verbesserungen für Gesundheit und allgemeines Wohlbefinden schwärmen, verweisen Kritiker auf einen Mangel an gesicherten Daten – und warnen vor kontraproduktiven Folgen.

Einigkeit herrscht gerade noch darin, dass Dinner Cancelling ein denkbar einfach einzuhaltendes Diätkonzept ist. Es sind keine Lebensmittel verboten, untertags darf man essen, was man möchte, und erst ab 16 oder 17 Uhr muss man auf feste Nahrung verzichten und soll Wasser und Kräutertees konsumieren, um dem Magen ein Völlegefühl zu suggerieren.

Beweisfrage. Die Kernfrage ist freilich, ob diese Form des Hungerns tatsächlich besondere Effekte hat oder ob eine allfällig erzielte Gewichtsabnahme auf bloßer Kalorienreduktion beruht – und man deshalb ebenso gut das Mittagessen auslassen könnte. Peter Frigo, Hormonspezialist am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH), vermeint eine Erklärung für die speziellen Vorzüge des Dinner Cancelling zu haben. Frigo führte eine Studie durch, in der Testpersonen wechselweise vor 17 Uhr und nach 20 Uhr Pizza aßen. „Wenn man nach acht Uhr zu Abend isst“, referiert Frigo die Ergebnisse, „wird das Wachstumshormon Somatotropin deutlich weniger und deutlich später ausgeschüttet.“

Weil Somatotropin den Muskelaufbau fördert und den Fettansatz bremst, so Frigo, führe eine infolge später Nahrungszufuhr verminderte Ausschüttung dieses Hormons zu verstärkter Fettzunahme und zu einem Verlust an Muskelmasse. Zudem belaste keine Mahlzeit den Verdauungsapparat so sehr wie das Abendessen, weil der Körper vor der Nachtruhe die Energieverbrennung drossle.

Andere Experten vermögen keine Kausalzusammenhänge zwischen Dinner Cancelling und Diäterfolg zu erkennen. „Für die Kalorienbilanz ist es völlig gleichgültig, zu welcher Tageszeit gegessen wird“, sagt die Ernährungswissenschafterin Angela Mörixbauer. „Die Tageszeit hat für die Fettspeicherung keine Relevanz“, bestätigt Ibrahim Elmadfa, Vorstand des Instituts für Ernährungswissenschaft an der Universität Wien. „Man muss die Gesamtaufnahme von Lebensmitteln über den Tag verteilt betrachten“, so Elmadfa, „und zwar im Zusammenhang mit dem Energieumsatz.“

Fastenfolgen. Für die Apologeten des Dinner Cancelling ist der Diätaspekt aber ohnehin nur eine Facette der angeblichen Wunderkur. Geht es nach Johannes Huber, aktiviert der Verzicht aufs Abendmahl einen wahren Jungbrunnen – was durch diffizile hormonelle Abläufe im Organismus erklärbar sei. „Abendliches Fasten fördert die Melatoninbildung und die Produktion von Wachstumshormonen“, behauptet Huber.

Als erwiesen gilt, dass die biologische Funktion von Melatonin auf der Steuerung des zirkadianen Rhythmus, des Schlaf-Wach-Rhythmus, beruht. Melatonin wird in der Zirbeldrüse produziert, einem Teil des Zwischenhirns. Bei Einfall von Tageslicht ins Auge wird die Ausschüttung von Melatonin eingestellt, in der Nacht dagegen – vor allem zwischen Mitternacht und zwei Uhr Früh – wird das Hormon abgegeben und wirkt schlaffördernd. Allerdings produziert der Körper mit zunehmendem Alter immer geringere Mengen davon.

Wer abends völlert, so die These der Dinner-Cancelling-Fraktion, verzögere die nächtliche Melatoninbildung, der Verzicht aufs Nachtmahl kurble sie hingegen an. „Durch Dinner Cancelling wird die Melatoninproduktion erhöht“, sagt der Münchner Ernährungsberater Dieter Grabbe. Manche Alternsforscher vermuten nun, dass durch verstärkten Melatoninausstoß nicht nur lebenswichtige Reparaturen in den Zellen besser ablaufen, sondern auch viele Organfunktionen optimiert werden.

„Wenn man isst oder Alkohol trinkt, kostet es den Organismus Kraft, diese Stoffe wieder aus dem Körper zu schaffen“, erklärt Doris Gruber, Medizinerin in Johannes Hubers Team am Wiener AKH. „Wenn der Körper jedoch nicht mit der Verdauung beschäftigt ist, schaltet er automatisch auf einen Reparaturmechanismus um.“

Radikalefänger. Angenommen wird auch, dass Melatonin ein wirksamer Fänger freier Radikale ist. Dies sind Abfallprodukte der körpereigenen Energiegewinnung, die eine Schlüsselrolle im Alterungsprozess spielen sollen. Durch Faktoren wie Zigarettenrauch und UV-Strahlung beispielsweise wird deren Entstehung gefördert und biologisches Gewebe in oxidativen Stress versetzt, wobei der Körper gewünschte Moleküle in gefährliche umwandelt – als Folge soll die Entstehung von Krebs begünstigt werden. Die Ernährungswissenschafterin Petra Bareis, Leiterin des Wissenschaftsbereichs Ernährung an der Fachhochschule Wieselburg, hält Krebsvorbeugung durch Melatonin durchaus für möglich: „Ist der Melatoninspiegel zu niedrig, steigt das Risiko, an Brust- oder Prostatakrebs zu erkranken“, meint Bareis.

Ein weiterer Aspekt betrifft den so genannten Hibernationseffekt, der mit einer Art Winterschlaf vergleichbar ist. Durch erhöhte Melatoninproduktion wird die Geschlechtshormonsekretion gedrosselt, die Nebennierenrinde und die Keimdrüsen bremsen ihre Aktivität, Blutdruck und Temperatur sinken. Drei bis vier Zehntelgrad sollen dabei einiges bewirken: Billionen von Körperzellen arbeiten langsamer, überdies verlangsamt sich die Zellteilung, was zu einer längeren Lebensdauer beitragen kann. Dieser Effekt entsteht laut Huber aber nur, wenn dem Körper nicht über einen vollen Magen enorme Energieressourcen angeboten werden.

Weiters verweist Huber auf den Effekt der körpereigenen Heat-Shock-Moleküle. Diese sind für das optimale Design jener Proteine zuständig, die der Körper laufend zum Aufbau von Muskeln und Organen und für die Synthese von Hormonen benötigt. „Das abendliche Fasten steigert die Produktion der Heat-Shock-Moleküle“, so Huber. Die Eiweißstrukturen erhalten so die richtige Form und den letzten Schliff, womit ihre Funktionsfähigkeit gesichert ist. In Situationen zellulären Stresses stabilisieren sie zelleigene Proteine, um sie vor bösartigen Veränderungen zu schützen.

Geplanter Tod. Zudem werden Forschungen im Zusammenhang mit dem programmierten Zelltod, der so genannten Apoptose, ins Treffen geführt. Mitunter wird vermutet, dass der Körper bei geringerer Kalorienzufuhr nicht benötigte Zellen einfach abstößt und vor allem bösartige Zellen dem „programmierten Tod“ zuführt. „Er entledigt sich von selbst der Krebszellen, indem er ihnen als Erstes die Nahrung entzieht“, meint Huber.

„Der Verzicht auf die Abendmahlzeit ist nicht nur ein Mittel zur Kalorienreduktion“, konstatiert Bernd Kleiner-Gunk, Leiter der deutschen Arbeitsgemeinschaft für Ernährungsmedizin. „Die dadurch ausgelöste nächtliche Unterzuckerung stellt auch den stärksten körpereigenen Reiz für die Hypophyse, die Hirnanhangdrüse, dar, die nächtliche Ausschüttung von Wachstumshormonen zu erhöhen.“ Ohne Abendessen im Magen sinkt der Glukosespiegel im Blut, was zu einer vermehrten Ausschüttung von Somatotropin im Vorderlappen der Hirnanhangdrüse führt.

Die Wirkung des Wachstumshormons, auch Human Growth Hormone (HGH) genannt, wird schon länger diskutiert und konnte in der so genannten Rudman-Studie Anfang der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts bestätigt werden. Der Mediziner Daniel Rudman verabreichte am Medical College of Wisconsin Senioren dreimal wöchentlich Somatotropin. Im Endbericht konnten signifikante Effekte präsentiert werden: Es kam zu einer deutlichen Zunahme der Muskelmasse nach einem halben Jahr, zu einer Stärkung der Immunabwehrkräfte, einer Straffung der Haut, einem Abbau von Körperfett sowie zu einer generellen Zunahme der Leistungsfähigkeit.

Freilich dämpft selbst Rudman, der sich seit zwanzig Jahren mit Somatotropin befasst, im Fachmagazin „New Scientist“ allzu viel Enthusiasmus. „Wir brauchen noch jahrelange Erfahrung, bevor wir eine sichere Therapieempfehlung geben können“, so Rudman.

Krebswachstum. Georg Wick, Alternsforscher und Vorstand des Instituts für Allgemeine und Experimentelle Pathologie der Universität Innsbruck, zeigt sich ebenfalls skeptisch und warnt sogar vor Gefahren: „Auch Tumorzellen können durch die angekurbelte Produktion von HGH schneller wachsen“, sagt Wick. „Meiner Ansicht nach wirkt dieses Hormon sogar lebensverkürzend.“ Weitere Negativa wurden bei der künstlichen Zugabe von Wachstumshormonen entdeckt: Wassereinlagerungen, Gelenksschmerzen, Störungen des Glukosehaushalts und spezielle Nervenleiden.

So darf unter Experten gerade noch eine eher profane Einsicht als unumstritten gelten – maßvoll essen ist sinnvoller als hemmungslos futtern, und dies nicht nur in Bezug auf das Köpergewicht. Huber etwa verweist auf historische Gegebenheiten: „Nach den Hungerjahren um den Zweiten Weltkrieg erkrankten die Menschen in signifikant geringerem Ausmaß an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.“

Erste wissenschaftliche Studien auf diesem Gebiet liegen beinahe hundert Jahre zurück. 1909 stellten Forscher fest, dass Tumoren in fetten Mäusen schneller wachsen und magere Tiere eine bis zu einem Drittel längere Lebenserwartung aufweisen. Mittlerweile gibt es solche Ergebnisse auch für Fadenwürmer, Fruchtfliegen und Primaten, wie etwa der US-Altersbiologe Mark A. Lane von der University of Wisconsin zeigen konnte. Strenge Diät erhöht die durchschnittliche sowie die maximale Lebensdauer um jeweils 30 bis 40 Prozent – zumindest in Tierversuchen. Auch Wick kennt diese Beispiele und nennt als Faustregel: „Je weniger Kalorien man zu sich nimmt, umso größer ist die Lebenserwartung bei Mensch und Tier. Jedoch sollte man bei der Übertragung von Ergebnissen aus Tierversuchen auf den Menschen vorsichtig sein und nicht zu hohe Erwartungen wecken.“

Große Skepsis. Bernhard Ludvik, Stoffwechselexperte und Professor an der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der Universitätsklinik für Innere Medizin III am Wiener AKH, gibt sich noch zurückhaltender: „Man darf nicht von Einzeldaten auf harte Endergebnisse wie die Lebenserwartung schließen. Insgesamt sollte man bei Aussagen zu Krebsvorsorge und Anti-Aging sehr vorsichtig sein.“

Weder Ludvik noch Wick kennen eine einzige seriöse Studie zu den angeblichen Vorzügen von Dinner Cancelling. Einziger Vorteil ist für Ludvik eine Reduktion des lästigen, aber langfristig auch gefährlichen Sodbrennens.

Wick selbst tendiert jedenfalls eher zur mediterranen Ernährungsweise: „Ich frühstücke, lasse das Mittagessen ausfallen und esse dann wieder am Abend. Wenn Dinner Cancelling so gut wäre, müssten die Menschen in mediterranen Gebieten alle krank sein. Das Gegenteil ist aber der Fall.“