Wenn Dicksein zur Krankheit wird

Ernährung: Echt fett

37% der Österreicher sind übergewichtig

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Dinge, die man so bisher nicht kannte: Im Mai starb in London eine Dreijährige an Herzversagen infolge von Übergewicht: Sie war fast 40 Kilo schwer.

Dinge, die es früher nicht gab: dass Eltern von den Behörden ihr Kind weggenommen wird, weil sie es überfüttern. Eine fünfjährige Schwedin hatte 43,5 Kilo und wurde im März in ein Familienheim gebracht, um unter Aufsicht abnehmen zu können. Das Kind hatte aufgrund seines Gewichts eine deformierte Beinstelllung und Schwierigkeiten beim Gehen. Die Eltern waren Monate zuvor verwarnt worden, hatten das Kind aber weiter gemästet.

Dinge, die früher nicht vorstellbar waren: dass einmal fast zwei Drittel einer Bevölkerung übergewichtig sind und mehr als zehn Prozent adipös, also fettsüchtig; dass man Auto-, Flugzeug- und Kinositze, Hotelbetten und Särge verbreitern muss, weil der durchschnittliche Amerikaner, Europäer und immer mehr Österreicher die genormten Sitz- und Liegebreiten zusehends sprengen.

300.000 tote Amerikaner. Übergewicht ist das neue Rauchen, Fett der neue innere Feind der Industriegesellschaften. Und wie so oft geben die USA den Trend vor: 127 Millionen erwachsene Amerikaner sind übergewichtig, 60 Millionen fettsüchtig, jährlich sterben fast 300.000 US-Bürger an den Folgen ihres Übergewichts. Die Hälfte der Deutschen und Briten sind übergewichtig, jeder fünfte Deutsche ist adipös. In Österreich sind 37 Prozent der Bevölkerung übergewichtig, neun Prozent leiden an Adipositas, vermerkt der vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene Österreichische Ernährungsbericht 2003. Die gewichtigste Nation ist Olympia-Land: Die Griechen führen die internationale Dicken-Rangliste vor den USA, England, Deutschland und Finnland an. Österreich wabbelt auf Rang sechs.

Unter der allgemeinen Verfettung leiden auch die Heranwachsenden: 20 bis 22 Prozent der österreichischen Kinder sind zu dick, schätzt Universitätsprofessor Kurt Widhalm, Leiter der Abteilung für Ernährungsmedizin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde. Genaue Zahlen gibt es jedoch keine; die österreichischen Schulärzte sammeln und verwerten, bis auf jene in Vorarlberg (siehe Kasten), keine Daten der von ihnen untersuchten Kinder – offenbar aus Datenschutzgründen. Widhalms Schätzung basiert auf einer neuen Untersuchung an 1500 Wiener Schulkindern zwischen zehn und 16 Jahren: 17 Prozent sind übergewichtig, sieben Prozent davon sind adipös, also fettsüchtig, mehr als ein Prozent war hochgradig adipös.

„HIV ist gegen das gesellschaftliche Ausmaß von Adipositas ein Klackserl“, sagt Widhalm. „Übergewicht ist eine Krankheit“, sagt der Professor, der weiß, wovon er spricht. Denn auch das gab es früher nicht: Widhalm kennt Zehnjährige mit Altersdiabetes (Typ II), Elfjährige mit gewichtsbedingten Depressionen, Zwölfjährige mit Fettleber: „Bei den Kindern und Jugendlichen haben von 35 hochgradig fettsüchtigen Patienten schon sechs eine Fettleber: Die haben nie in ihrem Leben einen Tropfen Alkohol getrunken und erkranken höchstwahrscheinlich früher oder später an Leberzirrhose.“

Teure Therapie. Widhalm kritisiert, dass wenig unternommen wird, um den adipösen Kindern und Jugendlichen zu helfen: „Es gibt auf diesem Gebiet keine Kompetenzzentren zur Diagnostik und Therapie. Man braucht Zentren, die mit ausreichend qualifiziertem Personal ausgestattet und daher in der Lage sind, solche Kinder zu untersuchen und dann in die geeignete Behandlungsschiene zu bringen. Adipositas ist eine Krankheit mit meist mehrfachem Zweiterkrankungsrisiko, etwa Bluthochdruck oder Blutfetterhöhung, die man adäquat diagnostizieren und behandeln muss.“

Widhalm bietet an der Universitätskinderklinik das M-O-Programm (Morbid Obesity) an, mit dem adipösen Kindern umfassend geholfen wird: Am Anfang steht eine medizinische Abklärung: Leber und Niere, Herz und Gefäße der jungen Patienten werden untersucht. Zusätzlich wird ein psychologisches Profil erstellt. Außerdem lernen Eltern und Kinder von einem Ernährungsberater, wie man ein Ernährungsprotokoll erstellt, in dem alles, was die Kinder täglich essen, detailliert aufgelistet wird. Das Umfeld – meist das Elternhaus – wird einbezogen: „Wenn die Eltern nicht mitmachen, hat das Kind wenig Chancen auf einen langfristigen Erfolg“, meint Widhalm. Schließlich wird das Kind über acht bis zwölf Monate betreut: mit regelmäßigen psychologischen Therapien, konsequenter Ernährungsschulung; einmal wöchentlich werden die Kinder von einem Sporttherapeuten zur Bewegung motiviert.

Das ist nicht ganz billig: 240 Euro im Monat müssen Eltern in Wien für das
Programm bezahlen. Die Krankenkassen übernehmen meist nicht einmal einen geringen Teil der Kosten. Widhalm ist darüber erzürnt: „Die Krankenkassen scheinen nicht zu begreifen, dass Adipositas bei Kindern eine Krankheit mit schwer wiegenden Folgen ist, die man so früh wie möglich behandeln muss.“ Reinhard Marek, der ärztliche Direktor der Wiener Gebietskrankenkassen, will Widhalms Kritik so nicht hinnehmen: „Seine Therapie findet in Räumlichkeiten des AKH statt und ist deswegen über den Ambulanzvertrag zwischen Krankenkasse und AKH geregelt.“ Widhalm widerspricht: Er brauche zur Durchführung seines Programms eigens geschultes Personal, das auch extra finanziert werden müsse.

Deshalb können viele Eltern sich eine Langzeittherapie ihrer Kinder nicht leisten. Momentan absolvieren nur zwölf Kinder das M-O-Programm, obwohl noch Plätze frei wären. Zehn weitere Jugendliche mit schwerem Übergewicht werden im Rahmen des „Optifast“-Programms betreut, bei dem sie über Wochen nur nährstoffhaltige Getränke zu sich nehmen.

Schnelle Diät und kurzfristiges Abnehmen hält Widhalm für sinnlos: „Sechs Wochen im Diätlager ändern langfristig nichts. Mann muss eine kontinuierliche Änderung der Lebenseinstellung erreichen.“

Kontraproduktive Verbote. Man findet den Professor allerdings nicht nur an der Uni, sondern auch bei McDonald’s: „Bewegen und g’sund essen, auf die Auswahl kommt’s an“, wird Widhalm in einer momentan in allen österreichischen Filialen des Fast-Food-Konzerns aufliegenden Broschüre zitiert. Dazu gibt es „10 Tipps für ein gesünderes Leben“, die sich auch im Karton des neuen Gemüse-Mac finden.

Warum kooperiert ein Ernährungsmediziner mit einer Fast-Food-Kette? „Besser beeinflussen als ausgrenzen“, erklärt Widhalm. Außerdem: „Als Kinderarzt und Vater von drei Kindern weiß ich, wie kontraproduktiv Verbote sind. Kindern gefällt es dort.“ Also habe er beschlossen, sich zu engagieren und darauf zu drängen, bessere Produkte herzustellen: „Ich bin selber überrascht, dass McDonald’s da mitgemacht hat.“ Tatsächlich hat McDonald’s Österreich einen neuen, geschmacklich überarbeiteten Gemüse-Mac mit wenig Fett im Angebot – der alte wurde wegen fehlender Nachfrage schon vor Jahren wieder aus dem Sortiment genommen. Zudem kann man im bei Kindern beliebten Happy Meal nun auch die Pommes gegen eine Fruchttüte tauschen.

Aber welches Kind macht so etwas freiwillig? „Meine Tochter zum Beispiel“, sagt McDonald’s-Sprecherin Carola Ullrich-Purtscher, räumt aber ein, dass sie eine zweite Tochter hat, die nicht mit sich reden lässt. Bei McDonald’s scheint – nicht zuletzt auch unter dem Druck von Schadenersatzprozessen in den USA – ein Umdenkprozess eingesetzt zu haben. Das heurige internationale Motto lautet „eat smart be active“ und soll auch die Essgewohnheiten der 270.000 Österreicher, die McDonald’s täglich bewirtet, ändern. Selbst in den USA gibt es seit einem halben Jahr Salate auf dem Menü, in Europa werden sie demnächst als Hauptspeisen mit gegrilltem Fleisch angeboten. Dennoch waren, gesteht Ullrich-Purtscher, „die Speckwochen im Jänner der absolute Renner“. Neben Menümodifikationen unterstützt McDonald’s seit Jahren vor allem regionale Sportprojekte, und Ronald McDonald tourt durch Kindergärten, um Kinder zur Bewegung zu motivieren.

„Buffet-Erlass“. Selbst mit dem Gesundheitsministerium kooperiert McDonald’s seit kurzem – denn dort wird dem Thema Übergewicht und Adipositas Priorität eingeräumt. Einerseits wird im Rahmen des Vorsorgepasses für Jugendliche eine obligatorische Untersuchung mit 14 eingeführt, auf deren Basis Daten gesammelt werden können: „Als ich Ministerin wurde“, sagt Maria Rauch-Kallat, „habe ich mit Entsetzen festgestellt, dass es keine Daten gibt, und das sofort auf Schiene gebracht.“ Auch was den Umgang der Krankenkassen mit Adipositas betrifft, möchte Rauch-Kallat Druck machen: „Bei adipösen Kindern übernehmen die Kassen die Kosten bereits, bei schwer übergewichtigen sollten sie es tun.“ Andererseits wolle man verhindern, dass die Behandlungskosten explodieren, und konzentriere sich deshalb verstärkt auf Prävention. Unter anderem veranstaltet das Gesundheitsministerium Anfang Juli ein Symposion zum Thema „Übergewicht und Fettsucht: Zeitbombe im Gesundheitswesen“.

Auch im Unterrichtsministerium denkt man über Maßnahmen nach und unterstützt einerseits „Presto“, ein weiteres Projekt von Ernährungsmediziner Widhalm, in dem mit zwölf Schulklassen über zwei Jahre hinweg an der Lebenseinstellung
der Kinder in den Bereichen Fitness, Ernährung, Körperbewusstsein, Gesundheit und Lebensstil gearbeitet wird. Mit einem Folder über die „optimale Schuljause“ sollen die Eltern motiviert werden, ein „Buffet-Erlass“ zwingt die Schulbuffets zu einem Mindestangebot an empfehlenswerten Nahrungsmitteln.

Bei Martin kommen solche Maßnahmen zu spät. Er ist 14 Jahre alt, 1,59 Meter groß und wiegt 79 Kilo. Seit einem Monat nimmt er an Widhalms Programm teil. Seine Mutter wollte es. Sie selbst ist nicht dick. Ihr Mann auch nicht. Martins zwei jüngere Geschwister haben keine Gewichtsprobleme. Martin selbst war bis zum Schuleintritt normalgewichtig. In der zweiten Klasse fing Martin an zuzunehmen und hörte damit nicht mehr auf. Heute steht er in der Vorstufe zur Zuckerkrankheit, seine Leber ist vergrößert.

Martin kam mit seinem Gewicht einigermaßen zurecht: Seine drei besten Freunde sind auch dick, sagt Martin, „so um die 80 Kilo“. Die Kleidung ist ein Problem, weil es die Sachen, die er gerne anziehen würde, in seiner Größe nicht gibt. Er hat sich vorgenommen, zehn Kilo abzunehmen, obwohl er dann seine Lieblingsspeise, Chicken Wings, weit gehend streichen muss. Im Moment ist er im
„Optifast“-Programm. „Es wird hart“, sagt Martins Mutter. „Für uns alle. Aber ich bin sicher, dass er es schaffen wird.“

Saskia Drennig, klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, unterstützt Martin dabei. Sie betreut ihn und elf weitere Kinder. „Alles, was man gelernt hat, kann man wieder verlernen, das gilt auch für negative Verhaltensweisen.“ Die Kinder sollen verlernen, aus Frust und zur Belohnung zu essen. Verboten wird nichts, es soll eine flexible Verhaltenskontrolle erlernt werden: „Es bringt nichts, zu schwören, nie wieder Schokolade zu essen. Aber meist gelingt es, sich vorzunehmen, diese Woche nur drei Stück zu essen.“ Programme mit ähnlichen Schwerpunkten gibt es in fast allen Bundesländern. In Niederösterreich bietet das Gesundheitsforum ein dreiwöchiges Gesundheitscamp an, danach sollen die Kinder in zehn Monaten eine neue Einstellung zum Essen und zum Leben erlernen. Verlängert wird nicht. Projektleiterin Karin Lobner meint: „Wir sagen ihnen: Wir geben euch das Werkzeug in die Hand. Leben müsst ihr selber.“

Glückliche Dicke gibt’s nicht. Die 15-jährige Sarah bekommt ihr Werkzeug gerade: Sie ist 1,61 Meter groß, und im November wog sie noch 84 Kilo. Es ging ihr nicht gut. „Den glücklichen Dicken gibt es nicht“, sagt Sarah. „Ich kenn jedenfalls keinen.“ Das gilt auch, wenn man fürs Dicksein nicht einmal selbst verantwortlich ist: Sarah leidet am PCO-Syndrom, das zu Übergewicht führt, und muss jetzt lernen, dieses Krankheitsbild zu überlisten. Es geht ihr schon viel besser: Sie hat bereits neun Kilo abgenommen, kann sich ihre Hosen zwei Größen kleiner kaufen und hat ein Ziel: 50 Kilo. Ihre Familie unterstützt sie sehr, was gar nicht leicht ist: „Ich komme aus einer orientalischen Familie, da wurde bisher viel und fettreich gekocht.“ Aber ihre Mutter kocht nun bewusster und belohnt Sarah nicht mehr mit Essen, sondern zum Beispiel mit CDs. Sarah hat gelernt, dass sie alles essen darf, aber in ausgewogener Menge; dass sie viel trinkt, ihre Ernährung auf Kohlehydrate und Gemüse verlagert und Fleisch und Süßigkeiten stark reduziert, wie es die Ernährungspyramide empfiehlt. Und dass sie sich regelmäßig bewegt und Sport treibt.

Dinge, über die man nachdenken wird müssen: Die kindliche Adipositas ist nicht nur eine Krankheit, die man behandeln muss, sondern auch ein strukturelles soziales Versäumnis. „Wir schauen zu, wie unsere Kinder und Jugendlichen vor Spielautomaten, Computern und Fernseher verkümmern“, meint etwa Krankenkassen-Direktor Marek. „Da muss man ansetzen.“

Ernährungsmediziner Kurt Widhalm sieht das Grundproblem ähnlich. Was rät er Eltern, damit ihre Kinder nicht dick werden? „Ich gebe keine Tipps“, sagt Widhalm, „aber den Fernseher rauszuschmeißen und stattdessen Sport zu betreiben, wäre ein guter Anfang.“