Streitgespräch über Essen und Moral

Ernährung: „Sie werden nicht gleich tot umfallen“ – „Das ist es ja“

Erwin Wagenhofer und Wolfram Siebeck

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profil: Herr Wagenhofer, in Ihrem Dokumentarfilm „We Feed the World“ zeigen Sie die Grauslichkeiten der globalen Nahrungsmittelproduktion. Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch Gourmet sein?

Wagenhofer: Ich bin es wahrscheinlich nicht. Ich koche sehr viel selbst oder versuche, in einfachen Wirtshäusern gutes Essen zu bekommen. Mein eigentliches Anliegen ist aber, dass alle Menschen überall die Möglichkeit haben, gut zu essen – und nicht nur eine kleine Elite irgendwo. Das ist für mich der entscheidende Punkt.

Siebeck: Es gibt keine Egalität, weder beim Essen noch in der Bildung, in der Kunstbetrachtung, der Musik oder sonst irgendwo. Der Mensch ist nicht gleich, er unterscheidet sich. Er will sich auch unterscheiden. Und deshalb werden Sie niemals Gleichheit finden, auch wenn Lenin sagte, alle Russen sollen ein Pissoir haben. Das sind Utopien.

Wagenhofer: Dennoch geht langsam etwas voran. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es heute genügend Nahrungsmittel für alle Menschen. Laut einem Bericht der FAO, der Food and Agriculture Organization der UNO, könnten heute zwölf Milliarden Menschen ernährt werden. Parallel dazu steigt aber die Zahl der Hungernden. Es geht darum, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen – nicht darum, dass alle ins Steirereck essen gehen müssen.

Siebeck: Mir ist auch klar, dass die Gefahr einer Hungersnot durch die Erfindung des Kunstdüngers schon im 19. Jahrhundert beseitigt worden ist. Dazu kommt noch die Technik der Konserve. All das hat dazu beigetragen, dass eine Hungersnot eigentlich nicht mehr vorkommen kann. Dass sie trotzdem vorkommt, immerzu, ist eine andere Sache. Das sind Verteilungsprobleme.

Wagenhofer: Von den 850 Millionen Menschen, die laut UN-Statistik hungern, leben die meisten in Ländern, in denen es genug zu essen gibt. Das ist das Drama. Wir essen den Brasilianern und den Indern ihre Nahrungsmittel weg. Ein Teil des Getreides, aus dem die Schweizer ihr Brot backen, kommt aus Indien, wo Millionen hungern.

Siebeck: Das liegt natürlich auch an den Strategien der globalen Konzerne. Da wird sehr willkürlich organisiert, wie die Nahrungsmittel verteilt werden. Die Versorgung hängt nicht davon ab, ob in einem bestimmten Land etwas wächst oder nicht, sondern von einer gewinnorientierten Strategie.

Wagenhofer: Und genau dagegen kämpfe ich. Ich will ja gar nicht, dass die Brasilianer das Gleiche essen wie wir oder dass in unserer Gesellschaft alles gleichgeschaltet wird, nein – es gibt ja unterschiedliche Typen. Es will auch nicht jeder eine Führungsposition einnehmen. Es gibt genauso Leute, die lieber eine ruhige Kugel schieben wollen, während andere für ihr Ego ununterbrochene Leistung benötigen. An dieser Form der Gleichheit ist bekanntlich auch der so genannte reale Sozialismus gescheitert.

profil: Herr Siebeck, Sie sind vor Jahrzehnten angetreten, Ihren Lesern ein besseres Essen zu zeigen, mit einfachen, unverfälschten Produkten wie Wirsing und Lauch, Fisch oder Lamm und den bis dahin in der deutschen Kochkultur ungeliebten Saubohnen.

Siebeck: Das ist zur Massenbewegung geworden.

profil: Inzwischen sind Sie selbst allerdings aufs Exotische umgeschwenkt. In Ihren Kochwettbewerben werden neuerdings Innereien prämiert, die man sich illegal besorgen muss, oder Sie loben irgendwelche asiatischen Gewürzmischungen.

Siebeck: Mit den asiatischen Gewürzmischungen hab ich es selbst gar nicht so sehr. Aber was die Innereien angeht, von denen Sie reden, müssten Sie gerade in Österreich sehr aufpassen, dass nicht das Gleiche geschieht wie in Deutschland, wo viele von diesen Innereien nicht mehr verkauft werden dürfen. In Österreich gehören Beuschel oder Hirn mit Ei zur normalen Küche, das ist nichts Exotisches. Für mich besteht die Schweinerei darin, dass es in Deutschland unmöglich gemacht wird, solche Dinge zu essen, weil immer alles von Bürokraten verordnet werden muss. Zum Beispiel kriegen Sie eine Kalbsniere nur ausgelöst, nicht mit dem Fett rundherum. Normalerweise ist eine Kalbsniere ein enormer Klotz Fett. Die sieht aus wie ein Brocken, aus dem ein Holzschnitzer einen Jesuskopf schnitzen könnte. Und wenn Sie den in den Ofen schieben und 40 Minuten braten, dann haben Sie den köstlichsten Kalbsnierenbraten, den es gibt. Aber der ist verboten in Deutschland, weil bei jeder Niere, die aus dem Kalb genommen wird, schon ein Veterinär dasteht und sie aufschneidet und nachsieht, ob da eine Handgranate drinnen ist oder so. Das ist doch Schwachsinn.

Wagenhofer: Das habt ihr euch aber verbieten lassen. Die Franzosen würden sich das nie gefallen lassen.

Siebeck: Sogar in Frankreich wird es schlimmer. Auf den Bauernmärkten darf dort kein Käse mehr offen auf dem Tisch angeboten werden. Wir wohnen ja im Sommer dort, und ich sehe mit wachsendem Unglauben, was aus dieser vitalen Fressnation geworden ist. Das sind inzwischen genauso angepasste EU-Bürger wie wir. Was schade ist. Denn es geht, um wieder auf das Thema zurückzukommen, nur um die Qualität der Produkte, das ist alles. Nehmen Sie das einfachste aller Nahrungsmittel, das Wasser. Mir ist wichtig, dass ich das aus dem Wasserhahn trinken kann – und das kann ich in Mitteleuropa, und meist schmeckt es auch noch gut.

Wagenhofer: Ja, in den Bergen. In den Städten können Sie das sicher nicht.

Siebeck: In Wien sehr wohl.

Wagenhofer: In Wien kommt ein Teil des Wassers aus den Bergen, allerdings nur bis zur Donau. Unter der Donau wurden keine Leitungen gebohrt. Über der Donau, im 21. und 22. Bezirk, kommt das Wasser aus dem Marchfeld. Und das ist ganz schlecht. Weil es kaputt gemacht wurde durch die Lebensmittelproduktion und den Gemüseanbau. Auch in anderen Großstädten, in Rom, in Paris, können Sie kein Wasser aus der Leitung trinken. Klar: Sie werden nicht gleich tot umfallen.

Siebeck: Das ist es ja. Von dem ganzen Mist, der uns ins Essen gepackt wird, sterben wir nicht. Wir sind regenerierungsfähig wie die Ratten. Aber deshalb interessiert mich an dieser ganzen Lebensmitteldiskussion die gesundheitliche Frage auch nicht so sehr. Ob da nun Rückstände enthalten sind, ist mir ziemlich egal. Aber wenn es nicht schmeckt, da bin ich konsequent, dann ab in den Müll damit. Diese Industriehühner in Ihrem Film – ich glaube, so ein Huhn habe ich schon seit dreißig Jahren nicht mehr gekauft.

Wagenhofer: Diese Hühner sind noch relativ in Ordnung im Vergleich zu dem, was in vielen Spitälern verkocht wird. Oder was der normale Bauarbeiter täglich isst, also Menschen, die die schwerste Arbeit leisten. Für die gibt es die billigsten Würste, mit einer Zwiebel, mit zehn Semmeln und Senf, dazu noch das allerbilligste Bier aus der Dose. Dagegen bin ich.

profil: Nun gibt es die Theorie, dass wir als Konsumenten an dieser Misere selber schuld sind, weil wir durch unser Kaufverhalten über die Qualität der Produkte entscheiden könnten. Aber haben die Konsumenten das Geld, die Zeit und die Information, um eben das genießen zu können, was Sie, Herr Siebeck, uns so schmackhaft machen?

Siebeck: Natürlich ist bessere Qualität teurer als durchschnittliche oder schlechte Qualität. Aber das haben Sie überall, bei Uhren, bei Autos, bei Kloschüsseln. Die bessere Qualität muss zwangsläufig teurer sein. Wenn ich ein Bressehuhn kaufe, kostet das inzwischen 27 Euro das Kilo.

Wagenhofer: Ich weiß nicht einmal, was ein Presshuhn ist.

Siebeck: Bressehühner sind die einzige Art von Hühnern, die Sie bedenkenlos essen können. Sie kommen aus einem ganz bestimmten Gebiet, nämlich der Bresse, südöstlich von Lyon.

Wagenhofer: Verstehe. Und das kostet 27 Euro pro Kilo?

Siebeck: Ja, denn die Hühner werden dort ganz behutsam aufgezogen und nicht gemästet, sondern gefüttert, und deshalb kosten die eben mehr.

Wagenhofer: Trotzdem kann ich diesem ökonomischen Argument nicht zustimmen. Sie haben Recht, dass es unterschiedliche Qualitäten mit unterschiedlichen Preisniveaus gibt. Dabei vergessen Sie aber, dass die Produzenten, auch für diese Bressehühner, mit großzügigen Subventionen gestützt werden müssen, um überhaupt existieren zu können. Diese Bauern überleben dank der Subventionen und nicht durch den Verkauf der Hühner – nur dann würde Ihr Argument stimmen. Das bedeutet aber, dass letztlich die Steuerzahler die lebensmittelproduzierenden Unternehmungen fördern. Und wo kommen diese Steuern her? Die Konzerne zahlen im Verhältnis jedenfalls die geringsten Steuern, das können Ihnen die von Nestlé ganz genau sagen.

Siebeck: Das wissen wir.

Wagenhofer: Und genau das ist auch das Drama. Darum hinkt das Argument mit der Qualität und dem Preis.

Siebeck: Aber der einzelne Verbraucher hat immer noch die Möglichkeit des Boykotts. Und boykottieren kann und muss man.

Wagenhofer: Genau. Leider funktioniert das in Deutschland und Österreich weniger gut als etwa in Frankreich. Nur wenn nichts mehr auf den Tisch kommt, gibt es hier eine Revolution, sonst nicht. Das hängt wohl auch mit der Nachkriegsgeneration zusammen, die gegessen hat, was sie bekommen konnte, und am liebsten natürlich Fleisch, weil man das eben am seltensten bekam. Mein Vater ist daran gestorben. Er ist an Darmkrebs gestorben, und er hat am liebsten nur Fleisch gegessen. Ein Essen ohne Fleisch war für ihn überhaupt kein Essen. Das hat ihn umgebracht. Wir hier gehören ja einer Elite an, wir schreiben für Zeitungen, wir machen Filme, wir fotografieren. Die meisten Leute aber sitzen in Fabriken und müssen stumpfe, industrialisierte Tätigkeiten verrichten, und dazu passt wunderbar, wie sie verköstigt werden. Das Essen kommt von irgendwoher, ist ein Einheitsbrei, der irgendwie satt macht, und das war’s dann.

Siebeck: Aber warum?

Wagenhofer: Weil der gerade beschriebene Industriemensch gar nicht die Möglichkeit zum Boykott hat. Weil er, wenn er sich weigert, seinen Job verliert. Und das wird verinnerlicht. Ein Beispiel: Ich habe gerade in Afrika gedreht und war mit einem afrikanischen Chauffeur unterwegs in Burkina Faso. Das Hauptnahrungsmittel dort ist eine Art Hirsebrei. Ich habe ihn gekostet, und man kann ihn wirklich kaum essen. Ich habe ihn wieder ausgespuckt. Anschließend waren wir in Ghana in einer amerikanischen Goldmine. Dort gab es eine wunderbare Küche. Und unser Chauffeur hat nichts davon gekostet. Wissen Sie, was er gegessen hat?

Siebeck: Wahrscheinlich Hirsebrei.

Wagenhofer: Ja, und genauso läuft es auch bei uns. Sie brauchen sich nur anzusehen, was die Leute in den Diskontmärkten einkaufen.

Siebeck: Nur Mist, absoluten Schund, davon aber so viel, dass es erst recht wieder teuer wird. Diese Leute könnten sich das ja eigentlich nicht leisten, diesen Mist, die billigste Schokolade, Knabberzeugs, Gesalzenes, Kartoffelchips und Limonaden. Kinder, die mit Limonaden abgefüttert werden – das ist doch schon Körperverletzung.

Wagenhofer: Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt einfach nicht. Wenn Sie eine Packung Chips auf die Kosten für die Grundprodukte hochrechnen, müsste das Kilo Kartoffeln 14 Euro kosten. Dafür bekommen Sie die besten Biokartoffeln der Welt. Dasselbe bei den Joghurts. Da sind wir schnell bei 20 Euro für einen Liter saure Milch.

Siebeck: Plus einen Tropfen Kunstaroma.

profil: Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Siebeck: Wenn Nestlé-Konzernchef Peter Brabeck in Ihrem Film sagt, das Wasser müsste auch bewirtschaftet werden …

Wagenhofer: Herr Siebeck, das müsste nicht, das ist schon. Es gibt Gegenden, in denen man nur Nestlé-Mineralwasser trinken kann.

Siebeck: Eben deshalb müsste man hingehen und nachsehen, ob etwas von Nestlé ist, und es dann nicht kaufen.

Wagenhofer: Das können Sie nicht. Erstens ist das bei 8000 Produkten unmöglich. Und zweitens erkennen Sie es gar nicht. Wir trinken gerade San-Pellegrino-Mineralwasser. Und wem gehört das? Nestlé. Und das steht nicht drauf. So funktioniert doch die ganze Globalisierung. Um einmal Jean-Jacques Rousseau zu zitieren: „Ihr seid verloren, wenn ihr nicht versteht, dass die Früchte allen und der Boden niemandem gehört.“ Das wäre auch meine Hauptthese. Ich will, dass jeder Zugang zu diesen Früchten hat, von denen es obendrein noch genügend gibt. Und alles, was ich dafür tun kann und auch mache, ist eben Aufklärung.

Siebeck: Aufklärung, natürlich. Da bin ich jetzt zum Schluss doch ganz bei Ihnen.

Moderation: Horst Christoph