Doniger: „Es gibt keinen Wettbewerb“

„Es gibt keinen Wettbewerb“

Herausgeberin der neuen Kamasutra-Übersetzung

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profil: Seit über hundert Jahren wird das Kamasutra immer wieder mit den falschen Erwartungen studiert. Mit welchen Erwartungen sollte man Ihre Neuübersetzung lesen?
Doniger: Ich hoffe, dass man mit dieser Ausgabe endlich erkennen kann, dass das Kamasutra nicht nur ein Buch über Sexualität, sondern ein Buch über ein „gutes Leben“ ist.
profil: „Gut“ in welcher Hinsicht?
Doniger: Es geht dabei vor allem um Muße: Die Welt des Kamasutra ist die Welt von Menschen, die sich Vergnügen leisten können. Sex ist dabei Teil eines lustbetonten Lebensstils, der auch gepflegtes Essen oder schöne Kleidung umfasst. Es ist ein privilegiertes Leben, in dem alle Sinne verwöhnt werden. Das Kamasutra beschreibt dieses Leben in wundervollen Details, die auch heute noch sehr relevant sind. Schließlich gibt es heute viel mehr Freizeit als noch vor wenigen Jahren, und Menschen machen sich dementsprechend mehr Gedanken über ihre Freizeit. Genau darum geht es im Kamasutra. Sex ist darin nur ein Baustein – ein wichtiger Baustein natürlich.
profil: Heute sieht es aber so aus, als würde Sex für viele Leute zu einer Belastung, weil Lust derart zum Wettbewerb hochstilisiert wird – und damit für Stress auch in der Freizeit sorgt.
Doniger: Das ist eine Schande. Vielleicht kann das Kamasutra hier ein kleines Umdenken bewirken. Denn das Kamasutra betont die Individualität. Es gibt keine Vorschriften, wie lang etwas dauern muss und wie es zu geschehen habe. Manche machen es so, manche ganz anders. Es gibt da keinen Wettbewerb. Es gibt nur das, was einem selbst und dem Partner Freude macht.
profil: Eine sehr moderne Weltsicht.
Doniger: Für seine Zeit ist das Kamasutra tatsächlich höchst liberal – gerade was die Wünsche der Frauen anbelangt. Denken Sie nur an die Hervorhebung des weiblichen Orgasmus. Im dritten Jahrhundert nach Christus! Das ist erstaunlich. Ähnlich liberal ist es auch hinsichtlich der Homosexualität. Da wird nichts als krank oder abscheulich bezeichnet geschweige denn bestraft.
profil: Auch mit sexuellen Rollenmustern scheint das Kamasutra zum Teil recht locker umzugehen.
Doniger: Was die Gender-Problematik betrifft, ist das Kamasutra prinzipiell eher konservativ. Immer wieder wird die physische Differenz zwischen Männern und Frauen betont. Andererseits aber heißt es dezidiert, dass es auch sehr anregend sein kann, die Rollen zu tauschen, in einer sehr spielerischen Art und Weise.
profil: In welchem Ausmaß kann das Kamasutra, 1600 Jahre nach seiner Entstehung, noch relevant sein? Anders gefragt: Wie universell ist Sexualität?
Doniger: Was ich am interessantesten finde, ist die Art, wie das Kamasutra für den modernen Leser von einem Punkt zum anderen springt. Da gibt es Aspekte, die sich von unserer Gegenwart nicht wesentlich unterscheiden, etwa was das Flirten betrifft. Und auf der nächsten Seite stehen Dinge, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie jemals jemand wirklich getan hat.
profil: Lassen Sie uns spekulieren: Was würde Vatsyayana über die Sexualmoral unserer Zeit sagen?
Doniger: Er würde es abstoßend finden. Gerade die Kombination von extremer Prüderie – mit Antiabtreibungs- und Antischwulenbewegungen – und extrem aggressiver Sexualisierung – bis hin zu Sexsklaverei und Kinderpornografie. Vatsyayana ist kein Perverser. Ihm ist vor allem eines wichtig: dass niemand verletzt wird, dass niemand zu etwas gezwungen wird, was er oder sie nicht will. Vergewaltigung, das Schlagen von Frauen – all das ist seiner Idee von Sexualität grundlegend fremd, für die der wechselseitige Genuss im Zentrum steht.
profil: Hochinteressant ist ja auch die Tatsache, wie nahtlos Sexualität im Kamasutra in eine Art philosophisches Denken eingebunden wird.
Doniger: Ich würde es nicht philosophisch nennen – es ist wohl eher ein soziales Denken. Aber natürlich gibt es auch wahnsinnig viel Theoretisches im Kamasutra, es gibt wundervolle Stellen über die Natur des Menschen und was ihn vom Tier unterscheidet. Man muss sich immer darüber im Klaren sein, dass gerade das spirituelle Leben der Zeit sexuell sehr aufgeladen war. Die Geschichten über das Liebesleben der Götter waren omnipräsent, die entsprechenden Darstellungen sind noch heute auf den Tempeln zu sehen. Sexualität war Teil des religiösen Lebens, kein Gegensatz zu ihm, wie wir es aus der abendländischen Tradition kennen. Auch wenn wir natürlich nicht vergessen dürfen, dass auch das Christentum seine enorm sexuellen Seiten hat.