Darf man Tiere töten?

Ernährung. Der Streit der Ideologien um unsere Ernährung

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Von Sebastian Hofer und Stephanie Schüller

Es war spät und das Plenum schon ein bisschen schläfrig, als Johannes Schmuckenschlager ans Rednerpult trat. Freitag, der 8. Juli, kurz nach acht Uhr abends: Der österreichische Nationalrat nähert sich der Sommerpause, und Schmuckenschlager kommt in Fahrt. Nach einem ausführlichen Exkurs über das ­österreichische Weingesetz und dessen Feinheiten in Fragen des Kellerbucheintrags und der Spritzmittelaufzeichnung nähert sich der niederösterreichische Winzer und VP-Hinterbänkler mit einem überraschenden Themenwechsel dem Wesentlichen. „Die Schweinebranche fordert keine Sonderregelungen, sie verlangt lediglich ihr Recht!“, donnert Schmuckenschlager in den Saal, in dem seine Klubkollegin Maria Rauch-Kallat gerade um ihr Recht auf eine Abschiedsrede bangt: „Die gesamte Branche stellt nicht die Bitte, sie stellt die Forderung, die Produktionsmethoden nicht zu verschlechtern. Der Markt ist ohnehin schwierig genug.“ Beifall von den Parteikollegen, Zwischenrufe vom Koalitionspartner, keine Redezeit mehr für Rauch-Kallat.

Schmuckenschlagers Mahnruf kam nicht von ungefähr. Die Schwierigkeiten der österreichischen Schweinebranche erschließen sich dem Laien ja wirklich nicht sofort. Auf den ersten Blick handelt es sich um ein durchaus florierendes Geschäft. Laut Statistik Austria wurden im Vorjahr in Österreich exakt 5,633 Millionen Schweine geschlachtet. Das sind 35.300 mehr als im Jahr davor und entspricht einem Gesamtvolumen von 546.000 Tonnen Fleisch – pig business, indeed. Auch die Rinder-, Hühner- und sonstigen Tierbranchen legten zuletzt respektable Zuwächse hin. Insgesamt traten 2010 in Österreich 72,3 Millionen Hühner, 625.000 Rinder, 77.500 Kälber, 266.000 Schafe und Lämmer, 45.200 Ziegen und Kitze sowie 947 Pferde, Fohlen und andere Einhufer vor ihren Metzger. Macht fast 80 Millionen Tiere, die allein in Österreich zu Schnitzerln, Leberkäse oder Rindssuppen wurden – über 9000 pro Stunde.

Aber was berechtigt den Menschen eigentlich dazu, andere Lebewesen derart massenhaft zu töten? Ist das noch Ernährung oder doch schon Barbarei? Die Frage, die bis vor wenigen Jahren nur im engeren Kreis der politisch engagierten Tierschutzbewegung diskutiert wurde, erreicht zunehmend die Mitte der Gesellschaft. Bücher zum Thema, allen voran Jonathan Safran Foers „Tiere Essen“, stehen ganz oben auf den Bestsellerlisten. Immer mehr Menschen ist es immer weniger egal, was sie essen und, vor allem, woher ihre Mahlzeit stammt. Zwar bekennt sich nach wie vor nur eine kleine Minderheit zum Vegetarismus (je nach Studie zwischen drei und zehn Prozent der Bevölkerung), doch das Problembewusstsein steigt messbar und markant. Im Schulbereich gehen die großen Cateringbetriebe heute bereits von einer Vegetarierquote von rund 20 Prozent aus. In den USA gaben in einer Umfrage 18 Prozent der College-Studenten an, sich ausschließlich fleischlos zu ernähren. Die Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler spricht von einer „vegetabilen Revolution“.

Das Wort ist keineswegs zu hoch gegriffen. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten vegetarischen Gesellschaften gegründet wurden, berichtete „Meyers Conversations-Lexicon“ noch von einer „Sekte aus England“, die zweifelhaften Aposteln folge. Diese Einschätzung hielt sich für die nächsten hundert Jahre. Vor allem im deutschen Sprachraum war der Fleischverzicht eng mit der Lebensreformbewegung des 19. Jahrhunderts assoziiert, deren antimoderne, teils nationalistische Ideologie wesentlich dazu beitrug, Vegetarier als sektiererische Spinner erscheinen zu lassen. Heute hingegen taugen radikal tierschützerische Positionen durchaus zum gepflegten Businesslunchthema, zum Feuilletonbeitrag sowieso. Iris Radisch fragte sich in der „Zeit“: „Was, wenn wir uns einfach geirrt haben? Ist es möglich, dass, was seit Jahrtausenden als normal gilt, dennoch ein ungeheures Unrecht ist?“ Ihre unzweideutige Antwort: „Ja, es ist möglich.“ Christian Zaschke assistierte im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“: „Wir sind und bleiben Fleischfresser – trotz aller Brutalität im Umgang mit dem lieben Vieh. Ist das menschlich oder einfach dumm?“

In erster Linie ist es ganz normaler Alltag.
Jeder Österreicher isst pro Jahr exakt 100 Kilogramm Fleisch. Weltweit gehen rund 450 Milliarden Landtiere jährlich durch den nahrungsmittelindustriellen Kreislauf von Aufzucht, Mast und Schlachtung. Ein Drittel der Landfläche der Erde wird für die Fleischindustrie genutzt. Die ökologischen Konsequenzen der Massentierhaltung sind enorm, die moralischen Fragen, die sie aufwirft, ziemlich schmerzhaft.

„Wir leugnen oft, dass nichtmenschliche Lebewesen irgendeine moralische Bedeutung haben, dass ihr Leiden eine Rolle spielt. Dafür gibt es absolut keine Rechtfertigung“, sagt der australische Bioethiker Peter Singer. Singer, er lehrt an der Princeton University, begründete mit seinem Bestseller „Animal Liberation“ 1975 die moderne Tierrechtsbewegung und eröffnete die zeitgenössische Debatte, welche moralischen Gesetze für den menschlichen Umgang mit Tieren zu gelten haben. Singer erklärte das jahrhundertealte Argument, dass der Mensch eben Mensch sei und Tiere nur Tiere, für moralisch unredlich und ungeeignet, die moderne, massenindustrielle Behandlung von Lebewesen zu rechtfertigen. Die gängige Vorstellung von der menschlichen Überlegenheit gegenüber Tieren – dass der Mensch über ein Selbstbewusstsein verfüge, über Vernunft, über einen Sinn für seine Inter­essen und seine Zukunft – führe nicht zuletzt deshalb ins Leere, weil es eben auch Menschen gäbe, die nicht über diese Eigenschaften verfügen (etwa Kleinkinder oder Komapatienten) und denen trotzdem niemand ihr Menschsein absprechen würde. Aus streng moralischer Sicht bleibe, so Singer, allein die Leidensfähigkeit eines Lebewesens als Kriterium und sein Interesse, eben nicht zu leiden.

Und zumindest in diesem Punkt bestehen heute keine Zweifel mehr: „Mit Sicherheit kann man sagen, dass alle Wirbeltiere schmerzempfindungsfähig beziehungsweise leidensfähig sind“, erklärt Regina Binder vom Institut für Tierhaltung und Tierschutz der Veterinärmedizinischen Universität Wien: „Zum Teil gilt das sogar für wirbellose Tiere wie Krustentiere oder Kopffüßer, von denen man lange annahm, dass sie keine Schmerzen empfinden können, weil ihnen ein Zentralnervensystem fehlt.“ Was dieses Wissen für den menschlichen Umgang mit Tieren bedeutet, bleibt trotzdem interpretationsbedürftig. Auch unter Tierethikern sind wesentliche Fragen ungeklärt, vor allem aber diese: Wie radikal muss Tierethik sein? Darf man, ja muss man graduelle Unterschiede zwischen Mensch und Tier, zwischen Tier und Tier machen? Ist in Tierschutzfragen vielleicht doch nicht alles schwarz oder weiß? Der Priester, Theologe und Tier­ethiker (und ehemalige profil-Redakteur) Wolfgang Kimmel fasst das Dilemma der Zunft so zusammen: „In manchen Konsequenzen wird die Moraltheorie schlicht wirklichkeitsfremd. Einigen Tier­ethikern fällt es sogar schwer, zwischen der Tötung eines Hamsters und der eines Menschen zu unterscheiden. Das tut der Sache nichts Gutes.“ Außerdem sei diese Sache übrigens keineswegs nur eine Frage der Tiere: „Eigentlich geht es in der Tier­ethik zu 80 Prozent um den Menschen.“

Denn die Frage: Welche Tiere wollen wir essen?
führt verlässlich zu einer zweiten Frage: Welche Menschen wollen wir sein? Und zu einer dritten, noch wesentlicheren: Was macht uns eigentlich zum Menschen, was unterscheidet uns vom Tier? Paradoxerweise kommt gerade hier dem Fleischkonsum eine maßgebliche Rolle zu. Abgesehen von der rein biologischen Tatsache, dass erst das Fleisch den frühen Menschen zum Menschen machte (indem die üppige Proteinzufuhr sein Gehirnvolumen entscheidend vergrößerte), haben auch Kultur und Zivilisation ihren Ursprung am Lagerfeuer. Der US-Journalist Michael Pollan beschreibt in seinem Buch „The Omnivore’s Dilemma“ die Probleme des Allesfressers: Weil der Mensch potenziell alles essen kann, muss er wohl oder übel auch darüber nachdenken, was er isst und warum. Die Grenzenlosigkeit unseres Appetits hätte demnach die Zivilisierung befeuert, eben weil sie einen Bedarf nach Regeln weckte, nach Ritualen und ethischen Grundsätzen.

Dazu kommt die soziale Bedeutung des Fleischkonsums. Wir essen nur selten allein, Nahrung ist auch gesellschaftlicher Kitt. Der Sonntagsbraten im Kreis der Familie ist nicht nur ein romantisches Klischee, sondern auch eine ganz reale, prägende Kindheitserfahrung. Der Vegetarier Jonathan Safran Foer schreibt dazu: „Auf den Geschmack von Sushi oder von Brathuhn zu verzichten ist ein Verlust, der darüber hinausgeht, eine angenehme ­kulinarische Erfahrung aufzugeben. Unsere Ernährung zu verändern und einen Geschmack aus unserer Erinnerung zu löschen ist auch ein kultureller Verlust.“

Kultur schön und gut – für viel entscheidender hält der gelernte Schnitzelfan trotzdem die Frage, ob der Fleischverzicht nicht auch und vor allem ein gesundheitliches Defizit mit sich bringe. Denn schön wäre es ja, so als Rechtfertigung: Der Mensch muss Tiere töten, einfach weil er muss, weil er sonst nicht recht überleben könnte. Kann er aber: „Eine rein vegetarische, ausgewogene Ernährung inklusive Milch und Milchprodukten ist nicht nur unbedenklich, sondern schützt sogar vor Zivilisationskrankheiten“, sagt die Wiener Diätologin Manuela Korntheuer. Nur im ersten Lebensjahr bräuchten Kleinkinder auch fleischliche Nahrung. „In diesem Alter werden die Eisenspeicher aufgefüllt. Dazu braucht es Fleisch. Das gilt auch für das Vitamin B 12, das der Mensch im Säuglingsalter für die Entwicklung seiner Nervenfunktionen braucht. Kinder in diesem Alter rein vegetarisch oder gar vegan zu ernähren wäre fahrlässig. Dabei kann es zu massiven Mangelerscheinungen kommen.“

Theresa Bäuerlein
, Journalistin und Autorin aus Bonn, aß als Kind nach eigenen Angaben „nur Wurst“. Bis zu diesem einen Tag, es war kurz nach ihrem zwölften Geburtstag, als sie ein Konzertvideo des Vegetariers Paul McCartney sah. Es endete mit einer eindrücklichen Abbildung massenindustriellen Tierleids. „Ab diesem Tag war ich Vegetarierin.“ Und blieb es, jahrelang. Heute isst die 30-Jährige gelegentlich wieder Fleisch. Warum sie das auch aus streng moralischer Perspektive verantworten kann, erklärt Bäuerlein in ihrem aktuellen Buch „Fleisch essen, Tiere lieben“. „Es ist nicht immer besser, pflanzliche Produkte zu essen“, meint sie im Gespräch mit profil: „Als Vegetarier sieht man oft nur das Tier vor sich, das leidet und stirbt. An diesem emotionalen Ansatz ist grundsätzlich nichts falsch. Aber man muss eben auch sehen, dass man den Tod von Lebewesen selbst mit einer vegetarischen oder veganen Ernährung nicht verhindern kann. Man kann sich nur entscheiden, ob man ihn direkt oder indirekt verursacht.“

Denn Sojaburger und Schnitzel sind, so Bäuerlein, im Zeitalter der globalisierten Nahrungsmittelindustrie nur zwei Seiten desselben Tellers. Auch der Gemüse- und Getreideanbau fordert tierische Opfer, und zwar keineswegs nur per Pestizideinsatz. Auch Bio-Dünger basieren auf Tierbestandteilen, ganze Ökosysteme werden durch Ackerbauflächen verdrängt und vernichtet. „Auch ein Veganer isst Lebensmittel, die auf der Basis von toten Tieren produziert werden. So funktioniert die Natur nun einmal. Es ist wichtig, moralisch zu denken. Aber man darf sich deshalb nicht in eine Scheinwelt begeben. Die Unterscheidung, die mir zentral erscheint, ist nicht die zwischen tierischer oder pflanzlicher Ernährung, sondern die, ob bei der Produktion mehr zerstört oder mehr aufgebaut wird“, sprich: ob Nahrungsmittel aus industrieller oder nachhaltiger Produktion stammen. „Es gibt einfach kein schlüssiges Argument dagegen, Tiere nachhaltig aufzuziehen und, in Maßen, auch zu schlachten“, sagt Bäuerlein und führt als Zeugen die Tierrechtsikone Peter Singer ins Treffen: „Selbst Singer sagt: Falsch am Töten von Tieren ist nicht das Prinzip, sondern die Praxis.“

Auf diesen Grundsatz können sich überraschend viele Tierrechtler einigen. Erwin Lengauer, Philosoph und Bioethiker an der Uni Wien, sitzt in einem Gastgarten in Wien, wagt einen Blick auf die Speisekarte („Saure Wurst mit Zwiebel – das habe ich früher wahnsinnig gern gegessen!“) und erläutert seine Vorbehalte gegen den Tierrechtsradikalismus: „Wenn man die Evolutionstheorie akzeptiert, wird man zu dem Schluss kommen, dass auch der Mensch ein Tier ist. Dennoch wäre es absurd zu behaupten, dass meine Kaninchen den Tod in gleicher Weise erfahren wie ein Mensch. Der Tod bedeutet Tieren etwas anderes als Menschen. Wer das nicht akzeptiert, ist ganz schnell beim Vergleich von Massentierhaltung und Holocaust – was natürlich völliger Irrsinn ist.“ Selbstverständlich gebe es viele plausible Gründe, keine Tiere zu essen – Lengauer selbst lebt annähernd vegan („Nur auf Käse zu verzichten ist manchmal schwierig“). Deshalb aber die 90 Prozent der Bevölkerung zu verdammen, die nicht auf Fleisch verzichten mögen, hält er trotzdem für verfehlt. „Solange die soziale Wirklichkeit so ist, wie sie ist, sehe ich meine Aufgabe als Bioethiker darin, zur Reflexion anzuregen, Alternativen aufzuzeigen und, auch wenn das zynisch scheint, die Tötung von Tieren gewissermaßen zu perfektionieren.“ Das sieht auch der Zürcher Jurist und ehemalige Tieranwalt Antoine Goetschel ganz ähnlich: „Früher glaubte ich, je kleiner ein Betrieb ist, desto besser geht’s den Kühen. In meiner Praxis musste ich zu meinem Erstaunen bemerken, dass es bei kleineren Betrieben sogar mehr Beanstandungen gab. Darum möchte ich auch ein wenig vor der Romantik des ‚Small is beautiful‘ warnen.“

Die bittere Pointe der aufgeklärten Tierrechtsdebatte klingt wohl tatsächlich so: Je reibungsloser Schlachthäuser funktionieren, desto besser für die Tiere. Ob uns das schmeckt oder nicht – es gilt das alte Brecht-Wort: Erst kommt das Essen, dann die Moral.