Lebensmittel-un(v)erträglichkeiten

Essensvernichtung. Warum jeder fünfte Einkauf auf dem Müll landet

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Für seinen Lebensmitteleinkauf gibt der 24-jährige Boku-Student Andreas F.*) monatlich im Schnitt 30 Euro aus, der Großteil davon wird in Bier und Schokolade investiert. Das, was er zum Essen braucht, fischt er sich aus den Abfallcontainern der Supermärkte. Die Zugangsmethoden zu den oft versperrten Müllräumen sind in der Community längst bekannt und nahezu ein Kinderspiel. Im täglichen Müll verbirgt sich ein veritables Gratis-Schlaraffenland: Paletten mit kaum beschädigten Früchten und Gemüse, Joghurts, die schon Tage vor Ablauf ihrer Mindesthaltbarkeit entsorgt wurden, Butter- und Fleischberge, abgepackte Toastwecken. Auch der Rest seiner fünfköpfigen Wohngemeinschaft lebt vom entsorgten Überfluss einer Konsumgesellschaft, in der laut EU-Schätzungen jeder fünfte Einkauf komplett auf der Kippe landet. Anfangs musste Andreas noch eine kleine Hemmschwelle überwinden, um ekelfrei in den Abfall zu greifen, inzwischen gehört das "Dumpstern“ für den Studenten, der auf dem Grund und Boden seiner Großeltern einmal eine biologische Landwirtschaft betreiben will, zum Alltag: "Ich verlasse die Wohnung nie ohne zwei, drei Plastiksackerln im Rucksack, am Abend schaue ich oft noch bei einem Container vorbei. Es gibt in Wien eine Filiale eines Bio-Supermarkts, wo sogar der Zugang unversperrt bleibt, damit man sich ohne Probleme bedienen kann. Diese Kette wird auch beim Müll ihrem Bio-Image gerecht - im Gegensatz zu den anderen Supermärkten, wo meistens alles im Restmüll durcheinandergeworfen wird und die Biotonnen leer bleiben, findet sich dort fast nur Gemüse und Obst im Abfall.“ In der WG wird nach dem Motto "Gegessen wird, was gefunden wurde“ gekocht: "Meistens Eintöpfe, wir ernähren uns fast alle vegetarisch, machen aber auch Suppen oder Aufstriche. Ich könnte mir vorstellen, auch später so weiterzuleben. Diese totale Entwertung der Lebensmittel ist doch völlig irrsinnig und ausbeuterisch - vor allem für die Umwelt.“

Abfallverwerter wie Andreas F. nennen sich "Dumpsters“, "Mülltaucher“ oder "Freegans“ - in Abwandlung der "Vegans“, jener Gruppe von Vegetariern, die auch den Konsum jeglicher tierischer Produkte ablehnt. In Wien hat sich rund um die Universität für Bodenkultur inzwischen eine stetig wachsende Mülltaucher-Gruppe aus mehreren hundert Studenten, Schülern und Öko-Aktivisten gebildet, die nur lose miteinander verbunden sind und sich ab und an zu gemeinsamen Kochaktionen zusammenschließen, wo unter dem Arbeitstitel "Volksküche“ die aus dem Abfall geangelten Lebensmittel verarbeitet werden.

"Die meisten von denen könnten es sich durchaus leisten, normal einkaufen zu gehen“, so die Wiener Abfallforscherin Felicitas Schneider, "aber sie wollen mit diesen Aktionen ein Protestzeichen gegen die Konsumkultur setzen.“ Bisher gab es zwar immer wieder polizeiliche Anzeigen seitens der Supermarktbetreiber gegen die Mülltaucher, doch zu einer Verurteilung ist es - im Gegensatz zu Deutschland - in Österreich noch nie gekommen. Schließlich wollen die Handelsketten Imageschäden vermeiden und nicht unnötig die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, wie viele Tonnen an noch genusstauglichen Lebensmitteln täglich im Abfall und - im besten Fall noch - in Folge in den lokalen Biogasanlagen verschwinden.

"Ich habe keine große Angst“
, erklärt die 17-jährige Kathrin*), eine Schülerin aus Niederösterreich, die von zu Hause ausgezogen ist und als "weibliches Oberhaupt“ ihrer WG für regelmäßige Dumpster-Vorräte aus den Containern des lokalen Supermarkts sorgt, "schließlich verursache ich keine Sachbeschädigung, schade auch sonst niemandem und bediene mich aus herrenlosem Müll. Dabei nehme ich mir nur, was ich brauche, den Rest verschenke ich.“ Fast ebenso schlimm wie die "idiotische Verschwendung der Großkonzerne“ findet sie "deren völlige Disziplinlosigkeit bei der Mülltrennung - da fliegen Glas, Plastik, Papier und Lebensmittelabfälle völlig durcheinander“.

Verlässliche Daten über die Lebensmittelvernichtung in Österreich existieren keine, aber die ÖVP-Politikerin Anna Höllerer, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft österreichischer Bäuerinnen, schätzt, dass jedes Jahr in ganz Österreich zwischen 83.000 und 166.000 Tonnen an Essbarem entsorgt werden. Auf den einzelnen Österreicher umgerechnet, entspräche das einer Wegwerfquote von zwölf Kilogramm unverdorbenem Essen jährlich. Felicitas Schneider vom Institut für Abfallwirtschaft an der Wiener Boku, deren berufliche Leidenschaft den Analysen des Lebensmittelabfalls gehört, schätzt, dass pro Haushalt im Schnitt 400 Euro jährlich auf diese Weise in den Wind geschlagen werden. Eine zehnwöchige Studie ihres Teams bei einer Diskont-Supermarktkette ergab, dass täglich pro Filiale 45 Kilo "genusstaugliche Produkte“ entsorgt werden, wobei Diskonter in der Vernichtungskette noch eine moderate Position einnehmen, da sie im Vergleich zu regulären Supermarktfilialen über ein beschränktes Sortiment verfügen und nicht gezwungen sind, Dutzende Varianten eines Produkts anzubieten.

"Mit den Lebensmitteln, die täglich in Europa und den USA weggeworfen werden, könnte der Hunger der Welt im gleichen Zeitraum bis zu drei Mal gestillt werden“, lautet das Fazit des deutschen Filmemachers Valentin Thurn (siehe Interview) am Ende seines Dokumentarstreifens "Taste the Waste“, der zurzeit in den österreichischen Kinos läuft und in der neuen Tradition öko-engagierter Dokumentationen wie Erwin Wagenhofers Globalisierungskritik "We Feed the World - Essen global“ und Coline Serreaus "Good Food, Bad Food - Anleitung für eine bessere Landwirtschaft“ steht. Thurn beleuchtet das Thema Essensvernichtung in seinem Film sachlich und ohne Pathos, in einem vielschichtigen wie schockierenden globalen Zusammenhang, der weit über die ethisch-moralische Problematik hinausweist: Denn das vor allem in Europa und den USA betriebene Prinzip "Feed the Waste“ zieht eine globale Zerstörungsspur nach sich. Rund ein Viertel des weltweiten Wasserverbrauchs wird für die Produktion derjenigen Lebensmittel verbraucht, die schließlich auf dem Müll landen; ein Viertel der Treibgas-Emissionen entstehen durch Produktion, Verpackung und den Transport von Nahrungsmitteln. Der Verschwendungskreislauf verschärft auch die Hungersnot unter den "Ultra-Armen“ in den Schwellenländern.

Denn die Handelspreise für Grundnahrungsmittel wie Weizen und Mais steigen durch das Verschwendungsprinzip auf dem Weltmarkt so sehr, dass das "menschliche Grundrecht auf Ernährung“, so der ehemalige UN-Sonderbeauftragte und ausgeladene Festredner der Salzburger Festspiele Jean Ziegler, nicht mehr gewährleistet werden könne. Billigexporte von Überschusswaren und im hiesigen Handel nicht verwendbaren Fleischteilen in Entwicklungsländer treiben die dortigen Bauern zusätzlich aus der Wettbewerbsfähigkeit in die Armut. Denn mit diesen Dumping-Angeboten können sie nicht mehr konkurrieren. "Wir essen nicht ein Mal im Jahr Fleisch“, erzählt ein Bananenbauer aus Kamerun im Film, "und unsere Malaria bleibt in der ganzen Familie unbehandelt, weil Medizin für uns unerschwinglich ist.“

"Auf die Frage, ob die altbackenen Brötchen, die bei uns auf dem Müll landen, für die Hungernden in Afrika und Bangladesch irgendeinen Sinn machen, kann ich nur antworten: ja, aber einen negativen“, erklärt der deutsche Entwicklungswissenschafter Joachim von Braun, "je mehr wir wegwerfen, desto schwieriger wird die Grundversorgung für jene, die den Gürtel nicht mehr enger schnallen können.“

Mit welchen Maßnahmen kann aber der perverse Kreislauf einer verschwenderischen Überflussgesellschaft wirkungsvoll gestoppt werden? Protestaktionisten wie die Mülltaucher leisten zwar einen wachsenden, aber dennoch überschaubaren Diskursbeitrag. "Die Sorge um die Verschwendung eint erstaunlich unterschiedliche Milieus“, erzählt Thurn. Bei einem Dreh anlässlich einer "Volksküchen“-Aktion im Wiener Gemeindebezirk Simmering konnte er beobachten, wie "konservative ältere Menschen, die noch die Mangelwirtschaft des Kriegs erlebt und jede Linse aus dem Staub gehoben haben, auf die Dreadlock-Typen zugegangen sind, welche die Gemüsesuppe verteilt haben, um sich bei ihnen zu bedanken, dass sie sich um das Problem kümmern. Der Kampf gegen die Verschwendung wird zunehmend zu einem politischen Ziel quer durch alle Schichten und Generationen.“

Institutionen wie die "Wiener Tafel“, wo täglich drei Tonnen genusstaugliche Lebensmittel vor dem Müll gerettet und an über 10.000 Armutsbetroffene in achtzig Wiener Sozialeinrichtungen geliefert werden, können jedoch nur abgepackte Produkte innerhalb der Mindesthaltbarkeit weitergeben. "Die österreichischen Lebensmittelgesetze sind im EU-Vergleich besonders streng“, erklärt der Gründer der Einrichtung, der Wiener Sozialarbeiter Martin Haidinger. Was die Kooperationsbereitschaft der großen Handelsketten betrifft, "hängt das Engagement sehr stark vom jeweiligen Filialleiter ab, da kommt es sehr auf persönliche Kontakte an, aber prinzipiell sind wir im guten Einvernehmen“. Reserviert hingegen sei ihm die Diskontkette Hofer entgegengetreten: "Das Argument war, dass sie von der Logistik so schlank operieren würden, dass wenig überbleibt. Nur: Das glaube ich denen nicht.“ Mit Argwohn betrachtet Haidinger Tafel-Epigonen wie das Rote-Kreuz-Team-Österreich-Projekt: "Da werden Warenspenden in Garagen gelagert, die dann für jedermann zugänglich sind. Das finde ich missbräuchlich und widerspricht unseren Tafel-Grundsätzen, denn die Produkte sollten ausschließlich Menschen in Not zukommen.“ Filmemacher Valentin Thurn kritisiert am Tafel-Prinzip, dass es als "Systemerhalter der Wegwerfgesellschaft“ diene, räumt aber ein, dass so "wenigstens die Überschüsse denjenigen zugeführt werden, für die sie ursprünglich bestimmt waren: den Menschen.“

Erstaunlicherweise, so sind sich Konsumforscher und Ökologen einig, steht in der Schuldzuweisungskette der Konsument an erster Stelle. Während der Handel, der mit Beschränkung des Sortiments, Mut zur Lücke bei Frischangeboten wie Brot und Wurst und 50-Prozent-Regalen ethische und ökologische Image-Politur betreiben könnte, nur fünf Prozent der Lebensmittelabfälle zu verantworten hat, verursachen die Haushalte mehr als das Doppelte an Nahrungsmüll. "Viel wird vor dem Ablauf der Mindesthaltbarkeit weggeworfen“, berichtet Felicitas Schneider von ihren Müllanalysen, "es handelt sich vor allem um Gemüse, Brot, Fleisch und Milchprodukte, aber auch noch genusstaugliche, verschlossene Kaviargläser habe ich schon bei meinen Müllausflügen gefunden.“ Einen hohen Wegwerf-Faktor hätte das meistens trügerische Mindesthaltbarkeitsdatum, an das "sich die Konsumenten leider halten“: "Ich persönlich habe noch gestern ein Joghurt mit dem Ablaufdatum von Mitte November verspeist. Wenn die Produkte zu gären beginnen, sieht man das ohnehin an der Wölbung des Deckels. Bei Konserven oder Packerlsuppen liegt die Genießbarkeit oft noch Jahre danach.“ Das Wissen und das Gefühl für Lebensmittel wären den Konsumenten vor allem im städtischen Raum abhandengekommen: "Da fehlen oft die einfachsten Kenntnisse an Lagerkunde - Äpfel und Bananen verderben zum Beispiel wesentlich schneller, wenn sie im Kühlschrank aufbewahrt werden.“ Und auch der Verlust der "Kulturtechnik des Kochens“ trägt seinen Teil zum Wegwerf-Kreislauf bei, so die Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler: "Die Menschen wissen oft überhaupt nicht mehr, was sie mit Resten anfängen können. Gröstl, Eintöpfe oder Knödel waren doch immer Resteverwertungen, aber mit dem Schwinden dieses Traditionswissens ging auch der Sinn für den Wert von Lebensmitteln verloren.“ Langsam beginnen auch das Landwirtschaftsministerium und vereinzelte Länderinitiativen, wobei vor allem Tirol, Niederösterreich und Oberösterreich Vorreiterfunktion besitzen, mit der Arbeit an der Wachsamkeit des Konsumenten. Mit mobilen "Restl“-Tafeln, wo Starköche demonstrieren, was man aus den Überbleibseln noch zaubern kann, Vorträgen zur Lebensmittelkunde und Kochkursen in Sozialmärkten sollen dem Verbraucher wieder Know-how und Respekt vor den Produkten eingeimpft werden.

Anregend könnte da Italien wirken.
Dort begegnet man selbst einem so ernsthaften Thema wie der Essensverschwendung mit leichtfüßiger Poesie. In einer "cena collectiva“ wurden da in Turin in Form eines Straßenfests tausend Menschen mit traditionellen Gemüsegerichten verköstigt - die Zutaten stammten zur Gänze aus für den Abfall bestimmten Produkten. Carlo Petrini, Begründer der "Slow Food“-Bewegung, lächelte dabei aus seinem eisgrauen Bart in die Kameras und deklamierte dann mit erhobenen Händen: "Es ist idiotisch und zeugt von schlechtem Geschmack, durch einen Supermarkt zu rollen und seinen Wagen mit Dingen zu beladen, mit denen man nichts anzufangen weiß. Esst weniger und liebt das wenige, das ihr esst.“

* Alle Namen von der Redaktion gerändert

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort