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EU: Aufstand der Vergessenen

Aufstand der Vergessenen

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Die Siedlung hat keinen Namen, und das ist kein Zufall. Ihre Bewohner, an die 3000 Personen vom Volk der Roma, scheuen die Aufmerksamkeit. Am Rand der ostslowakischen Kleinstadt Trebisov gelegen, ducken sich die Häuser und Hütten in den Unrat. Rauch dringt aus Ofenrohren, die in Augenhöhe aus den Wänden ragen. Finstere Blicke schrecken jeden ab, der sich irrtümlich hierher verirrt. Wer in diesem Loch lebt, weiß, dass er nicht beachtet wird.

Plötzlich bricht die Außenwelt herein. Vor dem Ausgang der Siedlung patrouillieren Soldaten und Polizisten. Am Himmel kreist ein Militärhubschrauber, die Roma blicken ängstlich nach oben, nur die Kinder schreien begeistert. Die Siedlung, die keinen Namen hat, deren Bewohnerzahl nur geschätzt werden kann, ist landesweit und sogar international bekannt geworden, besser gesagt: berüchtigt. Von Unruhen ist die Rede. Der Innenminister ordnet nach eigenen Worten den größten Aufmarsch von Sicherheitstruppen seit 1989 an. Ausgerechnet die Roma, für die das unauffällige Dasein am Rand der Gesellschaft traditionelle Lebensgrundlage ist, sollen die Staatsgewalt herausgefordert haben. Was ist passiert?

Plünderung. Jozef Jenei steht apathisch in seinem Lebensmittelladen und sammelt ein paar Laibe Brot auf, die zwischen den Scherben am Boden liegen. Die Vitrinen sind zerbrochen, alle Regale leer. Jeneis Greißlerei, keine 50 Meter von der Siedlung entfernt, wurde von den Roma am Montag vergangener Woche geplündert. Dann kam die Polizei und es gab eine nächtliche Straßenschlacht mit Wasserwerfer und Verhaftungen und Prügel.

Das alles wäre noch nicht weiter weltbewegend, wenn sich hinter den Plünderungen einiger Läden durch ostslowakische Roma nicht ein riesiges Problem verbärge: 1,5 Millionen Menschen in der Slowakei, Tschechien, Ungarn und Slowenien, die mit der Osterweiterung am kommenden 1. Mai Bürger der EU werden und die großteils als ausgegrenzte, geächtete und hoffnungslose Unterklasse leben.

Seltsam, wo doch die Erweiterungsländer unter vielen anderen Kriterien auch jenes des Minderheitenschutzes erfüllen mussten – und nach außen hin auch erfüllten. Die Slowakei etwa ist stolz auf die Menschen, die sie ins neue vereinte Europa einbringt. Auch, und vielleicht sogar ganz besonders, auf ihre Zigeuner. Zigeuner heißen heute korrekt Roma und sind eine folkloristisch interessante Volksgruppe; Zigeunerkinder können ganz besonders schöne bunte Bilder malen. Die slowakische Regierung hat diese daher auf dickem Papier in tausende Kalender drucken lassen und zu Werbezwecken in die ganze Welt verschickt.

Bratislava, Prag und Budapest haben längst verstanden, worauf es in Europa ankommt: dass man sich dort über bunte Kalender und ambitionierte Integrationsprogramme für Minderheiten freut und nur selten die Energie aufbringt, genauer nachzuschauen.

Man hätte dabei vielleicht festgestellt, dass die Kinderbilder in einer desolaten, viel zu engen Sonderschule gezeichnet wurden, weil die Mehrzahl der Roma-Kinder in der Slowakei viel zu enge, desolate Sonderschulen besucht – wenn überhaupt. „Im Raum der ersten Klasse gibt es dort nicht einmal Sessel“, berichtet Renata Erich, unermüdliche Kämpferin für die Rechte der Minderheit und Leiterin des Romano Centro in Wien.

100 Euro pro Familie. Das Kapitel „Minderheiten“ in den Beitrittsverhandlungen wurde längst erleichtert abgehakt, umso peinlicher erscheint nun der Eklat in der Ostslowakei. Verursacht hat den Aufruhr ein Gesetz, das die Sozialhilfe um die Hälfte kürzt. Einzelpersonen erhalten demnach monatlich nur noch 35,7 Euro, Familien maximal knapp 100 Euro, bisher gab es für jedes Kind 35 Euro extra. Gleichzeitig werden Steuern erheblich gesenkt, um Schwarzarbeiter zur Legalisierung ihrer Tätigkeiten zu bewegen. Die Reformen des Steuer- und Sozialsystems werden von ausländischen Investoren gelobt, doch für die Roma sind sie eine Katastrophe. Sie haben nur die Sozialhilfe zum Leben.

Als der Kommunismus vor 15 Jahren zusammenbrach, endete für den Großteil der Roma das Arbeitsleben. Im realen Sozialismus waren sie als Unterklasse ins Proletariat zwangsintegriert und zur Hilfsarbeit vergattert worden. Die Marktwirtschaft hingegen sah keine ideologische Notwendigkeit dafür, dass Roma arbeiten müssen. So gut wie alle verloren mangels Qualifikation ihren Job und leben seither vom Staat.

Das bedeutet sozialen Stillstand auf der untersten Stufe. Stefan Sandor ist 43, verheiratet und hat sechs Kinder. Die zuletzt bezogene Unterstützung betrug knapp 100 Euro. Das Haus der Familie ist eine Ruine, der Boden aus Lehm, die vom Strommast abgezweigte Leitung kommt zum Fenster herein, der einzige Wasserhahn ist in der Küche. Abfluss gibt es keinen. Es ist Mittwochvormittag, alle sind zu Hause, niemand arbeitet, kein Kind geht zur Schule. Sandor zeigt auf seinen ältesten Sohn, der im Bett liegt. Sein Rücken ist gerötet. Er sagt, die Polizei habe ihn geprügelt.

Wie sollen Roma gegen eine Steuerreform protestieren? Mittels Streik, bei einer Arbeitslosenquote von annähernd 100 Prozent? Durch Demonstrationen? Sie wissen, dass sie von den anderen abgelehnt oder sogar gehasst werden, dass sie als arbeitsscheu und rückständig gelten. Ihre Forderungen zählen nicht. Also plünderten sie Geschäfte und holten sich, was sie brauchen. Wahrscheinlich wurden sie von radikalen Kräften innerhalb der Volksgruppe dazu aufgestachelt. Wucherer – die einzigen, die Roma Kredite gewähren – sollen fürchten, angesichts der Kürzungen ihre Kreditraten nicht bezahlt zu bekommen. Letztlich aber kann niemand bestreiten, dass die Plünderungen Ausdruck einer Notlage sind.

Mit Verständnis war nicht zu rechnen. Die slowakische Tageszeitung „Sme“ wies darauf hin, dass „der Hunger kaum der Grund für die Plünderungen sein kann“, da die – wenn auch halbierte – Sozialhilfe eben erst ausbezahlt worden sei. Und im „ordentlichen“ Teil der Stadt Trebisov glaubt man den wahren Antrieb für den Raubzug zu kennen: „Die hatten es hauptsächlich auf Alkohol und Zigaretten abgesehen“, sagt Rado, ein junger Angestellter.

Politische Führer der Roma beeilen sich, das hässliche Bild der zerstörerischen, sich illegal bereichernden Roma zu relativieren. Stefan Milo, Abgeordneter des regionalen Roma-Parlaments, fängt Reporter am Eingang zur Siedlung ab, um die Plünderungen herunterzuspielen. Es seien bloß „zehn bis fünfzehn Leute“ gewesen, die sich daran beteiligt hätten. Dann stapft Milo durch die Siedlung und beruhigt die Angehörigen der Verprügelten. Er erklärt ihnen auch, dass sie vor dem Hubschrauber, der über ihnen kreist, keine Angst haben müssen. Er ist der Einzige hier, der ein Telefon hat und der sich in der Welt da draußen zurechtfindet. Helfen kann er ihnen trotzdem nicht.

Die Roma, die in Siedlungen wie jener von Trebisov leben, sind unkultiviert, schmutzig, ungebildet. Sie streifen durch die Stadt, um auf ihre Handkarren zu laden, was andere wegwerfen. Der Alkoholismus ist weit verbreitet. Über die Lebensumstände der Roma weiß man allerdings in der Öffentlichkeit nur wenig. Eine Studie des UN-Entwicklungsprogramms beschreibt die Situation der Roma als „Inseln der Dritten Welt in der Ersten Welt“.

Kein Klo, kein Warmwasser. Mit über 5000 Fragebögen hat die Studie („Avoiding the Dependency Trap“) die Lebensumstände im Detail erhoben – und der Abgrund, der sich dabei zwischen Roma- und Nicht-Roma auftut, ist erschreckend. Beispiel Bulgarien: 80% der Bevölkerung haben dort Telefon, allerdings nur 12% der Roma. 65% der Bulgaren haben ein Klo im Haus, bei den Roma sind es nur 15%. Im wohlhabenderen Ungarn ist die Kluft ähnlich groß: 35% der Roma haben Heizung (Gesamtbevölkerung: 79%), 45% haben Warmwasser (gesamt: 83%), dafür regnet es einem Drittel der Roma durchs Dach (gesamt: 9%).

Nicht überraschend, dass sich diese Armut auch in den Gesundheitsindikatoren niederschlägt: Die Kindersterblichkeit ist bei Roma dreimal so hoch wie bei der Durchschnittsbevölkerung, die Lebenserwartung um sieben Jahre niedriger. Sogar latenten Hunger und Mangelernährung hat man bei der Hälfte der Roma festgestellt.

Die Erste Welt lässt die Dritte immer schneller hinter sich. So ist das überall und eben auch in Trebisov, wo die Welten nur einen Steinwurf voneinander entfernt liegen. Die Hauptstraße ist längst gesäumt von Unternehmens-Logos europäischer Marken. Hier kauft man bei Billa, tankt bei OMV, versichert sich bei Uniqa. Roma kaufen auch manchmal bei Billa, aber die meisten der übrigen neuen Güter bleiben ihnen verwehrt. Ihr Lebensstandard sinkt.

Zuzuschauen, wie die Minderheit, frustriert, angefeindet und dem Selbstmitleid ergeben, in die „Almosen-Falle“ geht, schmerzt die engagierten, selbstbewussten Aktivisten der Volksgruppe am meisten. „Die allergrößte Bedrohung für uns ist die Sozialhilfe“, sah etwa Nikolai Gheorghe, Soziologe und einer der führenden Roma-Intellektuellen, schon vor zwei Jahren in einem profil-Interview die Gefahr präzise voraus. „Wir sind aufgewachsen mit Vätern, die hart geschuftet haben, um die Kinder zu ernähren. Unsere Eltern waren Handwerker, Händler. Meiner war Kraftfahrer. Aber was lernen die Kinder heute, wenn sie ihren Vätern zuschauen, die sich bloß die Sozialhilfe abholen?“

UN-Entwicklungsprogramm und Weltbank machen sich ähnliche Sorgen über die „Abhängigkeitsfalle“: „Die Ghetto-Kultur hat systemischen Charakter“, heißt es in der genannten Roma-Studie. „Diskriminierung schafft Ausgrenzung, und Ausgrenzung schafft Diskriminierung.“ Haben sich die Verhaltensmuster und das wechselseitige Misstrauen einmal festgefressen, gelingen Ausbrüche kaum noch. Am Beispiel des ostslowakischen Ortes Svinia hat das Roma Rights Center die Muster der Abschottung präzise nachgezeichnet: Roma werden, selbst wenn sie zahlen können, niemanden finden, der ihnen außerhalb des Ghettos ein Grundstück verkauft. Selbst auf dem Friedhof hat man Roma eine eigene Ecke reserviert. Aus anderen Orten zugewanderten Ehepartnern, manchmal auch den Kindern, verweigert das Amt die behördliche Anmeldung – was bedeutet, dass sie von Gemeindewahlen ausgeschlossen sind.

Abgründe. Vor allem aber das Bildungssystem zementiert die Unterschiede: Roma-Kinder gehen in Svinia in eigene – schlechter ausgestattete – Klassen, in einem eigenen Gebäude, sitzen sogar in der Kantine an eigenen Tischen mit eigenem Essbesteck. „Weil sie im Unterricht nicht mithalten können“, lautet die Rechtfertigung. Tatsächlich haben viele von ihnen Sprachprobleme – unter anderem deshalb, weil noch nie ein Roma-Kind im örtlichen Kindergarten aufgenommen wurde.

Oder auch deshalb – und hier öffnen sich die menschlichen Abgründe –, weil gedemütigte, deklassierte Roma-Patriarchen gar nicht wollen, dass ihre Söhne und Töchter gescheiter werden als sie selbst. So zumindest beschreibt es Karl-Markus Gauß, der den Ort in seinem neuen Buch „Die Hundeesser von Svinia“ als Mikrokosmos der Apartheid beschreibt (siehe Interview Seite 81).

So ist es aber nicht nur in Svinia. Laut UNDP-Studie gehen drei Viertel der Roma-Kinder in Sonderschulen, bloß ein Drittel schafft den Volksschulabschluss, nur sechs Prozent bringen es zu einer weiterführenden Ausbildung. In der Slowakei schafft es kaum ein Roma-Kind, den „psychologischen Eignungstest“ zu bestehen, denn das Kauderwelsch aus Romanes und Slowakisch, das zu Hause meist gesprochen wird, macht jede Prüfung zum unüberwindlichen Hindernis.

So erweist sich jedes Vorurteil als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die Roma sind ungebildet, weil sie keinen Zugang zur Bildung haben. Sie sind arbeitsscheu, weil ihnen jahrelang niemand Arbeit gegeben hat. Sie sind kriminell und plündern Geschäfte, weil das stille Sozialschmarotzen nicht mehr reicht.

„Zu kaputt, um laut zu schreien“. Dass es so etwas in Europa eigentlich nicht geben darf, ist allen Beteiligten bewusst. Immerhin 100 Millionen Euro hat die EU im Rahmen ihres „Phare“-Programms für Roma-Projekte in den Beitrittsländern bereits zur Verfügung gestellt – hier gibt es eine Initiative, dort ein Projekt, überall viele Worte und Studien, doch es scheint fast, als betreibe die Sache niemand wirklich aus vollem Herzen.

In der Roma-Siedlung von Trebisov steht neben unsagbar desolaten, dreistöckigen Häusern ein neuer, ebenfalls dreistöckiger Block. Doch der frische Verputz wird nicht lange halten, die Fensterscheiben werden bald zerschlagen sein, die Dichtungen kaputt, und niemand wird das Geld haben für Instandsetzungen. Einmalige Geschenke, und seien sie auch noch so gut gemeint und willkommen, ersetzen die Integration nicht.

„Man schiebt das vor sich her, spielt die Probleme herunter, versteckt die Leute, und hofft, dass keiner so schnell draufkommt“, sagt Roma-Aktivistin Renata Erich. „Und meistens geht das gut, weil die meisten Roma ja tatsächlich schon zu kaputt sind, um laut zu schreien.“

„Es ist unmöglich, dass wir das weiter so geschehen lassen“, donnert allerdings James D. Wolfensohn, Chef der Weltbank, der sich im vergangenen Juli an die Spitze der ersten großen Roma-Konferenz in Budapest stellte. Die Bank hat vollmundig das „Jahrzehnt der Roma-Integration“ ausgerufen, beginnend im Jahr 2005. Noch heuer will Wolfensohn mit einem Plan zurückkommen, der eine „wirkliche Partnerschaft mit dem Roma-Volk“ begründen soll, ein „epochales Ereignis“ also, „das im Leben der Menschen einen dauerhaften Unterschied machen wird“.

Solch große Worte werden auf Skepsis stoßen – bei den Aktivisten, bei den Lokalpolitikern draußen in den Dörfern, bei den ängstlichen Bürgern und bei den Roma selbst. Bei allen, die seit Jahrzehnten zuschauen, wie resistent die Macht der Gewohnheit und die Macht des Misstrauens gegen Veränderungen sind. Im kollektiven Bewusstsein der Roma sitzt auch noch der Schrecken des Dritten Reiches, als die Registrierung ihres Volkes nur dazu diente, es auszulöschen. Deshalb scheuen sich noch heute viele Roma, bei Volkszählungen ihre Zugehörigkeit zur Minderheit anzugeben.

Ein aktueller Plan des slowakischen Innenministeriums, eine eigene Roma-Abteilung innerhalb der Polizei zu bilden, sorgt für zusätzliche Nervosität. Einige fühlen sich an die rassistische Verfolgung durch die Nationalsozialisten erinnert.

Die Ereignisse der vergangenen Woche waren für alle ein Schock. Für Mittwoch waren eigentlich noch Demonstrationen geplant gewesen, aber dazu hätten die Roma ihre Siedlungen verlassen müssen, und um das zu verhindern, war ein Armeeaufgebot angerückt. Die Regierung war besorgt, und die Roma selbst waren es noch viel mehr. In Trebisov saßen noch etwa 25 Roma im Arrest. Also sagte Roma-Führer Ladislav Fizik die Demonstrationen ab. Große Hoffnungen auf Veränderungen hatten die tumultreichen Tage nicht eben hinterlassen.

In der Roma-Siedlung von Trebisov gibt es keinerlei Aussicht auf Verbesserungen. Nur zwei Vorstellungen bringen die Augen der Menschen zum Leuchten: der Gedanke an die gute alte Zeit des Kommunismus und der Traum vom EU-Ausland. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die traditionell wanderfreudigen Roma auf den Weg gen Westen machen, wenn sie erst einmal EU-Bürger sind. Zu verlieren haben sie nicht viel.