Europäische Union: Grenzerfahrungen

EU: Grenzerfahrungen

Kriminalitätshysterie und Aufbruchsstimmung

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Auch an der Mur kann ein kleiner Schritt für einen Menschen einen großen Sprung für die Menschheit bedeuten. Am Stefanitag machte Peter Merlini, Bürgermeister im steirischen Bad Radkersburg, mit seiner Familie einen kleinen Feiertagsspaziergang. Merlini ging über die Flussbrücke auf den Schlossberg hinauf. Die Besonderheit: Der Schlossberg liegt in Slowenien. Genauer: in der Stadt Gornja Radgona. Seit kurzer Zeit kommt man von Bad Radkersburg sogar ohne Grenzkontrolle zum Nachbarn direkt am anderen Flussufer. Dass nun wieder zusammenwächst, was bis zum Ersten Weltkrieg zusammengehörte, sieht Bürgermeister Merlini durchaus gefühlsbetont: „Der Wegfall der Grenzkontrollen ist für uns vor allem eine emotionale Angelegenheit. Man geht einfach rüber und sieht keine Uniformierten mehr. Es ist ein weiterer Schritt in Richtung Normalität.“

Als der Schengen-Raum am 21. Dezember um weitere neun Länder (siehe Karte Seite 26) erweitert wurde, feierte man auch in Bad Radkersburg und Gornja Radgona. An der österreichisch-slowakischen Grenze am Übergang Berg sägten Kanzler Alfred Gusenbauer und der slowakische Regierungschef Robert Fico mit leicht zittriger Hand den Grenzbalken durch. Die hohen Herren schienen den Hauch der Geschichte zu spüren. Doch knapp drei Wochen nach dem Fall der Grenzkontrollen ist in den betroffenen Regionen eher Sorge als Sinn für Historie zu spüren. Kriminalitätshysterie und diffuse Ängste vor angeblichen Flüchtlingswellen stehen Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung und Anschluss an die reicheren Bezirke Österreichs gegenüber.

Gerhard Zapfl, Bürgermeister im burgenländischen Nickelsdorf, weiß um die Widersprüche: „Unsere Bürger freuen sich über die neue Reisefreiheit. Wir fürchten aber auch, dass es zu steigender Kriminalität kommt.“ Den Beschwichtigungen der Bundesregierung scheint man wenig Glauben zu schenken. Für die Außengrenzen der Europäischen Union sind nun polnische, slowakische oder ungarische Behörden zuständig. Das Bundesheer zog sich nach mehr als zehn Jahren von der Grenze zurück. Seit der Schengen-Erweiterung patrouillieren die Soldaten in den Gemeinden und im Landesinneren. Nicht überall ist das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung damit befriedigt. Im mittelburgenländischen Deutschkreutz formierte sich eine Bürgerwehr. Statt Soldaten stehen nun Weinbauern an der Grenze Wache. Auch ein privates Security-Unternehmen wurde engagiert. Bürgermeister Manfred Kölly von der Freien Bürgerliste wirft Würdenträgern in Eisenstadt und Wien vor, seine Bürger zu verunsichern: „Landeshauptmann Hans Niessl warnt ständig davor, dass wir auf die Schengen-Erweiterung nicht gut genug vorbereitet sind. Und Innenminister Günther Platter behauptet das Gegenteil. Das führt zu Unruhe.“ Mit Daten lassen sich die Befürchtungen freilich nicht erhärten. Zugenommen hat in Deutschkreutz seit dem Fall der Grenzbalken nur der Verkehr und nicht die Kriminalität.

Die Polizei wurde für die ersten Wochen nach der Schengen-Erweiterung angewiesen, Präsenz zu zeigen. Christian Jachs, Bürgermeister von Freistadt im Mühlviertel: „Die Exekutive ist jetzt wesentlich sichtbarer. Die Befürchtungen, dass die Kriminalität zunimmt, haben sich nicht bestätigt.“ Auch Andreas Pilsl, Landespolizeikommandant für Oberösterreich, meldet keine besonderen Vorkommnisse seit der Grenzöffnung: „Mit zehn bis 20 Einbrüchen pro Tag in Oberösterreich sind wir auf dem Niveau vor der Ausweitung des Schengen-Raums.“ Die slowakischen Behörden hätten „beeindruckende“ Sicherheitsvorkehrungen geschaffen, so Pilsl. Der Bürgermeister von Hohenau an der March in Niederösterreich, Robert Freitag, kennt ebenfalls keine Furcht: „Wir sind eine gelebte, offene Grenze. Es gibt keine Angst vor mehr Kriminalität.“

Jagd auf Schlepper. Für Schlepper, die Flüchtlinge illegal nach Österreich bringen, wurde die Arbeit in den letzten Wochen bequemer – freilich nur innerhalb des neuen Schengen-Raums. Statt wie früher ihre Opfer bei Dunkelheit über die grüne Grenze zu schicken oder in Fahrzeugen zu schmuggeln, können sie diese nun bequem in Kleinbussen oder in Zügen nach Österreich bringen. Stoppt die Polizei einen Bus mit illegalen Flüchtlingen, wird der Fahrer als Schlepper belangt – bei Reisebussen oder transnationalen Buslinien freilich nicht, da es für den Chauffeur keine Verpflichtung gibt, die Reisedokumente seiner Passagiere zu überprüfen. Hunderte Kilometer touren heimische Polizeistreifen derzeit täglich durch Österreich auf der Suche nach illegalen Immigranten in Reisebussen. Die Aufgriffe hielten sich bisher in Grenzen. Zu Jahresende 2007 stoppten Beamte in den Bezirken Mistelbach und Korneuburg drei Taxis aus Polen, in denen Asylwerber aus Russland transportiert wurden.

Teilweise fahren Flüchtlinge – von ihren Schleppern instruiert – gleich direkt bei den Erstaufnahmestellen im oberösterreichischen Thalham oder im niederösterreichischen Traiskirchen vor. Der in der Vorwoche kolportierte Flüchtlingsansturm ist freilich eine Chimäre. Roland Schönbauer, Sprecher des Wiener Büros des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (Unhcr): „Wer wegen ein paar hundert Flüchtlingen mehr in Traiskirchen von Überrolltwerden spricht, hat entweder keine Ahnung oder unredliche Absichten“ (siehe Reportage Seite 24).

Von den jüngsten großen Flüchtlingswellen etwa aus Darfur ist die EU ohnehin nicht betroffen. Die Festung Europa wurde in den vergangenen Jahren verstärkt. Die Folge: Die Zahl der Asylanträge nahm im gesamten EU-Raum sukzessive ab. In Österreichs östlichen Nachbarländern lagen sie 2007 auf besonders niedrigem Niveau (siehe Karte Seite 22).

Dennoch kursierten hierzulande monatelang Gerüchte über tausende Tschetschenen in Warteposition: Sie sollen in privaten Unterkünften in Tschechien, der Slowakei, Polen und Ungarn auf die günstige Gelegenheit warten, in das eigentliche Land ihrer Wünsche zu gelangen. Doch was viele der Flüchtlinge nicht wissen: Das grenzenlose Schengen-Land gilt für EU-Bürger, Touristen und Geschäftsreisende, aber nicht für Asylwerber.

Gerade für Tschetschenen ist Österreich eine Wunschdestination in Mitteleuropa, denn die Behörden folgen einer Empfehlung des Unhcr und gewähren fast allen ansuchenden Tschetschenen Asyl. Andere Länder weisen Asylanträge dagegen massenweise ab. In Polen bekommen von hundert Tschetschenen bloß einige wenige Asyl, in der Slowakei liegt die Anerkennungsquote bei null. Überdies sind die Flüchtlingslager schlecht ausgestattet, die medizinische Versorgung ist mangelhaft. Flüchtlingsorganisationen berichten immer wieder von Fällen, in denen Tschetschenen nach Russland zurückgeschoben wurden. Wer kann, lässt sich deshalb – oft gegen teuren Lohn – nach Deutschland, Frankreich oder Österreich weiterschleppen, wo es tschetschenische Gemeinden gibt und Verwandte oder Freunde beim Aufbau einer neuen Existenz helfen können. In den meisten Fällen ist die Reise ins gelobte Land vergeblich. Laut der Dublin-Vereinbarung dürfen sich Asylwerber ihr Zielland nämlich nicht aussuchen. Zuständig für das Asylverfahren ist jener Staat, wo sie zum ersten Mal EU-Boden betreten.

Statt tschetschenischer Flüchtlinge stürmten über die Feiertage tschechische, slowakische und ungarische Nachbarn Österreich. Im Outlet-Center Parndorf im Bezirk Neusiedl sorgten Shoppingtouristen aus dem Osten für Rekordumsätze. Und auch die Tourismusregionen profitieren vom Wegfall der Grenzkontrollen, glaubt der Rohrbacher Bürgermeister Josef Hauer. Er war am Hochficht im Mühlviertel nahe der Grenze Ski fahren und registrierte mehr tschechische Touristen als sonst. Im nahen Freistadt rechnet Bürgermeister Christian Jachs ebenfalls mit einem Ansturm aus Böhmen und Mähren. Zur diesjährigen Jänner-Rallye kamen 30.000 tschechische Motorsportfans. Doch der Grenzverkehr läuft auch in die Gegenrichtung. Oberösterreicher fahren zum Essen nach Tschechien oder besuchen Krumau. Vor Silvester deckten sich Jugendliche aus den Bezirken Rohrbach und Freistadt jenseits der Grenze mit daheim verbotenen Böllern ein.

Wie so oft sind vor allem wirtschaftliche Erwartungen die stärksten Motive für den Abbau der Grenzblockaden auch im Kopf. So machen ungarische Gäste bereits 70 Prozent der Besucher des Freibads in Deutschkreutz aus. Manchen kann es ohnehin nicht schnell genug gehen. Im niederösterreichischen Marchegg träumt Bürgermeister Peter Schmidt von einer Brücke. Auf der anderen Seite der March in der Slowakei betreibt der Volkswagen-Konzern eine Fabrik. Schmidt wünscht sich die Ansiedlung von Zulieferfirmen in seiner Gemeinde, doch ohne Brücke keine Betriebe. Das Verhältnis zu den Slowaken hat sich verbessert. Im 1892 gegründeten, traditionsbewussten Marchegger Männergesangsverein singt nun auch ein Professor aus Bratislava, ein bis vor Kurzem undenkbarer Kulturbruch. In Laa an der Thaya im Weinviertel nahm die Einwohnerzahl in den vergangenen zwei Jahren nach einem jahrzehntelangen Bevölkerungsrückgang erstmals wieder um 170 Personen zu, eine direkte Folge der Ostöffnung. Bürgermeister Manfred Fass: „Ich bin trotz mancher Nachteile ein Befürworter der offenen Grenzen. In Summe ist das für die Entwicklung der Stadt Laa sehr positiv, vor allem für den Tourismus. Man kann jetzt auf jeder Wiese nach Tschechien hinübergehen.“ Und seit 21. Dezember kann man nun auch auf dem Grenzfluss Thaya unbeschränkt Boot fahren.

Von Gernot Bauer und Edith Meinhart